Achtung, Ausnahmezustand: Wie bleiben Eltern nach der Geburt auch ein Paar?

Ein Mann und eine Frau je mit einem Kind im Arm stehen sich gegenüber und schauen sich an.

Ist der Kinderwunsch einmal da, wünschen sich Paare nichts sehnlicher, als Eltern zu werden. Die wenigsten können sich vorstellen, was sich dadurch alles verändert. Ist es überhaupt möglich, sich auf das Elternwerden vorzubereiten? Und wie gelingt es, nach der Geburt auch ein Paar zu bleiben? Paar- und Familientherapeutin Anette Frankenberger teilt im Interview, wie sich Paare für den Ausnahmezustand wappnen können und warum davon auch die Kinder profitieren.

Frau Frankenberger, inwieweit verändert sich die Beziehung, sobald Nachwuchs da ist?

Es verändert alles! Und das ist oft etwas, das sich Paare vorher nicht so klar machen - und sich auch nicht klar machen können. Selbst wenn man beobachtet, wie befreundete Paare Kinder kriegen: Das ist eine Erfahrung, die man selber machen muss.

Ein Kollege von mir hat mal gesagt: Wenn man sich vorstellt, dass das erste Jahr mit Kind ein Ausnahmezustand ist, dann ist man gut beraten. Und ich teile diese Meinung. Selbst wenn man sich gut informiert, in der ganzen Schwangerschaftsliteratur findet man kaum etwas darüber, was Paare nach der Geburt brauchen. In dem Moment, wo ein Kind da ist, verliere ich meine Rolle als Geliebte:r und bin nur noch Mama oder Papa. Weil das Kind so klein ist und so viele Bedürfnisse hat, überlagert das alles und das führt dazu, dass wir die Paarbeziehung vernachlässigen. Wenn dann noch die Nächte perforiert sind, dann sitzen wir mit Augenringen voreinander und fragen den anderen: „Wer bist denn du? Wohnst du auch hier?“

Wenn das erste Jahr ein Ausnahmezustand ist, dann kann ich mich darauf einstellen: Alles kann passieren und alles darf sein. 

Genau, deswegen finde ich diese Idee mit dem Ausnahmezustand schön, denn dann wappne ich mich ein wenig. Paare, die ein Kind haben wollen, können schon vorher schauen: Wie sorgen wir füreinander, wenn wir in einem Ausnahmezustand sind? Wie können wir besonders lieb, besonders behutsam und besonders fürsorglich miteinander umgehen? Anstatt - was ja viele Menschen machen, wenn sie gestresst sind - besonders ekelhaft zueinander zu sein und damit die letzte Kraft, die sie noch haben, damit zu verplempern garstig zu sein.

Ein Ausnahmezustand ist es z. B. auch, wenn eine Frau stillt. Da gibt es für den Vater mit dem Neugeborenen erstmal nichts Vergleichbares wie diese Mutter-Kind-Einheit. Das macht für viele Paare ein komisches Gefühl. Die Väter fühlen sich dann in erster Linie außen vor, v. a. wenn das Paar da nicht gut miteinander umgeht und auch die Mütter nicht in der Lage sind, Dinge abzugeben und dem Vater was zuzutrauen. Wolfgang Schmidbauer, ein Münchner Psychotherapeut, hat gesagt: Die Männer stehen dann daneben wie ein Lehrling, der sich belehren lassen muss - und das darf nicht passieren. Das heißt aber auch, dass die Väter sich interessieren, dass die Mütter sie mit einbeziehen und dass beide Expert:innen sind auf ihre Art.  

Man sieht ein Buch mit dem Titel Parenting auf dem Schoß einer Person liegen.

Es klingt so, als sei es in dieser Zeit ganz zentral, miteinander zu reden...

Miteinander reden ist überhaupt zentral, nicht nur in dieser Zeit, aber besonders in dieser Zeit. Gerade, weil so viel passiert. Das Baby ist da, es ist alles neu, ich muss mich drauf einstellen, habe eine neue Rolle. Es ist alles anders und wir müssen darüber in Kontakt bleiben: Wie geht es dir? Kommst du zurecht? Kann ich meine Freude teilen - und auch meinen Frust?

Wie können Paare damit umgehen, wenn sie merken, dass sie mit den Veränderungen - oder auch mit dem Elternsein an sich - hadern?

Ich erlebe das immer wieder, dass mich Eltern fragen: „Sagen Sie mal, muss ich dazu Lust haben? Zum Puppenspiel, zum Rollenspiel, zum Bauklötze aufeinandertürmen?“ Und ich sag dann: „Nein, denn Sie sind ja schon groß!“ 

Regretting Motherhood ist ein Hype, der mal ausgesprochen werden musste: Dass es nicht immer nur lustig und nicht immer nur toll ist. Es ist wichtig, dass man diese Ebenen zulässt und miteinander spricht, anstatt zu denken: „Boah, was bin ich für eine schlechte Mutter, was bin ich für ein schlechter Vater, dass ich jetzt Playmobilspielen nicht so prickelnd finde…“ Wenn diese Dinge ausgesprochen sind und da sein dürfen, habe ich schon ganz viel abgefedert.

Früher hat man gesagt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Dieser Spruch ist so enorm wahr. Es ist leichter, wenn viele Bezugspersonen da sind. Wenn es dieses Dorf gibt, wo ich ein Kind einfach laufenlassen kann. Jeder weiß, wem dieses Kind gehört, und alle haben so ein bisschen ein Auge drauf.

Welche Erfahrungen machen denn junge Eltern heutzutage: Was gibt es anstelle des Dorfes?

Ich glaube, dass dieses Bewusstsein, dass es ein ganzes Dorf braucht, inzwischen wieder stärker wird. Die „artgerecht“-Autorin Nicola Schmidt vertritt das ja sehr vehement. Die ist im Übrigen die Einzige, die ganz klar öffentlich und nachlesbar sagt: Eltern müssen was für sich und ihre Beziehung tun. Sucht euch ein soziales Netz! Wo sind die Großeltern, die Tanten und Onkels, die guten Freunde? Wo sind die befreundeten Familien? Ich sage immer, fahrt mit anderen Familien, die auch Kinder haben, in den Urlaub. Dann habt ihr mal Zeit, was anderes zu tun. Wenn ich das Dorf nicht von alleine habe, muss ich es mir erschaffen.  

Zwei junge Männer sitzen bei einem Kind im Hochstuhl, der eine füttert das Kind, der andere telefoniert.

Viele Eltern berichten, dass sie von außen auch ungefragte Ratschläge bekommen. Wie können sie damit umgehen?

Ich sag den Eltern immer, dass sie sich den Rat selber holen dürfen und dass sie keine unaufgeforderten Empfehlungen entgegennehmen müssen. Da gibt es ja leider auch manche Großeltern, die sind vollkommen hemmungslos, was das anbelangt. Sie wissen alles besser und mischen sich überall ein. Diesen Großeltern würde ich auch sagen: Haltet euch einfach raus, die kommen schon, wenn sie Hilfe brauchen. Sie fragen euch, wenn sie fragen dürfen und dann eine Antwort kriegen. Aber diese unaufgeforderten Ratschläge - gerne auch von Menschen auf der Straße oder auf dem Spielplatz - da berate ich Eltern dahingehend, dass sie sich einen guten Regenmantel überziehen und das abprallen lassen. In eine Diskussion einzusteigen, hat keinen Sinn! Die innere Haltung ist: Ich hole mir meinen Rat da, wo ich mich wohlfühle und da, wo ich Vertrauen habe.

An welchem Punkt kommen Eltern gewordene Paare zu Ihnen in die Paartherapie?

Die Paare kommen leider oft sehr, sehr spät – und manchmal auch zu spät. Es gibt ja nicht das verflixte siebte Jahr, sondern 5, 15 und 25, das sind die Jahre, in denen es die Höchstzahlen an Trennungen gibt. Das Kind oder die Kinder sind dann klein und die Eltern haben sich aus den Augen verloren. Wenn das Kind 2, 3 oder 4 Jahre alt ist, schaut das Paar sich an und sagt: „Wer bist denn du? Ich kenne dich gar nicht“. Entweder das Paar hat diese Verwandlung in das Elternpaar nicht geschafft oder sie sind nur noch Eltern und gar nicht mehr Mann und Frau füreinander. Dann kommen die Paare in die Therapie - oder sie trennen sich schon.

Haben sie eine Idee, was dazu führt, dass die Paare so spät kommen?

Stress. Bei meinen Vorträgen höre ich oft den etwas witzigen Satz: „Wenn ich mal Muße hab, dann komm ich zu Ihnen!“. Das ist nett, weil das wird nicht eintreten. Ich hole mir ja nicht Beratung, wenn ich Muße hab, sondern wenn ich in Not bin. Diese Kultur, sich Rat zu holen, wird in Deutschland immer noch beäugt. Dieses Wissen, dass sich Hilfe holen nicht gleichbedeutend mit Schwäche oder Inkompetenz ist, da haben wir noch dringend Nachholbedarf. Es ist eine Stärke und Kompetenz zu sagen: Ich komme alleine nicht weiter, ich frag jetzt wen. Es gibt Stillberater:innen, es gibt Trageberater:innen… aber viele nehmen das nicht in Anspruch. Ich sage: Nutze das! Dann hast du es einfacher! Du musst dich nicht durch alles alleine durchquälen. Sich zu trauen, sich frühzeitig Hilfe zu holen, das würde ich viel mehr Menschen wünschen. Nicht erst, wenn es total brennt oder wenn eine:r schon innerlich ausgezogen ist.  

Ein Mann und eine Frau sitzen mit Abstand nebeneinander auf einer Coach.

Was stärkt und unterstützt die Paare, wenn sie zu Ihnen kommen?

Für mich ist das Allerwichtigste: Wenn ich gestresst bin, muss ich besonders lieb miteinander sein. Ich propagiere gerne die 5:1-Regel, also man braucht in einer Beziehung fünfmal so viel Positives wie Negatives. Wertschätzung, Wohlwollen, Behutsamkeit, Freundlichkeit und - tatsächlich ganz praktisch - Zeit füreinander. Klar, wenn ich ein kleines Kind habe, kann ich nicht groß ausgehen. Aber ich kann, wenn das Kind schläft oder beim Babysitter oder in der Krippe oder sonst wo ist, auch mal sagen: Komm, jetzt frühstücken wir miteinander - oder wir räumen die Küche auf, aber wir machen es zusammen und erzählen uns was dabei. Viele Paare haben ja diesen Effizienzgedanken: Du machst die Wäsche und ich mach die Küche, anstatt dass wir sagen, komm, wir machen es zusammen, dann ist es vielleicht langsamer, aber wir sind beieinander und du sagst mir, wie dein Tag war. Man kann die Zeiten, die es ohnehin gibt, nutzen, um in Kontakt zu sein.

Es ist auch wichtig, den Körperkontakt nicht zu vergessen. Ein kleines Kind vereint das ganze Kuschelpensum auf sich. Dann haben Eltern davon genug. Das ist aber einfach nicht dasselbe. In der Umarmung miteinander kuscheln, Nähe suchen – das ist enorm wichtig, damit wir das nicht vergessen.

Wenn ich Paaren in der Therapie sage, dass sie darauf achten müssen, gucken sie mich an und sagen: So einfach soll das sein? Dann sag ich: Ja, mach das halt mal. Es ist total einfach, aber es ist nicht leicht umzusetzen. Ich muss es mir wirklich vornehmen und der Versorgung des Kindes oder der Kinder nicht die absolute Priorität einräumen.

Wie geht es im besten Fall nach dem ersten Jahr Ausnahmezustand weiter?

Der Ausnahmezustand hört auf, also die Kinder werden größer und dann wird es leichter, wenn das Paar gelernt hat, über diese Zeiten hinweg beieinander und in Kontakt zu bleiben. Dann profitieren alle davon und vor allen Dingen die Kinder, denn Kindern geht es gut, wenn es Mama und Papa gut geht miteinander. Das vergessen die Eltern so oft. Sie denken: „Dem Kind muss es gut gehen, egal wie es mir geht…“, aber wenn es mir nicht gut geht, kann es meinem Kind auch nicht gut gehen. Erst wenn es den Eltern gut geht, dann kann das Kind Kind sein.

Astrid Lindgren hat in ihrer Biografie „Das entschwundene Land“ geschrieben, dass sie so eine schöne Kindheit hatte, weil die Eltern so verliebt ineinander waren. Sie beschreibt, dass ihre Eltern keine Kinder brauchten, um sich abzulenken, um Sinn zu stiften oder um Blitzableiter zu sein. Wir sprechen hier vom bäuerlichen Schweden vor 100 Jahren, was nicht nur idyllisch, sondern auch sehr viel härter war. Aber dieses aufeinander bezogen sein, das hat schon auch einen Zauber.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Frankenberger! 

Porträtfoto von Paartherapeutin Anette Frankenberger

Über Anette Frankenberger: 

Anette Frankenberger ist seit 1989 als Dozentin in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung tätig. Seit 1994 arbeitet sie als systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF) und Supervisorin in eigener Praxis. In ihrem Podcast „15 Minuten fürs Glück“ teilt sie mit Journalistin Antonia Fuchs regelmäßig neue Blickwinkel und Tipps für mehr Leichtigkeit im Leben.

Mehr Infos unter: https://www.anettefrankenberger.de/