Wenn Verdrängtes wiederkehrt - Traumatherapie mit älteren Menschen

Man sieht die Hände einer älteren Person, die sich alte Fotos anschaut.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in den 1940er-Jahren mehr als 30 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht. Betroffene waren meist kumulativ traumatischen Ereignissen eingesetzt. Für deren Aufarbeitung gab es in der Nachkriegszeit denkbar schlechte Voraussetzungen. Die stark belastete Gruppe befindet sich heute im hohen Lebensalter. Mit dem Alter nimmt die stabile Abwehr ab, Verdrängtes kommt wieder und es kann zu Trauma-Reaktivierungen kommen. Dies erfordert einen traumasensiblen Umgang in der psychotherapeutischen Arbeit mit älteren Menschen.

Flucht und Vertreibung der Deutschen 

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vertreibungen, die mit den Fluchtbewegungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Dimension erreichten. In den 1940er-Jahren waren in Europa mehr als 30 Millionen Menschen auf der Flucht, wobei die Bevölkerung in den deutschen Ostgebieten am stärksten betroffen war (Peters, 2018). Mit der Flucht aus den Ostgebieten verbinden sich Bilder von Trecks, die bei großer Kälte über Land zogen und oft genug von den unmittelbaren kriegerischen Handlungen eingeholt wurden, was die hohen Todesraten erklärt. 

Auch mit dem 8. Mai 1945 war der Krieg für die verbliebene Bevölkerung in den Ostgebieten nicht vorbei. Von diesem Zeitpunkt an macht es Sinn, nicht mehr von „Flucht“, sondern von „Vertreibung“ zu sprechen. Diese begann mit der „wilden Vertreibung“ durch polnische und tschechische Milizen, die die Menschen meist gewaltsam aus ihren Häusern holten und zum Teil in Lager und außer Landes brachten. Auch wenn das Potsdamer Abkommen im August 1945 die Vertreibung legitimierte und sie in geordnetere Bahnen lenkte, ist sie heute als Unrecht anerkannt, und die Betroffenen können als „Hitlers letzte Opfer“ betrachtet werden (Lemberg & Franzen, 2001). 

Ankunft von Flüchtlingen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches in Heide/Holstein 1945

Mit dem Erreichen bereits befriedeter Regionen in Deutschland war das Leid der Menschen nicht vorbei, denn sie waren in der neuen Heimat keineswegs willkommen, kamen in ein zerstörtes Land und mussten mit der einheimischen Bevölkerung um begrenzte Ressourcen konkurrieren. Das Slawische, das ihnen zugeschrieben wurde, weckte fremdenfeindliche Einstellungen; viele lebten jahrelang in Notunterkünften und Lagern. Dabei hatte das Geschehen ein heute kaum noch vorstellbares Ausmaß: Insgesamt umfasste die beschriebene Gruppe 14 Millionen Menschen, von denen etwa zwei Millionen ums Leben kamen. 

Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen 

Das unfreiwillige, meist überstürzte Verlassen der Heimat, die extremen Belastungen der Flucht, Entbehrungen, Not und Leid sowie gewaltsame (sexuelle) Übergriffe waren für die Betroffenen prägende und häufig (kumulativ) traumatische Ereignisse, die sich mit der Erfahrung des Nicht-Willkommen-Seins in der neuen Heimat fortsetzten. Es handelt sich also um eine hoch belastete Gruppe von Menschen, die neben Frauen und älteren Personen vor allem auch Kinder und Jugendliche umfasste – Menschen, die sich heute im hohen Lebensalter befinden. 

Für die Aufarbeitung der Erlebnisse gab es in der Nachkriegszeit denkbar schlechte Voraussetzungen. Zum einen erschwerte die bestehende auf Härte und Restriktion beruhende Erziehungshaltung den empathischen Umgang mit dem Erlebten. Zum anderen trug der Zwang, alles dem nackten Überleben unterzuordnen, zur fatalen Sprachlosigkeit der damaligen Zeit bei. Auch für das Leid der Kinder und Jugendlichen bestand kein Blick. Obwohl einige Studien dieses durchaus zum Vorschein brachten, wurden daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war der Auffassung, dass auch erschütternde Erlebnisse Menschen nicht dauerhaft verformen könnten (vgl. Peters, 2018). 

Wiederkehr des Verdrängten im Alter 

Im Laufe des Erwachsenenalters wird zumeist eine stabile Abwehr aufgebaut, die von außen durch familiäre und berufliche Pflichten gestützt wird. Treten diese im Alter zurück und kommen körperliche und kognitive Abbauprozesse hinzu, schafft das eine erhöhte Vulnerabilität dafür, dass die „dunkle Seite“, die mit einem Flucht- und Vertreibungsschicksal verbunden ist, wieder wach wird. Heuft (1999) entwickelte das Konzept der Trauma-Reaktivierung, das beschreibt, wie nicht verarbeitete oder dissoziierte frühe Traumata im Alter reaktiviert werden können. Auslöser können Verluste sein, körperliche Einschränkungen und Gebrechen, aber auch allein die Hinwendung zur Vergangenheit, die im Alter zunimmt. Ebenso können Traumata im Lebenslauf die Bindungssicherheit und Mentalisierungsfähigkeit im Alter reduzieren (Peters, 2021, 2022), wodurch der Umgang mit den Zumutungen des Alters erschwert und das Risiko einer Trauma-Reaktivierung wiederum erhöht ist. 

Eine verschwommene Fotografie von einer weißhaarigen älteren Dame.

Als die damaligen Kinder und Jugendlichen alterten, wurde die deutsche Geschichte in den psychotherapeutischen Praxen wiederbelebt. Verschiedene Studien fanden bei den damals Geflohenen und Vertriebenen viele Jahrzehnte später Prävalenzraten für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zwischen 5 und 30 % und zusätzlich eine große Zahl an partiellen PTBS (für eine Übersicht siehe Peters, 2018). Hinzu kamen andere Krankheitsbilder wie Depressionen, Ängste, Beziehungsstörungen und eine erhöhte Zahl körperlicher Erkrankungen (Beutel et al., 2007). 

Psychotherapeutische Überlegungen 

Betroffene Menschen im hohen Alter suchen nur selten psychotherapeutische Praxen auf (Peters et al., 2024), umso bedeutsamer ist das Thema in anderen Versorgungsbereichen wie Gerontopsychiatrie, Geriatrie und Pflege. Dennoch ist es auch in den psychotherapeutischen Praxen weiterhin präsent, nämlich durch nachfolgende Generationen, bei denen Traumata und Identitätskonflikte transgenerational weiterwirken. 

Welche Konsequenzen lassen sich für die psychotherapeutische Behandlung ziehen? Radebold (2004) wies auf die historische Dimension in der Behandlung Älterer hin. Bei der Exploration von Lebensgeschichten müsse in Erfahrung gebracht werden, wie diese von den damaligen historischen Ereignissen betroffen waren bzw. ob sie der Gruppe der Geflüchteten und Vertriebenen angehörten. Somit ist es für Therapeut:innen zunächst einmal wichtig, sich des Themas bewusst zu sein und es sorgfältig zu eruieren. 

Die therapeutischen Konsequenzen können letztlich sehr unterschiedlich ausfallen. In Einzelfällen mag eine traumaspezifische Behandlung angezeigt sein, wobei z. B. die psychodynamische Traumatherapie nach Reddemann et al. (2004) hilfreich sein kann. Jedoch liegen zur Traumatherapie mit Älteren bisher nur wenige Erfahrungen vor. Besonders wichtig erscheint die in dem Konzept enthaltene narrative Komponente, d. h. die Bereitschaft der Therapeut:innen, einen Gesprächsraum anzubieten, um das damals Erlebte zu beleuchten und in ein zu entwickelndes Narrativ einzubetten. Die Lebensrückblicktherapie, die vor allem in der Verhaltenstherapie praktiziert wird (Maercker & Forstmeier, 2012), kann dabei eine Hilfestellung sein. In der psychodynamischen Psychotherapie nimmt die biografische Komponente ohnehin mehr Raum ein, bedarf aber in diesem Zusammenhang der besonderen Aufmerksamkeit (Peters, 2019). 

Eine ältere Patientin und ihre Psychotherapeutin sitzen sich gegenüber, die Patientin schaut belastet zu Boden.

In der Pflege geht es vor allem um die Entwicklung einer traumasensiblen Haltung, darum, sich des Themas bewusst zu sein und damit empathisch umzugehen, z. B. dann, wenn Menschen die Übersiedlung in ein Pflegeheim wie eine erneute Vertreibung erleben. Nur wenn der Hintergrund bekannt ist, kann damit einfühlsam umgegangen werden. Auch verschiedene psychotische Symptome können ihre Wurzeln in damaligen Erlebnissen haben, in Ängsten und Bedrohungen, die über Wochen ausgehalten werden mussten (Böwing et al., 2008). Auch hier kann die Kenntnis des lebensgeschichtlichen Hintergrundes den Umgang erleichtern. 

Können wir aus der Geschichte lernen? 

Was können wir aus den Erfahrungen der Flucht und Vertreibung der Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg lernen? Bis heute sind Menschen auf der Flucht oder werden von brutalen Regimen vertrieben. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass derzeit etwa 100 Millionen Menschen weltweit davon betroffen sind. Auch kann als gesichert gelten, dass ein solches Schicksal eine schwere und häufig traumatische Belastung darstellt; eine Metaanalyse fand für Betroffene ein zehnfach erhöhtes Risiko, an einer PTBS zu erkranken (Fazel et al., 2005). 

Die langfristigen Folgen der Traumatisierungen der deutschen Geflüchteten und Vertriebenen zeigen, dass es in der Nachkriegszeit nur sehr eingeschränkt gelungen ist, das Erlebte zu verarbeiten; das damalige Verschweigen hat zu einer langanhaltenden Verdrängung bzw. Dissoziation geführt. Dies kann eine Lehre für die heutige Situation sein. Keineswegs sind alle Migrant:innen traumatisiert, aber denen, die es sind, Hilfe anzubieten, reduziert langfristig nicht nur individuelles Leid, sondern wirkt sich auch gesellschaftlich positiv aus. 

Zum Weiterlesen: 

(Werbung). Peters M (2018). Das Trauma von Flucht und Vertreibung. Stuttgart: Klett-Cotta.  

Quellenangaben 

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