Zwischen Fürsorge und Überforderung: Pflegende Angehörige unterstützen

Pflegende Angehörige sind oft stille Held:innen, deren Erfahrungen an die Grenzen des Ertragbaren gehen. In vielen Fällen handelt es sich um eine langanhaltende und überwältigende Lebenserfahrung. Die innere Zerrissenheit zwischen Fürsorge und Überforderung führt nicht selten zu einem sekundären traumatischen Stresssyndrom. Gleichzeitig mangelt es vielerorts an angemessener psychosozialer Unterstützung. Wie diese gelingen kann, zeigt dir dieser Artikel.
„In unserer Gesellschaft scheint der Tod nicht Teil des Lebens zu sein. Es wird weitgehend verdrängt, dass wir alle diesen Weg einmal gehen müssen. Für Menschen, die eine solche Erfahrung nicht selbst gemacht haben, ist es schwer nachzuvollziehen, wie anstrengend und belastend die Begleitung eines schwer kranken Angehörigen über Monate sein kann - und wie viel Zeit es braucht, um nach dem Verlust wieder zu sich selbst und zu neuer Kraft zu finden.“ (Ein Zitat von Nuja Fontaine - Name geändert -, sie betreute Ihren 46-jährigen Ehemann bis zu seinem Tod)
Die Pflege eines schwer kranken Angehörigen ist eine Aufgabe, die viele von uns im Laufe ihres Lebens übernehmen – sei es in der Begleitung alternder Eltern, der Fürsorge für einen schwer erkrankten Partner, der Unterstützung eines nahestehenden Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder der Betreuung eines chronisch kranken Kindes. Ohne das Engagement pflegender Angehöriger wären die hoch komplexen und belastenden Therapien oft nicht durchführbar. Ihnen ist es zu verdanken, dass schwerkranke Menschen so lange wie möglich in Würde zu Hause leben können.
Die Anforderungen an pflegende Angehörige sind jedoch oftmals hoch und führen nicht selten an emotionale und psychische Grenzen. Gleichzeitig fehlt es oft an gesellschaftlicher Anerkennung und struktureller Unterstützung. Arbeitgeber sind oft nicht ausreichend geschult, um pflegende Angehörige zu unterstützten oder Arbeitsbedingungen zu schaffen, die die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben fördern. Auch mit dem Thema Trauer am Arbeitsplatz sind viele Arbeitgeber überfordert.
Pflegende Angehörige – stille Alltagsheld:innen
In der Schweiz übernehmen schätzungsweise 600.000 Personen pflegende Aufgaben für Angehörige – rund 60% davon sind Frauen, die Mehrheit befindet sich im mittleren Alter und zwei Drittel sind erwerbstätig. Der durchschnittliche zeitliche Aufwand beträgt etwa 10 Stunden pro Woche – eine erhebliche Belastung, insbesondere für jene, die zusätzlich berufstätigt sind und familiäre Verpflichtungen tragen. Zu den häufigsten Aufgaben zählen emotionale und soziale Unterstützung, gefolgt von administrativen und finanziellen Tätigkeiten sowie praktischer Pflege. Letztere reicht von Haushalts- und Körperpflege bis hin zu komplexen Aufgaben wie Medikamentenüberwachung, Schmerz- und Symptomkontrolle (Reinhard et al., 2023).

Eine häufig übersehene Gruppe sind die sogenannten Young Carers: Kinder und Jugendliche, die Betreuungs- und Pflegeaufgaben für kranke Familienmitglieder übernehmen. Sie gehören zu einer verdeckten und besonders vulnerablen Gruppe, für die es kaum gezielte Unterstützungsangebote gibt, obwohl sie sich in einer sensiblen Entwicklungsphase befinden, in der Identitätsfindung, Bildung und soziale Beziehungen zentral sind. Eine chronische Überforderung in diesem Alter kann langfristige Folgen haben und das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen (Robinson, Inglis & Egan, 2020).
Eine Belastung, die auf Dauer krank macht
Pflegende Angehörige tragen oft über Monate oder Jahre hinweg eine dauerhafte Verantwortung. Die ständige Verfügbarkeit, unterbrochene Nachtruhe sowie die Übernahme von medizin-pflegerischen Aufgaben ohne entsprechende Ausbildung führen häufig zu Gefühlen der Hilflosigkeit und Überforderung – und in der Folge zu einer chronischen Belastung. Weitere Stressoren entstehen durch berufliche und finanzielle Doppelbelastungen, Zeitdruck, Rollenkonflikte, Veränderungen in Beziehungen, Einschränkungen im Alltag, den Verzicht auf eigene Bedürfnisse sowie soziale Isolation. Der drohende Verlust und damit verbundene antizipierte Trauer stellen eine existentielle Bedrohung dar und gehen mit erheblichem Stresserleben einher. Hinzu kommen belastende Gefühle wie Ängste, Unsicherheiten, gedrückte Stimmung oder das Gefühl innerer Leere.
Besonders gegen das Lebensende häufen sich Krisen und Notfälle, die meist außerhalb regulärer Arbeitszeiten, etwa spätabends, nachts oder frühmorgens auftreten. Nicht selten entwickeln pflegende Angehörige ein sekundäres traumatischen Stresssyndrom, das mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen einhergeht und vermehrt zu Arbeitsausfällen führt. Zu den Symptomen zählen Hypervigilanz, Schlafstörungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, Erschöpfungszustände, Ängste, depressive Symptome sowie ein zunehmender Verlust der Empathie gegenüber dem/der erkrankten Angehörigen (Forkey, Schulte & Thorndyke, 2023).
Langanhaltender, chronischer Stress erhöht zudem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden, Infektionen, Allergien und Hauterkrankungen, sowie psychische Erkrankungen wie Tinnitus, Schwindel, Burnout oder Depression (Fagundes et al., 2019; Prigerson et al., 1997). Zu den zugrunde liegenden Mechanismen zählen unter anderem entzündliche (inflammatorische) Prozesse, die das Immunsystem schwächen und die Entstehung von Krankheiten begünstigen (Kiecolt-Glaser et al., 2002; Slavich, in press). Bei pflegenden Angehörigen wurde eine gestörte Immunabwehr nachgewiesen – darunter erhöhte Kortisolwerte (Irwin et al., 1988), gesteigerte Entzündungsmarker (Seiler et al., 2017), verzögerte Wundheilung und eine abgeschwächte Immunantwort auf die Grippeimpfung (Lutgendorf & Laudenslager, 2009).
Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens
Die Begleitung eines schwer und unheilbar erkrankten Menschen bedeutet immer auch eine Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens. Der schrittweise körperliche und seelische Zerfall eines nahestehenden Menschen, das Miterleben von Leiden, Schmerzen, Kontrollverlust, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Abschied – und schließlich der Tod selbst, hinterlassen tiefe Spuren. Der Verlust eines geliebten Menschen erschüttert nicht nur emotional, sondern stellt das eigene Verhältnis zu Leben und Tod, Sinn und Bedeutung im Leben sowie die eigene Existenz und Identität in Frage. Nichts bleibt, wie es war – vertraute Rollen, Routinen und Lebensentwürfe geraten ins Wanken.

Trauer besitzt ein ungewöhnlich verstörendes Potenzial und kann intensive Gefühle wie Sehnsucht, Wut, Verbitterung, Schuldgefühle, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, innere Zerrissenheit, Verwirrung oder Leere auslösen und Monate bis Jahre andauern. Die Trauer verändert jedoch nicht nur die psychische Verfassung, sie wirkt sich auch auf die körperliche Gesundheit aus, schwächt das Immunsystem und kann das Risiko für die Entstehung unterschiedlichster Erkrankungen, insbesondere Depressionen und kardiovaskuläre Erkrankungen, erhöhen (Fagundes & Wu, 2020; Kaprio, Koskenvuo & Rita, 1987; Moon et al., 2011; Nielsen et al., 2025, Shor et al., 2012).
Was pflegenden Angehörigen helfen kann
Die aktuelle Forschung zeigt deutlich, dass besonders im Kontext schwerer Krankheit die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und das Sprechen über Ängste oder Sorgen nicht nur das allgemeine Wohlbefinden und das Immunsystem stärken können (Linden, 2006; Shields, Spahr & Slavich, 2020), sondern auch das Wohlbefinden des kranken Partners (Shaffer et al., 2017). Es ist daher essentiell, pflegenden Angehörigen frühzeitig in ihrer Selbstfürsorge zu stärken. Dies sollte durch gezielte Information und Aufklärung geschehen, etwa in Form von Informationsbroschüren, Flyern oder durch niederschwellige Beratungsgespräche und Hilfsangebote wie psychosoziale Begleitung – etwa durch psychoonkologische oder palliative-psychologische Dienste. Bei hoher Belastung können Psychologische Gesprächspsychotherapie, Trauerbegleitung und/oder Traumatherapie (zurück) zu mehr Lebensqualität verhelfen.
Die Unterstützung für Angehörige kann folgende Bausteine beinhalten:
- Warnzeichen von Stress und/oder Trauma frühzeitig erkennen. Dazu zählen u. a.
- Ein- und Durchschlafstörungen
- Gereiztheit, Vergesslichkeit, Konzentrationsprobleme
- Weinerlichkeit, Ängstlichkeit, gedrückte Stimmung
- Appetitlosigkeit und Gewichtsveränderungen
- Schmerzen
- Durch gemeinsame Erarbeitung von persönlichen Ressourcen können Pflegende gestärkt werden. Dies können z. B. sein:
- Spaziergänge in der Natur
- Sport, Gartenarbeit, Yoga, Meditation, kreatives Arbeiten
- Eine*n Freund*in treffen
- Ein Buch lesen
- Ich-Zeit
- Bestärke Pflegende darin, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu wahren. Hilfreiche Fragen können sein: Wie geht es mir? Wie erschöpft bin ich? Was brauche ich gerade? Kann ich diese Aufgabe übernehmen? Dazu gehören das Einlegen von Pausen, eine ausgewogene Ernährung, die Pflege von sozialen Beziehungen, ausreichend Schlaf und Selbstfürsorge.
- Entlastung und Alltagsunterstützung: Pflegeberatung, ambulante Dienste, Tagespflege oder Kurzzeitpflege können Entlastung im Alltag schaffen. Ermutige Angehörige, solche Angebote ohne Schuldgefühle oder den Eindruck versagt zu haben, zu nutzen. Ebenso können Gespräche mit dem Arbeitgeber, Kinderbetreuung, Abklärung von Unterstützungsmitteln für zu Hause sowie eine finanzielle Beratung/Unterstützung entlasten.
- Kommunikationstraining: Wenn Pflegende deutlich, durchsetzungsfähig und konstruktiv kommunizieren können, werden sie mit ihren eigenen Bedürfnissen gehört und erhalten die Hilfe und Unterstützung, die sie benötigen.
- Selbsthilfegruppen und Austausch mit Betroffenen können das Gefühl von sozialer Isolation und Einsamkeit durchbrechen und Ressourcen aktivieren. Peer-Support und Trauergruppen können helfen, Erfahrungen zu normalisieren und eine Sprache für das eigene Erleben zu finden.
Veränderungen auf strukturell-systemischen und politischer Ebene
Angesicht der ohnehin begrenzente personellen Ressourcen richtet sich die psychoonkologische Unterstützung in der Praxis momentan ausschließlich an krebskranke Menschen – während Angehörige weitergehend unberücksichtigt bleiben. Es besteht daher dringender Handlungsbedarf, die Kriterien zur Erfüllung psychosozialer Leistungen im Rahmen der DKG-Zertifizierung zu erweitern – insbesondere mit Blick auf die systematische Einbeziehung und Unterstützung pflegender Angehöriger.
Hilfreich wäre dafür eine systematische Erfassung de Belastung von pflegenden Angehörigen im Akutspital, z. B. mithilfe des Distress-Thermometers– ähnlich wie bei Menschen mit einer onkologischen Erkrankung. Bei hohen Stresswerten sollte konsequent eine Empfehlung für psychosoziale Unterstützung ausgesprochen werden.
Quellen:
Weiterführende Links und Literaturangaben findest du hier als PDF zum Download.