Vom Sinn des Genießens und dem Zweck der Genussfähigkeit

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In unserer schnelllebigen und effizienzorientierten Gesellschaft kommt Genuss oft zu kurz. Dabei ist bewusster Genuss eine leicht umsetzbare Möglichkeit, Stress zu reduzieren und Resilienz zu fördern. Erfahre wie du die eigene Genussfähigkeit stärken und Genusstraining in Therapie und Coaching einsetzen kannst.

Hand auf´s Herz - kannst du genießen? Wann hast du das letzte Mal irgendetwas so richtig genussvoll erlebt? Die Fähigkeit zu genießen ist eine elementare Fähigkeit des Menschen und eng verknüpft mit unserer Wahrnehmung. Wir setzen beim Wahrnehmen unsere fünf Sinne ein – hören, sehen, riechen, fühlen, schmecken. Und wir spüren, ob das Wahrgenommene angenehm ist oder nicht. Das klappt jedoch nur dann, wenn wir ganz bei der Sache und im Moment sind. Langsamkeit und bewusste Ausrichtung auf das Wahrgenommene sind unumgänglich. Wer vermutet, dass Achtsamkeit dabei eine wichtige Rolle spielt, liegt vollkommen richtig.

Jeder Mensch hat seinen Favoriten-Sinn, der eng mit dem Genusserleben verzahnt ist. Wer besonders gern hört und evtl. sogar ein absolutes Gehör hat, genießt wahrscheinlich Musik sehr; wer visuell seinen Schwerpunkt setzt, liebt möglicherweise Malerei und Fotografie.
Vielleicht ahnst du es bereits: Genussfähigkeit ist so auch ein wichtiger Baustein der Resilienz. Mit anderen Worten: Wir können durch das Genießen auftanken und Kraft sammeln.

Was bewirkt Genussfähigkeit?

Allein schon das achtsame Da-Sein im Moment wirkt angst- und/oder stressmindernd. Wenn du darüber hinaus auch noch etwas besonders Angenehmes erlebst – eben genießt –, dann wirkt das wie ein Warp-Antrieb raus aus der Angst oder dem Stress. Eine ausgeprägte Genussfähigkeit unterstützt die Verbesserung der (Selbst-) Wahrnehmung. Du kannst dies wie einen sich selbst verstärkenden Kreislauf verstehen, denn dadurch können sich immer mehr gesundheitsfördernde Verhaltensweisen etablieren. Grundsatz ist quasi die Salutogenese: Der Fokus wird verschoben von der Wahrnehmung des Unangenehmen hin zum Angenehmen, vom Mangel zur Fülle, vom Kranken zum Gesunden.

Damit wird das Unangenehme nicht negiert, sondern dessen Anwesenheit relativiert. Das Bewusstsein erweitert sich – es ist dieser berühmte „Schritt zurück“: Raus aus dem Tunnelblick, der nur zu noch mehr Stress führt, hin zur Wahrnehmung von allem. Und wenn du dich insbesondere auch auf das fokussieren kannst, was dich trotz Ärger, Angst oder Stress erfreut, dann steigt unweigerlich deine Entspannungsfähigkeit. Ja, vielleicht hattest du heute einen weniger schönen Arbeitsstart in deiner Praxis: Patient A war sehr unfreundlich, Patient B ist einfach nicht zum Termin gekommen und zu allem Übel hast du gerade eben deinen Einkommenssteuerbescheid vom Finanzamt erhalten. Das war ein ärgerlicher und anstrengender Vormittag. Doch bringt es nichts, über das Vergangene (das Verhalten von Patient A und B) oder das Zukünftige (die Einkommenssteuerzahlung an das Finanzamt) zu grübeln. Genieß das schöne Wetter, genieß in der Sonne ein Eis, das ganz besonders lecker schmeckt. Ja, gerade wegen des blöden Vormittags gönn dir das Eis und lass dich voll und ganz auf den Geschmack der Eissorte ein, spüre die Kühle und Cremigkeit.

Genießen?! – Das macht man nicht!

Wenn es so einfach ist, sich selbst zu entspannen und ein inneres Wohlgefühl zu erzeugen, warum nutzen dann so wenige diese zutiefst menschliche Technik? Warum sind die Muße im Allgemeinen und der Genuss im Besonderen so verpönt? Unsere Gesellschaft von heute ist in vielen Aspekten genussfeindlich. Alles muss immer ganz schnell passieren. Der Takt der Uhr diktiert unseren Rhythmus. Wir werden immer mehr auf Effizienz gedrillt und meinen, besonders effizient zu sein, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig erledigen. Kein Wunder, dass Coffee to go und Fast Food kaum aus unserem Leben wegzudenken sind.

Die Beschleunigung verbietet Langsamkeit – slow motion ist jedoch notwendig, um genussfähig zu sein. Wer sich dem Genuss zuwendet, steht damit vor der Herausforderung, sich bewusst gegen die permanente Hochgeschwindigkeit in Job und Gesellschaft zu entscheiden und sich an einigen Stellen vom Effizienzgedanken zu verabschieden. Erziehung und Sozialisation können – bildlich gesprochen – den Zugang zur Genussfähigkeit verschüttet haben. Wer kennt die von den Bezugspersonen in der Kindheit übernommene, negative Glaubenssätze nicht: „Genuss ist was für Faule!“ oder „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“

Als erwachsener Mensch hast du jedoch immer die Freiheit selbst zu entscheiden, wo du deine individuellen Grenzen im Sinne deiner Bedürfnisse ziehen und welchen Glaubenssätzen und Überzeugungen du (weiterhin) folgen willst.

Genussfähigkeit in der therapeutischen Arbeit und im Coaching

In meiner Arbeit begegne ich regelmäßig sehr gestressten, verängstigten oder erschöpften Menschen. Was die unterschiedlichen Personen verbindet, ist in der Regel ein permanent sehr hohes Anspannungslevel: Das Aktivierungsprogramm des autonomen Nervensystems (Sympathikus) fährt zu schnell zu hoch. Damit befinden sich die Betroffenen mehr oder weniger in einem dauernden Kampf-/Fluchtmodus. Entspanntes Zurücklehnen haben diese Menschen im Realen wie im Übertragenen verlernt. Das wird oft allein schon durch die Sitzhaltung in den Therapie- bzw. Coachingstunden sichtbar.

Gezieltes Genusstraining zur Erhöhung der Genussfähigkeit kann hier sehr hilfreich sein. In diesem euthymen - also stimmungsausgleichenden - Training, das seine Wurzeln in der Verhaltenstherapie hat, kommt es zu einer Wiederbelebung der positiven Gefühle bzw. Daseinszustände, die mit Genuss einhergehen: Freude, Lachen, Wohlgefühl, Glück, Entspannung. Daraus kann sich Begeisterung entwickeln, sodass selbstverstärkend diese genussbringenden Verhaltensweisen wiederholt werden. Es entstehen neue Gewohnheiten zugunsten eines erhöhten Wohlfühlens. Genusstraining beinhaltet

  • eine Anleitung zur Wahrnehmungsdifferenzierung (Was bedeutet für mich Genuss? Was mag ich und was nicht?),
  • zur Aufmerksamkeitsfokussierung,
  • zur Wiederentdeckung der Sinne und
  • zu einer Genuss bejahenden Lebenseinstellung.

Im Sinne des verhaltenstherapeutischen Ansatzes ist das stete Wiederholen und Ausprobieren unumgänglich.

Die Rosinen-Übung...

... ist ein Klassiker unter den Übungen, die man im Genusstraining einsetzen kann: Es ist nicht zwingend erforderlich, mit Rosinen zu arbeiten. Der Zenmeister Edward. E. Brown setzt z.B. gern Chips ein. Ich verwende je nach Gruppe oder im Einzelsetting verschiedene Trockenfrüchte oder auch Schoko-Stückchen. Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Rosine. Die Übung verläuft immer nach demselben Prinzip: Über alle Sinnesorgane erarbeitest du dir äußerst langsam deine Rosine in all ihren Einzelheiten – vom Gefühl, die Rosine in der Hand zu spüren, bis hin zum Zerkauen und Runterschlucken eines Teils der Rosine. Wenn ich diese Übung anleite, dauert das Essen einer Rosine 20 Minuten.

Alternative Übungen

Ein weiterer Klassiker ist das gezielte Ansprechen einzelner Sinneskanäle. Hier kannst du für das Fühlen verschiedene Stoffe bzw. Objekte aus unterschiedlichen Materialien nutzen, für das Riechen mehrere Duftstoffe, für das Schmecken unterschiedliche Getränke. Besonders interessant wird dies übrigens, wenn du mit geschlossenen Augen diese Übung durchführst. Denn allzu oft werden wir visuellen Wesen zu sehr von Optiken vereinnahmt. Übrigens ist es durchaus sinnvoll, nicht nur Angenehmes wahrzunehmen, sondern eben im Sinne der o.g. Wahrnehmungsdifferenzierung auch Unangenehmes genau in den Fokus zu nehmen.

Genussregeln

Im Genusstraining übt der Betroffene, die Aufmerksamkeit auf angenehmes und unangenehmes Erleben auszurichten, zur Schulung der eigenen Unterscheidungsfähigkeit: Was mag ich, was mag ich nicht? Grundlage hierfür sind

  • genussfördernde Gedanken,
  • die (Eigen-) Erlaubnis, hedonistische Aspekte ausleben zu dürfen, und
  • ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstfürsorge als Ergebnis eines ausbalancierten Selbstwertgefühls.

Deshalb können Regeln im Genusstraining unterstützend helfen:

  1. Genuss braucht Zeit.
  2. Genuss braucht Erlaubnis.
  3. Genuss braucht Aufmerksamkeit.
  4. Genuss klappt besonders gut über den Favoriten-Sinn.
  5. Genuss braucht Erfahrung.
  6. Genuss braucht Begrenzung (und Askese) – weniger ist mehr.
  7. Genuss ist alltäglich.

Fazit

Die eigene Genussfähigkeit immer wieder anzusprechen und zu schulen, ist aus meiner Sicht ein erstklassiger Weg, dem Druck und der Beschleunigung der heutigen Zeit einen Gegenpol zu setzen. Den Stress werden wir grundsätzlich nicht abschalten können. Die spannende Frage ist: Was kann ich tun, um aufzutanken und dem Stress kontra zu bieten? Eine ausgeprägte Genussfähigkeit kann hierauf eine durchaus passende Antwort sein.