Wie du Online-Therapie mit mehr Leichtigkeit gestalten kannst
77% der Therapeut*innen haben seit dem ersten Lockdown mit videogestützter Therapie gearbeitet. 95% davon zum ersten Mal. Die Erfahrungen: Viele Kolleg*innen sind neugierig, finden Online-Therapie aber auch anstrengend. Was macht Online-Therapie so schwer? Und wie kannst du es dir leichter machen, wenn du auch künftig damit arbeiten möchtest?
Eine bis dato ungeahnte Begleiterscheinung der Online-Therapie hat in Corona-Zeiten zu einem Boom geführt: Medial vermittelter Kontakt birgt keine Ansteckungsgefahr. Inzwischen haben die meisten Psychotherapeut*innen Erfahrungen mit Online-Therapie gemacht und kennen sich mit den Regularien zur Nutzung sowie mit den Vor- und Nachteilen des Mediums aus. Eine Umfrage des DPtV ergab, dass bisher 77% der Therapeut*innen während der Corona-Krise videogestützte Therapie genutzt haben, davon 95% zum ersten Mal.
Wie beurteilen Psychotherapeut*innen die Eignung von Videokommunikation für psychotherapeutische Zwecke? Die meisten der Befragten halten nach wie vor eine kopräsente Psychotherapie für den Goldstandard. Neue Erfahrungen mit den Videokommunikationssystemen im Internet haben aber auch viele Kolleg*innen auf deren Nutzung neugierig gemacht. Zu dem Ergebnis kommt eine Mitglieder-Befragung der Berliner Psychotherapeutenkammer, nach der 88,5% der psychotherapeutischen Behandler*innen Online-Therapien auch nach Abklingen der Pandemie fortsetzen wollen.
Der psychotherapeutische Alltag verändert sich
Psychotherapie online stellt uns vor Herausforderungen. Was sind die Erfahrungen der Kolleg*innen?
- In videogestützten Therapien können die Emotionen der Patient*innen aufgrund der „Kanalreduktion“ nicht ausreichend wahrgenommen werden. Mit Kanalreduktion ist gemeint: das Videobild ist zweidimensional und ausschnitthaft; Mimik und Gestik sind nur begrenzt wahrnehmbar; Körperkontakt oder die Patient*innen mit allen Sinnen zu erfassen, ist nicht möglich; man sieht sich ohne direkten Blickkontakt an.
- Wie eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung unter den Bedingungen einer medialen Vermittlung hergestellt und aufrechterhalten werden kann, muss gut überlegt werden. Unterbrechungen aufgrund technischer Störungen können die Beziehungsgestaltung negativ beeinflussen.
- Video-Therapie ist anstrengend. Selbst wenn die Technik ihren festen Platz in der Praxis hat, braucht das Umschalten von Face-to-Face auf Video und umgekehrt auch aufgrund der konzentrativen Belastung Zeit und Pausen. Was bei der Videokommunikation fehlt, ist, dass man die Patient*innen schon im Warteraum erlebt und so einen langsamen Einstieg in die Sitzung wählen kann. Im Video sind beide – Therapeut*in und Patient*in – auf Knopfdruck da.
Das sind ernstzunehmende, miteinander in Beziehung stehende Schwierigkeiten, die für alle therapeutischen Schulen Relevanz haben. Wie kannst du mit diesen Tücken gut umgehen?
Technische Störungen gering halten
Unterbrechungen aufgrund technischer Störungen sind für die Beziehungsgestaltung hinderlich, aber leider trotz aller Vorkehrungen nicht immer zu vermeiden. Vor der Videotherapie solltest du überprüfen:
- ob die Kamera eingestellt ist,
- das Mikrofon funktioniert,
- die Lautstärke angemessen hochgefahren ist,
- welche Browser mit dem Videosystem, das du verwendest, kompatibel sind oder ob du noch einen neuen Browser herunterladen musst und
- ob dein WLAN ausreichend für die Bildübertragung ist.
Um trotz technischer Komplikationen im Kontakt bleiben zu können, kann eine Chatfunktion hilfreich sein, sofern der Anbieter sie vorgesehen hat. In jedem Fall empfiehlt sich, die Handynummern oder E-Mail-Adressen mit deinen Patient*innen auszutauschen, um kurzfristig Kontakt aufnehmen zu können, falls es zu Störungen kommt. Deshalb sollte das Mobiltelefon und/oder ein zweites Endgerät am Online-Arbeitsplatz bereit liegen, um eine alternative Kontaktmöglichkeit nutzen zu können. Patient*innen, die du vorher darüber aufgeklärt hast, dass es wichtig ist, einen ungestörten Raum für das Videogespräch zu wählen, sollten auch wissen, dass es nicht empfehlenswert ist, ihren Dienstcomputer für sehr persönliche und private digitale Therapiesitzungen zu nutzen.
Die richtige Platzierung erleichtert die Video-Kommunikation
Wir Therapeut*innen sollten uns auf dem Bildschirm so zeigen, dass nicht nur unser Kopf, sondern auch unsere Schultern, Arme und Hände sichtbar werden. Bitte auch deine Patient*innen, sich auf diese Art vor dem Bildschirm zu platzieren! So könnt ihr auch gestisch und mimisch miteinander kommunizieren. Eine gute Beleuchtung erhöht die Chance, die Mimik besser zu erkennen. Dafür sollte das Licht am besten von vorne kommen.
Videokommunikationssysteme bieten verschiedene Ansichten auf die Gesprächspartner*innen: Manche zeigen das Gegenüber groß und sich selbst oben im Bild als kleine Kachel. Einige zeigen beide Gesprächspartner*innen gleich groß nebeneinander. Keine dieser Darstellungsoptionen entspricht dem, was man im Face-to-Face-Gespräch sieht. Das hat auch Vorteile, denn du siehst anderes und mehr. Wenn du als Therapeut*in auch deinen eigenen mimischen Ausdruck im Bild verfolgen kannst und das nicht als ablenkend oder irritierend wahrnimmst (was zu Beginn noch so sein kann), bietet diese Selbstwahrnehmung die seltene Möglichkeit, den eigenen Ausdruck zu reflektieren und als Anlass für Veränderungen und Adaptation an den Ausdruck der Patient*innen einzusetzen. Das erfordert unbestritten viel Konzentration, bietet aber erstaunliche Möglichkeiten für die Entwicklung von therapeutischer Feinfühligkeit.
Einen behutsamen Einstieg finden
Mit dem Erscheinen der Patient*innen auf dem Bildschirm sind sie gleich da, ähnlich dem Eindruck, wenn ein Scheinwerfer angeht. Es gibt kein „den Mantel ausziehen“, „zunächst die Toilette aufsuchen“, „die Tasche abstellen“ oder „sich eine Sitzgelegenheit in Wartezimmer oder Praxisraum suchen“. Es geht gleich los. Das kann bei Therapeut*innen den Druck erzeugen, sofort in medias res zu gehen und zu den wichtigen Themen zu kommen. Aus der kopräsenten Therapie wissen wir aber, wie entkrampfend Small Talk in Maßen wirken kann. Nur bietet der viereckige Bildausschnitt vor uns relativ wenig Anlass zum Small Talk. Veränderungen am Hintergrund, die auf einen anderen Ort schließen lassen, könnten einen solchen Anlass darstellen. Damit wir keine suggestiven Fragen stellen, ist es im Videokontakt noch wichtiger als im kopräsenten Setting, den Patient*innen den Vortritt beim Gesprächsbeginn zu geben: „Wie haben Sie es heute hinbekommen, das Videogespräch in ihren Alltag einzubauen?“, „Wie fühlen Sie sich heute mit dem Bildschirm und ‚der digitalen Therapeutin‘ vor sich?“, „Was haben Sie erlebt, seitdem wir uns das letzte Mal online gesehen haben?“ oder „Was ging Ihnen nach unserem letzten Gespräch durch den Kopf?“ So kannst du behutsam den Einstieg in die Sitzung finden, auch wenn die Verbindung per Knopfdruck stand.
Das blended Format stärkt die Therapiebeziehung
Im Sinne der Gestaltung einer tragfähigen und belastbaren Beziehungsgestaltung empfiehlt es sich, ein blended Format, d. h. eine geplante Mischung aus kopräsenten und Video-Sitzungen zu wählen. Wenn die ersten Kontakte zur Indikationsstellung und Diagnostik Face-to-Face erfolgt sind, hast du schon ein erstes Verständnis dafür gewonnen, wie deine Patient*innen Emotionen ausdrücken, und kannst diese Erfahrung auf Video-Gespräche übertragen. So gewinnst du aus den im persönlichen Setting gemachten Erfahrungen mehr Sicherheit und kannst dir in den Videositzungen das erlebte emotionale Ausdrucksspektrum deiner Patient*innen „hinzuergänzen“, dessen Fehlen bemerken oder unerwartete emotionale Reaktionen hinterfragen. Nach einer Reihe von Online-Gesprächen kannst du in Face-to-Face-Sitzungen diese Erfahrung immer wieder auffrischen und erweitern und damit die therapeutische Beziehung stärken. Es hat Sinn, nach den wahrgenommenen Unterschieden der beiden Settings zu fragen und dabei auch die Emotionalität anzusprechen, z. B. ist man zurückhaltender oder offener im Videokontakt? Es spricht einiges dafür, dass der exklusive, nur auf das Abbild zweier Personen begrenzte Raum auf dem Bildschirm die Offenheit erleichtert. Schnellere Selbstöffnung erfordert auf Seiten der Psychotherapeut*innen aber auch die Fähigkeit, auf das Präsentierte direkt zu reagieren und es feinfühlig aufzufangen.
Wichtig ist – aus meiner Sicht –, dass die Entscheidung für das digitale oder kopräsente Format, nicht nur aus Praktikabilitätsgründen der Patient*innen und Therapeut*innen getroffen wird, sondern dass Therapeut*innen – wann immer möglich – bei der Entscheidung den Zustand der therapeutischen Beziehung zum Maßstab machen. Das hat zur Folge, dass in Videositzungen viel mehr nachgefragt werden muss, wie sicher und angenommen sich Patient*innen im Gespräch fühlen. Die Aufmerksamkeit für Störungen in der therapeutischen Beziehung muss bei der Videokommunikation erhöht sein. Das blended Format erleichtert die Video-Kommunikation, aber stellt hohe Anforderungen an die konzentrative Belastung.
Selbstfürsorglich mit der konzentrativen Belastung umgehen
Nach meiner Erfahrung sind mehr als drei Video-Sitzungen am Tag nicht zu schaffen. Neben der konzentrativen Belastung sind unsere Sinnesorgane, besonders die Augen, Strapazen ausgesetzt. Je kleiner das Endgerät und dessen Bildschirm ist, umso anstrengender wird das Gespräch. Eine bequeme Sitzposition muss möglich sein. Um auf dem Bildschirm alles mitzubekommen, kann es sein, dass man sich leicht verkrampft. Ein Stehpult zu nutzen oder sich den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass du dich während der Arbeit gut bewegen kannst, wirkt Verspannungen entgegen.
Zehn-Minuten-Pausen, wie wir sie gewöhnt sind, reichen nach einem Online-Gespräch nicht. Eine halbe Stunde Regeneration ist schon notwendig, bevor die Arbeit gut weitergehen kann. So kommen die Zeiten vor der Mittagspause oder vor Arbeitsende am ehesten für Videogespräche in Frage.
Es hilft außerdem, wenn dein Arbeitsplatz gut ausgestattet mit Laptop, eventuell Headset, Beleuchtung und Sitz- oder Stehgelegenheit seinen festen Ort in der Praxis hat und dort auch bleibt. Sonst vergeht Zeit mit der Vorbereitung der Technik, die du sonst zur Entspannung oder inhaltlichen Vorbereitung nutzen kannst.
Dein Angebot wird sinnvoll erweitert
Nach Corona wird nicht gleich nur noch online therapiert – und das ist auch gut so. Aber unser therapeutisches Angebot wird um eine sinnvolle Anwendung erweitert, denn du kannst deine Therapien so flexibilisieren und intensivieren. Du kannst online deinen Patient*innen zur Verfügung stehen, wenn sie aus Krankheitsgründen, Umzügen oder beruflich oder privat bedingten Abwesenheiten nicht in die Praxis kommen können. Damit kannst du auch die Patient*innen erreichen, die sonst keinen Zugang zu therapeutischen Angeboten haben.
Wenn du herausfindest, wie du mit den zusätzlichen Erschwernissen umgehen kannst und es dir etwas leichter machst, kann videogestützte Therapie eine Bereicherung deiner Arbeit sein.