Hatespeech verarbeiten: Wie du Klient:innen unterstützt
Ein unbedachter Post oder einfach nur Sichtbarkeit im Netz kann ausreichen, um Ziel von Hatespeech zu werden. Laut der forsa-Studie 2022 der Landesanstalt für Medien NRW berichten mehr als 75% der Internetnutzer:innen ab 14 Jahren, dass sie Hasskommentaren schon begegnet sind - bei 14- bis 24-Jährigen liegt der Anteil besonders hoch. Viele Klient:innen bringen diese Erfahrungen mit in den Therapieraum.
Vom digitalen Angriff zur psychischen Verletzung
Was für Außenstehende nach „bloßen Worten im Netz“ klingt, kann psychisch tiefe Spuren hinterlassen. Psychologisch gesehen ist „Hatespeech“ kein originärer Fachbegriff, er wurde aus Rechts- und Politikdiskursen übernommen und im öffentlichen Sprachgebrauch verbreitet. Erst in den letzten zehn Jahren wird er zunehmend auch in psychologischen und klinischen Kontexten verwendet, allerdings ohne klar definierte diagnostische Kriterien.
Hatespeech unterscheidet sich von Alltagskonflikten durch drei zentrale Mechanismen: Er greift oft unveränderliche Identitätsmerkmale an, wirkt durch die Öffentlichkeit der sozialen Medien besonders beschämend und kann sich durch Wiederholung tief in die Selbstwahrnehmung eingraben. Psychologisch lässt sich das mit der Attributionstheorie erklären: Menschen neigen dazu, negative Ereignisse auf stabile persönliche Eigenschaften zurückzuführen (Weiner, 1985). Wenn eine Person immer wieder als „wertlos“ oder „falsch“ beschimpft wird, droht sie, diese Zuschreibung zu verinnerlichen. Für Betroffene entsteht so eine zweite Verletzung - nicht nur durch den Angriff selbst, sondern durch das Gefühl, dass die eigene Identität grundsätzlich abgewertet wird.
Typische klinische Folgen
Viele Betroffene von Hatespeech entwickeln Symptome, die an klassische Belastungsstörungen erinnern. Häufig treten Schlafprobleme, Grübeln und innere Anspannung auf - Zeichen einer akuten Stressreaktion. Manche ziehen sich zunehmend zurück, meiden soziale Medien oder öffentliche Situationen aus Angst vor weiteren Angriffen. Daraus können soziale Ängste oder Panikattacken entstehen.
Auch depressive Symptome sind verbreitet: Selbstzweifel, Hilflosigkeit und Rückzug prägen das Erleben. Einige greifen zu Alkohol oder Medikamenten, um die Belastung kurzfristig zu lindern. Besonders verletzende Kommentare können zudem traumatische Symptome hervorrufen - intrusive Gedanken oder das Gefühl ständiger Bedrohung.
Empirische Studien zeigen, dass vor allem Jugendliche nach Hatespeech-Erfahrungen häufiger unter Depressionen und Ängsten leiden (Wachs et al., 2022). Damit wird deutlich: Digitale Gewalt ist kein Randphänomen, es ist ein ernstzunehmender Risikofaktor für psychische Gesundheit.
Psychologisierung als Abwehr
Viele Betroffene suchen Halt, indem sie das Geschehen psychologisch deuten. „Die Hater sind eben krank“ - solche Zuschreibungen bieten kurzfristig Kontrolle. Doch psychodynamisch betrachtet handelt es sich oft um eine projektive Externalisierung: Belastende Affekte werden nach außen verlagert, um das eigene Ohnmachtsgefühl zu mindern. Das entlastet kurzfristig, verhindert aber oft eine tiefergehende Bearbeitung.
Zugleich ist Hatespeech ein Gruppenphänomen: Angriffe richten sich häufig gegen ganze soziale Identitäten - Frauen, Migrant:innen, queere Menschen. Nach der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 2004) verinnerlichen Einzelne solche Angriffe, auch wenn sie stellvertretend für eine Gruppe getroffen werden. Damit erklärt sich, warum selbst Menschen, die nicht direkt gemeint sind, sich verletzt fühlen können.
Zwischen Entlastung und Stigmatisierung
Für viele Betroffene ist es zunächst eine Erleichterung, überhaupt einen Begriff wie „Hatespeech“ zur Verfügung zu haben. Endlich gibt es eine Sprache für das, was sie erleben. Doch Sprache hat eine doppelte Wirkung: Sie kann Brücken bauen, wenn sie differenziert genutzt wird. Sie kann aber auch Mauern errichten, wenn sie zu Stigmatisierung führt oder Opferrollen verfestigt. Sprachliche „Frames“ können unsere Wahrnehmung lenken und beeinflussen. Wenn wir Erlebnisse ausschließlich in Defizitbegriffen rahmen, erschwert das den Blick auf Handlungsmöglichkeiten. Sprache kann also entweder gefühlte Hilflosigkeit verstärken oder eben neue Perspektiven eröffnen.
Therapeutische Haltung
Für die Arbeit mit Betroffenen sind zwei Dinge entscheidend:
- die Erfahrung zu validieren. Sätze wie „Das ist doch nur Internet“ verkennen die Tiefe der Verletzung.
- Ressourcen zu aktivieren. Betroffene brauchen Bestätigung, aber auch die Erfahrung, dass sie Handlungsspielräume zurückgewinnen können - sei es durch soziale Unterstützung, rechtliche Schritte oder das Wiedererlangen von Selbstwirksamkeit.
Wichtig ist dabei auch die Selbstreflexion der Behandelnden: Wir können keine IT-Sicherheitsberatung oder juristische Expertise ersetzen. Aber wir können Orientierung geben, sensibilisieren und an spezialisierte Stellen wie HateAid oder Opferhilfenetzwerke verweisen.
Impulse für den therapeutischen Kontext:
- Sprache sortieren: Hilfe bieten, Begriffe wie „Hass“, „Kritik“, „Ablehnung“ zu differenzieren.
- Emotionale Differenzierung fördern: Statt „Ich fühle mich zerstört“ genauer benennen: „Ich bin wütend und beschämt“.
- Vom Label zur Erfahrung: Nicht beim Schlagwort stehen bleiben, sondern nach konkreten Situationen fragen.
- Selbstzuschreibungen reflektieren: Viele übernehmen die Sprache der Täter:innen („Ich bin wertlos“). Hier gilt es, alternative Narrative zu entwickeln.
- Ambiguität aushalten lernen: Nicht jede Provokation ist Hass. Differenzierung schärft die Wahrnehmung.
- Therapeutische Sprachsensibilität: Als Vorbild präzise, empathisch und ohne stigmatisierende Labels kommunizieren.
Hatespeech ist kein oberflächliches Kommunikationsproblem, sondern ein Angriff auf die seelische Integrität. Er trifft Menschen dort, wo ihre Identität am empfindlichsten ist: in Zugehörigkeit, Selbstwert und Würde. Was im digitalen Raum beginnt, wirkt in die analoge Welt hinein - in Beziehungen, in Arbeitskontexte, bis in die therapeutische Praxis.
Für uns therapeutisch Tätige bedeutet das eine doppelte Verantwortung. Zum einen gilt es, die individuelle Verletzung ernst zu nehmen: das Gefühl der Scham, der Hilflosigkeit, die Bedrohung der eigenen Sicherheit. Zum anderen eröffnet sich die Aufgabe, die gesellschaftliche Dimension sichtbar zu machen. Hatespeech ist nicht nur ein individuelles Schicksal, es ist Ausdruck struktureller Dynamiken von Macht, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung.
Hatespeech in der Therapie bedeutet deshalb auch, Ambiguität auszuhalten: die Ohnmacht der Betroffenen anzuerkennen, ohne sie darin zu fixieren. Die Gewalt des Angriffs zu benennen, ohne ihn zur alleinigen Identität zu machen. Und immer wieder den Schritt vom Label zur Erfahrung zu begleiten - denn Verarbeitung geschieht dort, wo Menschen ihre Geschichte differenziert erzählen können, ohne von Etiketten bestimmt zu werden.
Quellen
Becker, M., Sarhan, A., & Maron, J. (2024). Hass und Hetze im Netz: Herausforderungen und Reaktionsmöglichkeiten.
Bühler, J., von Däniken, P., Girschik, K., Giedemann, P., Kamenowski, M., Tuggener, D., & Baier, D. (2025). Social Influencer: in: Mit wirksamer Gesprächsführung gegen Hass im Netz.
Dreißigacker, A., Müller, P., Isenhardt, A., & Schemmel, J. (2024). Online hate speech victimization: consequences for victims’ feelings of insecurity. Crime Science, 13(1), 4.
forsa-Studie. (2022). Hate Speech Forsa‑Studie 2022. Zentrale Untersuchungsergebnisse. Landesanstalt für Medien NRW.
Schneiders, P. (2022). Hate Speech auf Online-Plattformen. UFITA Archiv für Medienrecht und Medienwissenschaft, 85(2), 269-333.
Tajfel, H., & Turner, J. C. (2004). The Social Identity Theory of Intergroup Behavior. In J. T. Jost & J. Sidanius (Eds.), Political psychology: Key readings (pp. 276–293). Psychology Press.
Wachs, Sebastian & Gámez-Guadix, Manuel & Wright, Michelle. (2022). Online Hate Speech Victimization and Depressive Symptoms Among Adolescents: The Protective Role of Resilience. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 25(7), 416-423
Weiner, B. (1985). An attributional theory of achievement motivation and emotion. Psychological Review, 92(4), 548–573.