Wie Coachees mit dem Wesenskernspiel herausfinden, was sie wirklich wollen

In Phasen der beruflichen oder privaten Neuorientierung, kann es Coachees manchmal schwerfallen herauszufinden, was sie wirklich wollen. Bei welchen Tätigkeiten erleben sie Freude? Was ist ihnen wichtig? Oft blockieren Glaubenssätze den weiteren Prozess. Um Coachees hier mit mehr Leichtigkeit zu unterstützen, hat Christine Jung das Wesenskernspiel entwickelt. Im psylife-Interview stellt sie dir ihren Ansatz vor.
Frau Jung, wie ist Ihr Wesenskernspiel entstanden – was war der Auslöser dafür?
2007 war ich mit meinem Mann auf dem Kirchentag in Köln. Damals habe ich als frisch gebackene Diplom-Pädagogin Bewerbungstrainings mit Hartz-4-Empfänger:innen gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass ich kläglich daran scheitere, ihnen zu vermitteln, welche Fähigkeiten und Stärken sie haben. Das war auch meiner Naivität als Berufsanfängerin geschuldet. Auf dem Kirchentag habe ich dann Veranstaltungen besucht, bei denen es auch um das Thema Arbeit ging. Bei einer Veranstaltung wurde Professor Frithjof Bergmann (Begründer der New-Work-Bewegung) angekündigt. Da kam jemand auf die Bühne, der so gar nicht dem Bild eines klassischen Professors entsprach. Er gab eine treffende und sehr bekundete Analyse der Zustände auf dem Arbeitsmarkt, die viele Leute exkludiert und Bildung und Karriere in den Mittelpunkt stellt.
Sein Kernpunkt, der mich am meisten angesprochen hat, war der, dass es so essenziell für Menschen ist, herauszufinden, was sie wirklich, wirklich wollen. Das hat mich total gepackt. Nach dem Kirchentag habe ich mich weiter reingelesen und war völlig fasziniert. Mir wurde glasklar: Ich will auch für mich herausfinden, was ich wirklich, wirklich will - und ich will wissen, wie ich auch meine Coachees darin begleiten kann.
Das war der Anfang meiner etwa dreijährigen Forschungsreise, bei der ich dieser Frage nachgegangen bin und alle möglichen Ideen und Inspirationen gesammelt habe. Als ich mir alles noch mal ad hoc zusammen durchgelesen habe, ist wirklich das passiert, von dem ich bis dahin nur gelesen hatte: Es gab diesen Moment der Inspiration und ich wusste auf einmal, ich will ein Spiel machen. So bin ich dazu gekommen, den ersten Prototyp zu entwerfen.
Welche theoretischen Modelle oder Konzepte sind neben der Arbeit von Frithjof Bergmann in Ihre Ideen eingeflossen?
Zu Beginn ist mir das Buch von Richard Bolles begegnet, „Durchstarten zum Traumjob“ (erschienen im Campus-Verlag). Das war damals ein singuläres Werk, was ganzheitlich Menschen geholfen hat, herauszufinden, wo ihre Reise hingehen könnte. Das fand ich extrem inspirierend. Bei Barbara Sher habe ich unter anderem den Begriff des Wesenskerns gefunden. In den Folgejahren - da habe ich schon mit dem Spiel gearbeitet - habe ich von Professor Julius Kuhl aus Osnabrück erfahren, der die Persönlichkeits-System-Interaktion entwickelt hat, und mich darin wiedergefunden. Zudem gibt es eine enge Verwandtschaft mit dem Züricher Ressourcenmodell.
Warum haben Sie sich gerade für das Medium Spiel entschieden?
Zu dem Zeitpunkt gab es kaum Spiele für den Coachingbereich. Das ist inzwischen zum Glück anders geworden! Wenn ich mich mit so einer existenziellen Frage beschäftige, werden schnell viele Glaubenssätze aktiviert. Es braucht einen anderen Zugang, der die Coachees rausnimmt aus diesen klassischen kognitiven Zugängen und es ihnen ermöglicht, sich auf eine spielerische Art und Weise und mit Freude diesem Thema zu nähern.
Vielleicht können Sie einmal skizzieren: Welche Schritte durchläuft ein Coachee während des Spiels?
Das Wesenskernspiel besteht aus drei Spielrunden und verfolgt einen biografischen Ansatz. Für die erste Spielrunde gibt es 60 sogenannte Lebensraumkarten, auf denen allgemein draufsteht, was Menschen im Laufe ihres Lebens so tun, z. B. Kunst, Computer, alle möglichen Schulfächer, private und berufliche Interessen usw. Daraus wählt man die Karten, die für einen positiv besetzt sind. Man legt die Kärtchen dort auf den Spielplan, wo sie zum ersten Mal im Leben aufgetaucht sind, also z. B. Kindheit, Jugend oder privates oder berufliches Erwachsenenalter.

In der zweiten Spielrunde gucken wir: Was genau hat die Person früher mal gerne getan und tut sie heute noch gerne? Der Fokus liegt auf dem Tun und es geht darum, das möglichst präzise zu beschreiben: Was ist es genau, was ich da gerne mache oder was mich interessiert? Wenn ich z. B. gerne die „Bunte“ lese, könnte mich dabei v. a. die Mode interessieren. Dann gucke ich vielleicht noch genauer hin und schaue, welche Art von Mode. Ein Interesse an Sprachen könnte sich in der Arbeitswelt dadurch zeigen, dass ich im Businesskontext meine Englischkenntnisse anwende.
Manche Dinge sind in allen Lebensbereichen für uns wichtig, dann geht es darum, jeweils die Unterschiede festzuhalten. Wenn ich z. B. als Kind gerne Hickelhäuschen gehüpft bin, ist das Spiel in der Jugend vielleicht etwas anderes. Im Erwachsenenalter würde ich selbst z. B. sagen, dass ich ein Spiel entwickelt habe.
In der dritten Spielrunde werden die Wesenskerne identifiziert. Die Definition von einem Wesenskern in meinem Spiel lautet: Dinge, die positiv intrinsisch motiviert sind. Die Coachees formulieren dabei auf Grund des Materials der ersten Spielrunden Sätze, die für sie stimmig sind und die den Kern ihrer Motivation benennen. Solch ein Satz hat einen einmaligen Blick auf das eigene Leben: bewertungsfrei und ausschließlich aus der Perspektive der Freude.
Welche Veränderungen beobachten Sie bei Menschen, die mit dem Wesenskernspiel arbeiten?
Berührt. Ihnen werden Sachen bewusst, mit denen sie sich lange nicht beschäftigt haben. Es kommt etwas in Bewegung. Sie können sich immer wieder auf die Ergebnisse beziehen und diese für sich nutzen, um gute Entscheidungen für sich zu treffen: „Ist genug von mir in dem enthalten, was ich tue oder vorhabe zu tun?“
Für welche Zielgruppen oder Situationen eignet sich das Spiel besonders gut?
Für Jugendliche ab dem Thema Berufs- oder Studienwahl und für Menschen im Erwachsenenalter, wenn es um das Thema berufliche Neuorientierung oder den Eintritt in die Rente geht. Genauso kann man das Spiel aber auch für die Biografiearbeit einsetzen und um Stärken und Werte zu erarbeiten. Letztendlich ist es ein Grundlagenspiel, das total anschlussfähig ist für unterschiedliche Coachingsituationen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Coaching-Szene – besonders in Bezug auf Persönlichkeitsarbeit?
Die Klärung des eigenen Lebens, also der Themen, die einen selbst beschäftigen, finde ich essenziell: Da dranzubleiben und einen Blick auf sich selbst zu entwickeln, bei Bedarf auch Supervision oder Intervision in Anspruch zu nehmen. Im Coaching ist mein Gegenüber die entscheidende Person. Meine eigenen Themen haben insofern nur dort Raum, wenn sie mal zu einem Lachen führen oder einem Prozess unterstützen können. Ich muss selbst klar haben, welche Tools ich einsetze: Was passt zu mir, was nicht? Je klarer ich insgesamt bin, desto mehr kommen auch die richtigen Leute zu mir.
Was war Ihr größter Aha-Moment in Ihrer eigenen Reise als Coachin und Unternehmerin?
Mein größter Aha-Moment war es, herauszufinden, was ich wirklich, wirklich will: nämlich Menschen zu helfen, ihr eigenes „wirklich, wirklich Wollen“ herauszufinden. Das steht je nach Lebensphase immer mal wieder auf dem Prüfstand, und dann merke ich doch immer wieder: Es macht mir unverändert irre viel Freude. Ich mache das unheimlich gerne und für mich gibt es nichts Schöneres, als mit Freude Arbeit zu tun, die anderen wiederum Freude macht und sie wirklich in ihrem Leben weiterbringt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Christine Jung
Christine Jung, ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkel und lebt gemeinsam mit ihrem Mann in einem Wohnprojekt. Sie ist Krankenschwester, Referentin für Frauenfragen und seit 2006 Diplom-Pädagogin. Sie arbeitet seit 18 Jahren als Coachin und Prozessbegleiterin. Menschen zu helfen herauszufinden, was sie in einer beruflichen Neuorientierung wirklich, wirklich wollen, ist ihre Mission. Dafür hat sie einen spielerischen Ansatz entwickelt, der mit dem Wesenskernspiel startet.
Mehr Infos findest du unter: https://frei-raeume.info/