Videogespräche kreativ gestalten – zwischen Technik und Beziehung
Online-Beratung ist längst Teil moderner psychologischer Arbeit. Doch wie lassen sich Beziehung, Nähe und Wirksamkeit über den Bildschirm gestalten? Psychotherapeutin Dr. Sonia Jaeger arbeitet seit 2015 vollständig digital. Im psylife-Interview zeigt sie, wie Kreativität, Flexibilität und Menschlichkeit virtuelle Begegnungen lebendig und wirksam machen.
Frau Jaeger, wie hat sich Ihre Arbeit durch die Videoberatung verändert?
Sehr stark – und das nicht nur am Anfang. Zu Beginn war Videoberatung für mich ein Experiment. Ich dachte zunächst, es sei wie eine Sitzung vor Ort, nur über den Bildschirm. Doch schnell wurde klar, dass dieses Format eigene Dynamiken hat. Technisch war es anfangs eine Umstellung: neue Programme, Kameraperspektiven, Datenschutzfragen … und die Herausforderung, sich und die Klient:innen natürlich im Bild zu zeigen. Inzwischen ist das fast Routine, und ich nutze die Möglichkeiten des Mediums kreativ.
Auch beziehungsmäßig hat sich viel getan. Anfangs war da Skepsis auf beiden Seiten. Ich erinnere mich, wie erstaunt ich war, als ich auf einer gemeinsamen Reise in Thailand erfuhr, dass meine Bekannte ihre Sitzungen per Skype fortsetzt. Die positiven Erfahrungen motivierten mich, es selbst auszuprobieren, zumal ich viel reise und gerne ortsunabhängig arbeite – und die Forschung bestätigte: Online-Beratung funktioniert sehr gut, oft vergleichbar mit Präsenzsitzungen. Rückblickend hat die Videoberatung meine therapeutische Arbeit nicht nur verändert, sondern erweitert. Sie hat meinen Blick auf Nähe, Präsenz und Beziehung vertieft und gezeigt, wie vielfältig therapeutische Begegnung auch jenseits des Praxisraums sein kann.
Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie im Vergleich zur klassischen Face-to-Face-Beratung?
Ich erlebe, dass sich über den Bildschirm oft eine sehr lebendige, manchmal sogar intensivere Beziehung aufbauen lässt. Man begegnet sich auf neue Weise: direkter, fokussierter, mitunter auch freier. Der Kontakt kann bestehen bleiben – selbst wenn Klient:innen umziehen oder im Ausland leben. Oder eben, wenn ich mich als digitale Nomadin auf Reisen befinde.
Die größte Chance liegt für mich in der Zugänglichkeit. Viele Menschen trauen sich online früher, Hilfe zu suchen, weil die Hürde kleiner ist. Dadurch kann man oft präventiver arbeiten – also eingreifen, bevor sich Probleme verfestigen. Ich erinnere mich etwa an eine Klientin, bei der ich früh Anzeichen einer Zwangsstörung erkennen und abfangen konnten. Spannend ist auch, dass man die Menschen in ihrem Alltag erlebt – in ihrem Wohnzimmer, an ihrem Küchentisch, manchmal sogar im Auto. Das gibt Einblicke, die man in der Praxis nie hätte, und erleichtert oft den Transfer in den Alltag. Natürlich bringt das auch Herausforderungen mit sich: Störungen durch Familie, Geräusche, mangelnde Privatsphäre – all das kann den therapeutischen Raum beeinflussen. Gleichzeitig schafft die räumliche Distanz eine besondere Form von Sicherheit: Man begegnet sich nicht zufällig im Supermarkt, das kann entlastend sein. Das Online-Setting eröffnet neue Wege der Nähe und fordert gleichzeitig dazu heraus, diese bewusst zu gestalten.
Wie gestalten Sie Ihr technisches Setting, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen?
Ich arbeite vor allem mit meinem Laptop und dessen eingebauter Kamera, ergänzt durch kabelgebundene Kopfhörer – einfach, zuverlässig und mobil, was für meine digitale Nomaden-Arbeit ideal ist. Ich achte auf einen neutralen Hintergrund, oft mit einem Bild oder einer Pflanze, damit die Umgebung angenehm wirkt, ohne abzulenken. Virtuelle Hintergründe vermeide ich, weil sie oft unecht wirken oder irritieren können. Besonders wichtig ist mir eine stabile Internetverbindung. Störungen können Gespräche unterbrechen, deshalb bereite ich meine Klient:innen auf mögliche Probleme vor und habe immer einen Plan B oder C – sei es der Wechsel zu mobilen Daten oder das Verschieben auf einen sicheren Ersatztermin. Auch solche Momente lassen sich manchmal sogar therapeutisch nutzen, um mit Frustration oder Unterbrechungen umzugehen. Zusätzlich nutze ich digitale Hilfsmittel wie Buchungstools, sichere Cloud-Lösungen für Notizen und ein digitales Notizpad, auf dem ich handschriftlich mitschreiben kann. So bleibt die Arbeit effizient, flexibel und sicher – und es entsteht trotzdem eine vertrauensvolle, persönliche Atmosphäre.
Mich überfordert es in Videogesprächen, das Bild meines Gegenübers im Blick zu behalten und gleichzeitig in die Kamera zu schauen. Können Blickkontakt und Präsenz überhaupt „virtuell“ entstehen?
Tatsächlicher Blickkontakt funktioniert online nicht wie vor Ort, weil man eben meist auf den Bildschirm schaut, nicht direkt in die Kamera. Technisch hilft es, das Videofenster nahe an die Kamera zu platzieren, damit der Blickkontakt besser wirkt. Dennoch gilt: Online-Beziehung entsteht durch menschliche Reaktionen, nicht durch perfekte Simulation von Präsenz. Wichtig für Beziehung ist, dass wir aufeinander reagieren und die Mimik wahrnehmen. Mit Bewusstsein für Bewegung, Perspektive und Gerätegröße kann man Nähe und Präsenz kreativ gestalten, ohne den Dialog künstlich wirken zu lassen. Ich lade Klient:innen oft aktiv ein, wegzuschauen, um das Gespräch natürlicher zu gestalten – ähnlich wie in der Praxis, wo man sich auch mal umschaut oder nachdenkt. Gerade für Menschen, die Nähe als belastend empfinden, kann die Online-Variante sogar entlastend sein.
Welche Tools und Methoden haben Sie für Ihre Videogespräche angepasst oder sogar neu entwickelt?
Ein wichtiger Anpassungspunkt ist die innere Haltung zu Materialien wie Papier und Stift. Auch online kann handschriftliches Arbeiten sehr wirksam sein, selbst wenn man nicht alles direkt sehen kann. Manchmal zeige ich Ergebnisse über Kamera oder teile digitale Varianten, z. B. Whiteboards, um Inhalte sichtbar zu machen. Digitale Varianten von Übungen, wie das Sortieren von Wertekarten, ermöglichen interaktives Arbeiten, wobei man entscheiden kann, wer die Karten bewegt – die Therapeutin oder die Klient:innen. Hausaufgaben oder kreative Arbeiten wie Mindmaps lassen sich über Handy oder Bildschirm teilen, sodass man sie während des Gesprächs einbeziehen kann. Die Methoden sollten an die Person angepasst sein. Wer digital affin ist, kann Tools nutzen; wer lieber analog arbeitet, behält Papier und Stift. So bleibt die Methode wirksam, flexibel und auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt.
Sie achten sehr darauf, individualisiert vorzugehen, stark auf Ihr Gegenüber einzugehen.
Online gibt es eine zusätzliche Ebene der Anpassung – das sensibilisiert: Es geht nicht nur um die Auswahl der Übung, sondern auch darum, wie die Übung umgesetzt wird. Im klassischen Setting arbeitet man meist direkt mit physischen Materialien wie Karten oder Arbeitsblättern, die wenig Variation zulassen. Im Videogespräch hingegen kann man:
- Materialien digital zuschicken, damit sie die Person ausdruckt oder bearbeitet,
- über Whiteboards arbeiten,
- den Bildschirm teilen oder die Person selbst Inhalte teilen lassen.
Dadurch entstehen viel mehr Umsetzungsmöglichkeiten, die individuell auf das Gegenüber abgestimmt werden können. Die Auswahl der Methode hängt wie üblich von der Person ab, aber die technische Umsetzung eröffnet zusätzliche Flexibilität.
Gibt es eine Methode oder ein Tool, bei dem Sie überrascht waren, wie gut es online funktioniert?
Überraschend wirksam ist die Möglichkeit, gemeinsam an realen Aufgaben im Alltag teilzunehmen. Beispielsweise hat eine Klientin ihren chaotischen Keller, den sie seit langer Zeit aufräumen wollte, über die Kamera gezeigt, und wir sind virtuell zusammen durch den Keller gegangen. Eine andere Klientin brauchte aus Angst Unterstützung beim Öffnen ihres vollen E-Mail-Postfachs – auch hier konnte ich sie online live begleiten. Dieses „Ich-kann-dabei-sein“-Prinzip funktioniert online erstaunlich gut und ermöglicht reale Begleitung in Alltagssituationen.
Welche technischen oder methodischen Weiterentwicklungen wünschen Sie sich für die kreative Online-Arbeit?
Ehrlich gesagt wünsche ich mir in erster Linie stabile Verbindungen – das allein würde schon viele Herausforderungen lösen. Wenn Bild und Ton einfach reibungslos funktionieren, wird vieles leichter, sowohl technisch als auch in der Beziehungsgestaltung. Ansonsten habe ich gar keine konkreten Hightech-Wünsche. Natürlich finde ich Entwicklungen wie Virtual Reality spannend, aber ich erlebe, dass sich auch mit einfachen Mitteln sehr kreativ arbeiten lässt – mit Stift, Papier, einem zusätzlichen Gerät oder einer geteilten Kamera. Oft ist das Persönliche, Analoge sogar wirkungsvoller als die digitale Variante, weil es Menschen stärker in den Prozess einbindet. Und was sensorische Erweiterungen wie Geruch oder räumliche Präsenz betrifft – manchmal denke ich, es wäre interessant, aber meistens bin ich auch froh, dass genau diese Distanz bleibt. Die Technik wird sich ohnehin weiterentwickeln, entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wir bewusst auswählen, was davon wirklich hilfreich ist – und was vielleicht gar nicht nötig ist.
Was raten Sie Kolleg:innen, die sich bisher noch nicht an das Online-Setting herangetraut haben?
Mut zum Ausprobieren! Online-Beratung ist eine wertvolle Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die sonst keinen Zugang hätten. Wer therapeutisch erfahren ist, kennt den eigenen Stil und kann darauf aufbauen, Schritt für Schritt angepasst ans Online-Setting. Vieles lässt sich gut gemeinsam mit den Klient:innen entwickeln. Ich sage zum Beispiel offen: „Ich habe eine Idee, wollen wir das gemeinsam ausprobieren?“ – das schafft Transparenz und stärkt die Beziehung. Wichtig ist auch, sich bewusst zu machen, welche Umgebung, Technik und Vorbereitung einem selbst Sicherheit geben. Am Anfang läuft nicht alles perfekt, aber mit der Zeit wachsen Sicherheit, Flexibilität und Kreativität. Entscheidend ist: offen, professionell und menschlich bleiben.
Wir sprachen mit:
Sonia Jaeger ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Dr. rer. med. und arbeitet als Online-Psychologin. Nach Studium, Therapeutenausbildung und Promotion entschied sie sich 2015, ihre Online-Beratung aufzubauen, um flexibel und ortsunabhängig tätig zu sein. Sie bietet psychologische Beratung auf Deutsch, Französisch und Englisch an und unterstützt Kolleg:innen beim Aufbau eigener Onlinepraxen. Zudem leitet sie international Workshops zu psychischer Gesundheit von Expatriates, digitalen Nomad:innen und zu Remote Work im therapeutischen Kontext.
Weitere Informationen findest du unter: www.sonia-jaeger.com
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