Wie man die seelischen Kosten der Karriere minimiert
Immer mehr Menschen geraten in berufliche Krisen und suchen Unterstützung im Coaching. Das bemerkt auch Werner Gross in seiner Praxis. In seinem neuesten Buch beschreibt er, wie man die seelischen Kosten der Karriere minimieren kann. Über Herausforderungen der heutigen Zeit und die Stellschrauben für mehr Zufriedenheit hat er mit uns im Interview gesprochen.
Herr Gross, geraten heutzutage mehr Menschen in berufliche Krisen?
Es ist sicher so, dass immer mehr – gerade jüngere Leute – in berufliche Krisen geraten. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sie mitunter im Crash-Kurs durch ihre Ausbildung gerast sind und (wenn sie Glück hatten) schnell ihre erste Stelle gefunden haben. Allerdings haben sie nur selten ausreichend Zeit, in ihrem Job auch emotional Fuß zu fassen. Und gerade in Covid-19-Zeiten kommt dann der Berufsstress in voller Ladung auf sie zu. Damit einher geht nicht selten die Angst vor Job-Verlust. Hinzu kommt: man muss in vielen Unternehmen seine Außenfassade stoßfest, bruchsicher, formschön und abwaschbar erscheinen lassen. Und das hält man nur eine begrenzte Zeit aus, bevor Körper oder Psyche die Notbremse ziehen: Wer schneller lebt, ist früher fertig. Aber es trifft nicht nur die Jüngeren – die seelischen Kosten der Karriere zeigen sich auch später im Berufsleben.
Merken Sie das auch in Ihrer Praxis?
Ja, klar. Das merke ich sowohl in der Psychotherapie wie auch im Coaching: Die Klient*innen werden immer dünnhäutiger und fragiler – und sie stehen immer mehr unter Strom und unter Erfolgszwang.
Je nach individueller „psychosomatischer Achillesferse“ stehen bei einer Person Herz-Kreislauf-Probleme oder Schlafstörungen im Vordergrund, bei einer anderen Ängste oder Suchtprobleme und bei einem dritten sind es Depressionen oder Magenschleimhautentzündungen. Aber das sind oft nur die Auslöser dafür, sich überhaupt professionelle Hilfe zu suchen, um den Berufsstress bewältigen zu können. Da muss man ganz schön aufpassen. Wie heißt es doch so schön: „Wer höher steigt als er sollte, fällt tiefer als er wollte.“
Welche Herausforderungen oder Veränderungen sind daraus für Sie und Ihre Arbeit entstanden?
Es geht – sowohl in Psychotherapien wie im Coaching – immer öfter nur noch darum, die schlimmsten Krisen zu bewältigen. Für eine langfristige und tiefer gehende Bearbeitung nehmen sich viele Klient*innen leider immer weniger Zeit. Die schnelle Lösung wird gesucht, anstatt sich Zeit zu nehmen für wirklich langfristige, tiefergehende strukturelle Änderungen.
Was sind die besonderen Anforderungen insbesondere in der heutigen Zeit?
Effizienz und Effektivität sind nicht erst seit gestern die Götzen der Wirtschaftswelt, auch wenn man gerne sagt, dass „der Mensch im Mittelpunkt steht“ (Zyniker sagen „aber genau da steht er allen im Wege“). Die Menschlichkeit wird nur allzu oft dem Betriebsergebnis oder dem Aktienkurs geopfert.
Gerade in (Nach-)Corona-Zeiten werden die Karten in vielen Berufsfeldern neu gemischt: Kaum ein Job ist noch sicher. Die beruflichen Positionen stehen vielfach zur Disposition, was dann die Angstspirale weiter anheizt. Anpassung wird allenthalben gefordert – und Motivation. Die Forderungen an das richtige „mind-set“ steigen. Da wird Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbewusstsein genauso verlangt wie Teamfähigkeit, Flexibilität und Loyalität. Und all diesen Anforderungen zu genügen macht natürlich Stress, der sich dann in den oben genannten Symptomen zeigt.
Sie sehen Krise auch als Chance – können Sie das erläutern?
Krisenzeiten sind auch immer Zeiten der Veränderung. Krisen sind im Grunde nicht schlimm – man muss ihnen nur den Geschmack der Katastrophe nehmen. Und man sollte sehen, dass in der Veränderung auch immer eine Chance liegt. Die gilt es zu sehen und zu ergreifen. Bei den Chinesen gibt es ein Sprichwort: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern. Die anderen setzen Segel.“ Im übertragenen Sinn heißt das als Empfehlung für die Coaching-Klient*innen: „Halten Sie Augen und Ohren offen, schauen Sie nach Ihren Möglichkeiten und Chancen und überlegen Sie, welches ‚mind-set‘ Sie dafür brauchen. Je besser Sie Ihren Markt und Ihren Marktwert kennen, umso größer ist die Chance, dass Sie den richtigen Job finden, der zu Ihnen und in Ihre jetzige Lebensphase passt. Und überlegen Sie auch, ob Sie bereit und in der Lage sind, die seelischen Kosten dafür zu zahlen.“ Diese Risikoabwägung kann den Coachees letztlich keiner abnehmen.
Wie kann Coaching bei der Bewältigung beruflicher Krisen helfen?
Coaching hat einen Ausschnitt des Lebens im Fokus – in diesem Fall den Beruf - und gutes Coaching hat vor allem zwei Ebenen:
- Bewältigung von beruflichen Krisen
- Optimierung der persönlichen Entwicklung
Bei der Krisenbewältigung geht es vor allem um Stärkung der „Resilienz“, also der Widerstandsfähigkeit. Dazu ist die Kenntnis des eigenen Stärke-Schwäche-Profils wichtig: Welche Stärken habe ich und wie kann ich sie ausbauen? Mit welchen Schwächen werde ich leben müssen, weil sie nicht veränderbar sind? Aber auch: welche kann ich wie verbessern oder gar in Stärken wandeln?
Bei der Optimierung der persönlichen Entwicklung geht es (außerdem noch) darum zu überlegen: Wo will ich mit meinen beruflichen Ambitionen eigentlich hin? Welcher Job passt zu mir – in welcher Branche, auf welcher Hierarchieebene? Was sind meine Karriereziele? Und was brauche ich, um sie zu erreichen?
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Was müsste sich verändern, damit das Risiko für berufliche Überbelastung langfristig abnimmt?
Da muss man zwei Ebenen unterscheiden: Die Unternehmen sollten die Mitarbeiter*innen als erstes angemessen auf ihre Berufsposition vorbereiten und sie nicht einfach ins kalte Wasser schubsen – nach dem Motto: der/die wird bei uns schon schwimmen lernen – ansonsten säuft er/sie eben ab.
Dann gibt es eine Vielzahl von kleinen Unterstützungen, die hilfreich sind, damit jemand seine Arbeit angemessen erledigen kann, ohne krank zu werden. So sollten den Mitarbeiter*innen alle für die Arbeit notwendigen „facilities“ zur Verfügung stehen (was beileibe nicht in jeder Firma der Fall ist). Eine klare Aufgabenverteilung, eine offene Kommunikations- und Rückmeldekultur ist ebenso hilfreich, wie eine gute Atmosphäre im Team, in der Abteilung und im Haus. Manchmal hilft dazu Supervision oder eine passgenaue Team- und Organisationsentwicklung.
Die Mitarbeiter*innen – egal ob neu in der Firma oder alte Hasen – sollten sich selbst, ihre Stärken und Schwächen kennen. Sie sollten wissen, in welcher Organisationskultur sie am besten aufgehoben sind und was sie von ihren Fähigkeiten in ihre Arbeit einbringen können, aber auch wo ihre Grenzen sind – und auf was sie sich auf keinen Fall einlassen werden. Hilfreich ist es auf jeden Fall, wenn man nicht nur wegen des Geldes arbeitet, sondern einen darüber hinausweisenden Sinn in seiner Arbeit sieht. Schließlich verbringen wir einen nicht unbeträchtlichen Teil unserer wachen Lebenszeit am Arbeitsplatz. Wie sagte doch Konfuzius: „Wenn du liebst, was du tust, brauchst du nie mehr zu arbeiten.“
Welche Rolle haben Psycholog*innen, Coaches und/oder Psychotherapeut*innen, damit dieser Blick in die Zukunft nicht nur Utopie bleibt?
Sie können und sollen Berater*innen sein – sowohl für einzelne Mitarbeiter*innen wie auch für Unternehmen. Sie sollten aber nicht nur Hilfen im Tagesgeschäft anbieten, sondern auch über den Tellerrand schauen: Welche Auswirkungen haben z. B. Umstrukturierungen in Unternehmen auf die Mitarbeiter*innen? Und wie kann man die negativen Konsequenzen minimieren?
Was sind, Ihrer Meinung nach, die wichtigsten Stellschrauben für mehr Zufriedenheit und Gesundheit im Beruf?
Eine gute Karriere ist ein Marathon – und nicht nur eine Abfolge von Sprints. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich im Beruf (und durch die Firma) gebrauchen zu lassen, ohne daran kaputt zu gehen. Schließlich ist es ja so: Man macht nur langfristig gut, was man gern tut. Für mich ist das Wichtigste, einen Ausgleich zwischen äußerem Erfolg und innerer Erfüllung hinzukriegen. Nicht zuletzt sollte man wissen, wann man besser geht und sich eine neue Stelle sucht („Job surfing“).
Sie selbst haben vor einigen Jahren im Sinne der Work-Life-Balance Ihre Kassenzulassung abgegeben. Wie kam es dazu und was hat sich seitdem für Sie verändert?
Da ich einerseits gern und viel arbeite, war es so, dass meine Praxis ständig übervoll war und ich mich vor Anfragen von KV-Patient*innen kaum noch retten konnte. Ich wollte zum einen nicht mehr nur klinisch arbeiten und einfach auch nicht mehr ständig nein sagen müssen. Zum anderen wollte ich nach über 30 Jahren Psychotherapie den anderen nicht klinischen Tätigkeiten einfach wieder mehr Zeit widmen: Coaching, Supervision, Seminare, Unternehmensberatung und wieder mehr Bücher schreiben.
Welchen Rat würden Sie Ihren (jüngeren) Kolleg*innen mit auf den Weg geben?
Lassen Sie es langsam angehen: Es gibt mehr im Leben als Effizienz und Geschwindigkeit zu erhöhen. Schließlich: Great joys are silent. Es ist gut in der Arbeit aufzugehen – aber nicht gut darin unterzugehen. Ein erfülltes Leben ist für mich ein sinnliches und ein sinnhaftes Leben. Es besteht nicht nur aus Arbeit – Spaß, Lust, Beziehungen, Hobbies und Sinnfragen sind mindestens genauso wichtig. Und manchmal ist auch das Ausprobieren wichtig: „Falle aus der Rolle, damit du aus der Falle rollst“ (wenigstens ab und zu).