Doomscrolling und digitale Erschöpfung: Wenn Medienkonsum zur Stressfalle wird

Unser Alltag ist von digitalen Medien durchdrungen. Noch vor dem ersten Kaffee greifen wir zum Smartphone, tagsüber lenken uns ständige Benachrichtigungen ab und abends folgt der letzte Blick auf die Nachrichten – oft mit einem negativen Beigeschmack. Dieses Phänomen, bekannt als Doomscrolling, beschreibt das zwanghafte Konsumieren schlechter Nachrichten und beunruhigender Inhalte. Doch welche Auswirkungen hat das? Warum fällt es so schwer, damit aufzuhören? Und wie kann Psychotherapie helfen, einen gesünderen Umgang mit digitalen Medien zu entwickeln?
„Wir sind in eine Welt eingetreten, in der Technologie uns nicht nur ablenkt, sondern uns in eine Suchtspirale führt, die zunehmend schwer zu durchbrechen ist. Unsere ständige Beschäftigung mit digitalen Medien wirkt sich negativ auf unsere psychische Gesundheit aus.“
(Adam Alter, 2017)
Digitale Inhalte, insbesondere Nachrichten über Krisen, Kriege oder wirtschaftliche Unsicherheiten, aktivieren unser Stresssystem. Das limbische System, insbesondere die Amygdala, interpretiert diese Informationen als Bedrohung. Kurzfristig steigert das unsere Wachsamkeit – langfristig jedoch kann es zu Erschöpfung, Reizbarkeit und einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen führen.
Jaron Lanier (2018), Informatiker an der University of California in Berkeley, beschreibt, dass digitale Medien so konzipiert sind, dass sie unsere Aufmerksamkeit fesseln, doch das permanente Streben nach Aufmerksamkeit führe gleichzeitig zu einer permanenten Entfremdung von uns selbst und anderen.
Digitale Medien haben sich als starker Stressfaktor etabliert, insbesondere negative Nachrichten. Eine Studie von Wiederhold et al. (2020) zeigt, dass Medienkonsum in Krisenzeiten mit erhöhtem Stress und einer Verstärkung der Symptome von Angst und Depressionen verbunden ist. Die Forschenden betonen, dass die ständige Konfrontation mit belastenden Informationen zu einer chronischen Aktivierung des Stresssystems führen kann.
In ihrer Untersuchung wurde der Zusammenhang zwischen häufigem Social-Media-Konsum und einem erhöhten Cortisolspiegel nachgewiesen, was zu einer erhöhten Wachsamkeit führt, jedoch langfristig das Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen erhöht. „Doomscrolling und der ständige Konsum negativer Nachrichten führen zu einer Überlastung des Stresssystems und fördern das Gefühl der Hilflosigkeit," so Prof. Brenda Wiederhold vom Virtual Reality Medical Center in San Diego.
Zusätzlich fanden Thomason et al. (2021) in einer Studie, dass übermäßiger Medienkonsum während der COVID-19-Pandemie mit einem signifikanten Anstieg von Stresssymptomen und Schlafstörungen einherging. Diese Forschung unterstreicht, wie digitale Medien zu einer ständigen emotionalen Erschöpfung führen können, die das psychische Wohlbefinden beeinträchtigt und die Resilienz verringert.
Schlafprobleme: Wenn der Bildschirm das Gehirn wachhält
Auch die Beeinflussung des Schlafs durch digitale Geräte ist ein gut dokumentiertes Phänomen. Die Harvard Medical School (2020) hat in einer umfassenden Studie gezeigt, dass das blaue Licht von Bildschirmen die Melatoninproduktion im Körper hemmt, was das Einschlafen erschwert. „Menschen, die bis kurz vor dem Schlafengehen auf digitale Medien zugreifen, erleben signifikante Schlafstörungen, die wiederum das emotionale und körperliche Wohlbefinden beeinträchtigen," heißt es in der Studie.

Darüber hinaus haben Becker et al. (2022) in einer Studie gezeigt, dass Teilnehmer, die regelmäßig vor dem Schlafengehen auf ihr Smartphone zugreifen, signifikant weniger Tiefschlafphasen hatten als diejenigen, die zwei Stunden vor dem Schlafengehen auf digitale Geräte verzichteten. Die Untersuchung verdeutlicht, wie digitale Medien den Schlaf-Wach-Rhythmus stören und die Regenerationsfähigkeit des Körpers beeinträchtigen.
Körperliche Beschwerden: Vom Nacken bis zum Darm
Der körperliche Einfluss von exzessivem Medienkonsum geht über Schlafstörungen hinaus. Die Forschung von Sutherland et al. (2020) zeigt, dass langanhaltender Medienkonsum, insbesondere das ständige Nach-unten-Schauen auf Smartphones, zu physischen Beschwerden wie dem sogenannten „Tech Neck" führt – Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich. „Die ständige Belastung der Halswirbelsäule beim Starren auf Bildschirme führt zu chronischen Schmerzen und Verspannungen“, so die Ergebnisse der Studie.
Darüber hinaus zeigt eine Untersuchung von Kuss et al. (2018), dass kontinuierlicher Medienkonsum das vegetative Nervensystem beeinflusst, was zu einer erhöhten Herzfrequenz, Magen-Darm-Problemen und sogar Tinnitus führen kann. Diese funktionellen Beschwerden sind oft das Ergebnis einer ständigen Aktivierung des Stresssystems, das in Verbindung mit Doomscrolling zu einer Vielzahl körperlicher Symptome führen kann.
Was können Betroffene selbst tun?
1. Doomscrolling identifizieren
Es ist entscheidend, sich selbst zu beobachten, um herauszufinden, ob und wie häufig man in Online-Nachrichten oder sozialen Medien nach Informationen sucht und welche Auswirkungen dies auf einen hat. Vielleicht sendet der Körper bereits Signale, dass das ständige Scrollen nicht förderlich für das eigene Wohlbefinden ist. Der erste Schritt besteht darin, diese Gewohnheit zu erkennen. Betroffene können sich auch Fragen zu den tieferliegenden Motiven hinter ihrem Verhalten stellen: Warum fühlen sie sich dazu gedrängt, immer wieder Nachrichten zu konsumieren? Welche Bedürfnisse oder Erwartungen stecken dahinter? Gibt es vielleicht alternative Wege, die ihnen besser tun könnten, um mit den Gefühlen oder Bedürfnissen umzugehen?
2. Feste Medienzeiten einplanen
Betroffene sollten klare Grenzen für ihren Medienkonsum setzen, indem sie feste Zeiten für das Lesen von Nachrichten oder die Nutzung sozialer Medien festlegen. Auf digitale Geräte zuzugreifen, sollte sofort nach dem Aufwachen oder vor dem Schlafengehen vermieden werden. Ein fester „Digital Detox“ nach einer bestimmten Uhrzeit kann helfen, den Kopf zu beruhigen und die Schlafqualität zu verbessern.
3. Bewusste Pausen einlegen
Wenn Betroffene das Gefühl haben, in eine endlose Schleife von negativen Nachrichten abzutauchen, sollten sie sich regelmäßige Pausen gönnen: Aufstehen, sich dehnen oder einen kurzen Spaziergang an der frischen Luft machen. Diese kleinen Pausen helfen dabei, den mentalen Fokus zu resetten und den Kreislauf von stressbedingtem Scrollen zu unterbrechen.

4. Nachrichtenquellen kuratieren
Die Menge an negativen Inhalten lässt sich reduzieren, indem nur vertrauenswürdige Nachrichtenquellen gewählt und die Häufigkeit der Nachrichtenabfrage verringern werden. Benachrichtigungen lassen sich so einrichten, dass nur wichtige und ausgewählte Updates angezeigt werden. Dies minimiert den ständigen Strom von negativen Informationen und reduziert den Stress.
Therapeutische Wege aus der digitalen Erschöpfung
Psychotherapeutische Interventionen zielen darauf ab, einen gesünderen Umgang mit digitalen Medien zu fördern und die psychischen und körperlichen Auswirkungen des ständigen Konsums negativer Nachrichten zu minimieren.
1. Psychoedukation und Medienhygiene
Ein wichtiger Bestandteil psychotherapeutischer Interventionen ist die Psychoedukation, bei der Klient:innen lernen, sich der Auswirkungen von übermäßigem Medienkonsum bewusst zu werden. Dabei werden praktische Tipps zur Medienhygiene vermittelt, wie beispielsweise das Festlegen von Zeiten für Mediennutzung, das Vermeiden von Nachrichten vor dem Schlafengehen und das Erstellen von „digitalen Pausen" im Alltag. Ziel ist es, den Medienkonsum zu regulieren und eine gesunde Balance zu finden.
2. Achtsamkeitsbasierte Interventionen
Achtsamkeitstechniken wie das Üben von achtsamem Atmen und Körperwahrnehmung helfen, den Fokus von den ständigen Reizen der digitalen Medien abzulenken. MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) ist ein Ansatz, bei dem Achtsamkeit genutzt wird, um in stressigen Momenten Präsenz zu entwickeln und den Körper und Geist zu beruhigen. Achtsamkeit kann dabei helfen, die Impulse zum ständigen Medienkonsum zu kontrollieren und sich bewusst von digitalen Nachrichten zu distanzieren (Goyal et al., 2014).
3. Kognitive Verhaltenstherapie (CBT)
Die kognitive Verhaltenstherapie hilft, dysfunktionale Denkmuster zu identifizieren und zu verändern. Im Kontext von Doomscrolling kann sie dabei unterstützen, die Wahrnehmung negativer Nachrichten zu reflektieren und Strategien zu entwickeln, um den Medienkonsum zu reduzieren. Betroffene lernen, alternative Gedanken zu entwickeln, die nicht von negativen Nachrichten dominiert sind, und somit ihre emotionale Reaktion auf Medieninhalte zu modifizieren (Bohlmeyer et al., 2018).
4. Verhaltensexperimente
In Verhaltensexperimenten werden Klient:innen dazu ermutigt, den direkten Einfluss ihres Medienkonsums auf ihr Wohlbefinden zu testen. Sie probieren Phasen ohne Nachrichten oder Smartphones aus und reflektieren die Auswirkungen auf ihre Stimmung, ihren Stresspegel und ihre körperlichen Beschwerden. Durch diese praktischen Erfahrungen lernen sie, wie sich digitale Entgiftung auf ihre mentale und körperliche Gesundheit auswirkt, und entwickeln ein besseres Bewusstsein für ihre Mediengewohnheiten (Fuchs et al., 2020).
„Wenn wir uns auf die Ablenkungen der digitalen Welt einlassen, verlieren wir unsere Fähigkeit, in einer bedeutungsvollen Weise zu arbeiten und uns zu konzentrieren. Digitaler Minimalismus bedeutet, bewusste Entscheidungen darüber zu treffen, wie wir mit Technologie umgehen.“
(Cal Newport, 2019)
Doomscrolling ist mehr als nur eine schlechte Angewohnheit – es kann erhebliche psychosomatische Auswirkungen haben. Psychotherapeutische Interventionen können dabei helfen, einen bewussteren Umgang mit digitalen Medien zu entwickeln und Strategien zur Stressbewältigung zu etablieren. Ein regulierter Medienkonsum ist entscheidend, um die psychische und körperliche Gesundheit langfristig zu schützen. Die Herausforderung liegt darin, den Medienkonsum so zu gestalten, dass er informiert, ohne zu überfordern, und dass der Körper auch in digitalen Zeiten zur Ruhe kommen kann.
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Jaron Lanier. (2019). Zehn Gründe, warum du deine Social-Media-Accounts sofort löschen musst. Atlantik Verlag.
(Werbung) Cal Newport. (2019). Digitaler Minimalismus: Besser leben mit weniger Technologie. Redline.
(Werbung) Nicholas Carr. (2020). The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains. Norton & Company.
(Werbung) Sherry Turkle. (2016). Reclaiming ConversationThe Power of Talk in a Digital Age. Penguin LLC US.
Quellen