Übertragung & Gegenübertragung: Psychoanalyse praxisnah erklärt
Die Patientin kommt zu spät, lässt sich nicht auf die Therapiestunde ein und reagiert trotzig. Am liebsten möchtest du sie auf den Mond schießen? Dahinter stecken vielleicht frühe Kindheitserfahrungen, die in eurer Therapie re-inszeniert werden. Wie du Übertragung und Gegenübertragung für den Therapieprozess nutzen kannst, erklärt dir unsere Autorin und Psychotherapeutin Yasemin Soytas.
Puh, was für eine Stunde!, denke ich erleichtert als die Patientin aus der Tür ist und lasse mich in meinen Sessel fallen. Noch bis eben hatte ich mit einem Therapieabbruch gerechnet und nun so eine wichtige Stunde, ein Durchbruch, wie es die Patientin selbst benennt. Nichts hatte Miriam in den letzten Wochen unversucht gelassen, mich gegen sie aufzubringen. Und fast hätte sie es auch geschafft. Zwischendurch hätte ich sie auf den Mond schießen können!
Der ersten Sitzung nach meinem Sommerurlaub blieb sie ohne Erklärung fern. Zu jeder weiteren kam sie zu spät und statt einer Entschuldigung erntete ich ein arrogantes Schulterzucken oder eine abfällige Bemerkung über meine Kleinlichkeit. War sie schließlich da, schwieg sie die meiste Zeit oder tat so, als sei ich diejenige, die etwas von ihr wollte und nicht umgekehrt. Egal was ich ihr anbot: wie bei einem trotzigen Kind war alles verkehrt, auf nichts ließ sie sich ein.
Nach dem Urlaub war ihr Verhalten fremd
Rückblickend kann ich nur staunen, wie gekonnt sie mich in Not brachte. Am schwierigsten auszuhalten war meine Hilflosigkeit. Ich bekam keinen Kontakt zu ihr und wiederholt fragte ich mich, ob die gute therapeutische Beziehung, die wir bis zu meinem Urlaub hatten, bloße Einbildung gewesen war.
Seit einem halben Jahr kommt Miriam zu mir, seit kurzem zwei Mal die Woche und die Therapie hat sich positiv entwickelt. Wir sprechen über die Enttäuschungen in ihren bisherigen Liebesbeziehungen und davon, dass sie sich von anderen oft abgelehnt fühlt. Manchmal erzählt sie von ihren Eltern, die sie mehrmals die Woche besucht und von ihrer normalen Kindheit. Miriam ist fast 30, kinderlos und fühlt sich in ihrem Job wenig wertgeschätzt. Trotzdem präsentiert sie sich mir stets heiter, unkompliziert und anspruchslos. Und so war auch unser bisheriger Kontakt. Umso heftiger und fremder war ihr Verhalten nach meinem Urlaub.
Was hat mit mir und was mit der Patientin zu tun?
Heute war ich innerlich gewappnet. Ich hatte mich intensiv mit dem Geschehen auseinander gesetzt, hatte meine Gefühle reflektiert und mich gefragt, warum ich abwechselnd hilflos, wütend oder bemüht bin. Wichtig war mir, zu unterscheiden, was mit mir selbst und was mit der Patientin zu tun haben könnte. In dieser Stunde bemühte ich mich weniger um sie und hielt stattdessen Miriams demonstratives Schweigen vorerst aus.
Irgendwann fragte ich sie, ob sie wütend auf mich sei. Keine Antwort. Schließlich offenbarte ich ihr, dass ich den Eindruck habe, den Kontakt zu ihr zu verlieren und fragte, ob sie dieses Gefühl auch kenne. Wieder keine Antwort. Dann Tränen. Die bis dahin starre Mimik löste sich auf, wurde weich und schließlich begann Miriam zu erzählen. Von ihrer Mutter und davon, nicht gewollt zu sein. Wie diese sie eigentlich habe abtreiben wollen, was sie jedoch wegen der streng religiösen Eltern nicht getan habe. Vom Wunsch der Mutter, Medizin zu studieren und dem Vorwurf, die Schwangerschaft habe diesen Traum zerstört. Seit Miriam denken könne, fühle sie sich der Mutter gegenüber schuldig und von ihr abgelehnt. Bis heute wünsche sie sich, ihre Liebe zu gewinnen.
Der Beziehungskonflikt zur Mutter wiederholt sich
Lange weint sie. Ich warte und lasse es wirken, merke, wie sie mir wieder näher wird. Nach dem Weinen wirkt Miriam wie ein verletztes Kind. Das berührt mich.
Als Erstes gelingt es uns, einen Zusammenhang zwischen den häufigen Besuchen bei den Eltern und ihrer Liebessehnsucht herzustellen. Miriam erkennt, dass es die Hoffnung auf Zuneigung ist, die sie stets zu den Eltern fahren lässt.
Ich möchte wissen, ob sie sich auch von mir abgelehnt fühlt und nach anfänglichem Zögern gesteht sie, dass sie sich durch meinen Urlaub verlassen gefühlt habe. Sie wisse, dass das eigentlich Quatsch sei, doch je länger meine Abwesenheit angehalten habe, desto stärker sei die Überzeugung gereift, von mir nicht gewollt zu sein. Das habe sie kaum aushalten können.
Schließlich erkennt Miriam selbst, dass es hier eine Parallele zu ihrem Verhältnis zur Mutter gibt und dass sie uns diese Beziehungsdynamik quasi übergestülpt hat. Ein chronischer, ungelöster Beziehungskonflikt zwischen ihr und der Mutter wurde unbewusst zur Wiederholung gebracht und hier in der therapeutischen Beziehung in Szene gesetzt. Es wird klar, dass ihr Erleben meiner Abwesenheit mit der eigenen Lebensgeschichte und den prägenden, schmerzhaften Erfahrungen der Ablehnung zu tun hat. In der Psychoanalyse sprechen wir hierbei von einer Re-Inszenierung und dabei spielen Übertragung und Gegenübertragung wichtige Rollen.
Beziehungserfahrungen kommen zum Vorschein
Die Übertragung ist ein zentrales psychoanalytisches Konzept, das nicht nur in analytischen Behandlungen, sondern auch außerhalb von Therapien auftritt. In den psychodynamischen Therapien macht man sich diese zunutze, denn durch ein Übertragungsgeschehen werden früh prägende, jedoch meist unbewusste Gefühle, Fantasien, Gedanken und Wahrnehmungen mit Menschen aus der Gegenwart neu belebt und wiederholt.
So wie Miriam, die sich durch ihre Mutter abgelehnt und nicht gewollt fühlte und dieses Erleben auf unsere therapeutische Beziehung übertragen hat. Mein Urlaub war nur der Auslöser, der dies zum Vorschein brachte. Mit ziemlicher Sicherheit haben auch ihre anderen Liebesenttäuschungen damit zu tun. Miriam wiederholt unbewusst, was sie als Kind erlebt hat. Aus der Neuropsychologie wissen wir, wie prägend erste Beziehungserfahrungen sind, im Guten wie im Schlechten. Gerade in langen Behandlungen kommt dies irgendwann zum Vorschein - und hier liegt auch das größte Potential zur Veränderung.
Gegenübertragung: die Antwort auf die Übertragung des Patienten
Da Psychotherapie keine Einbahnstraße ist, gibt es auch das Pendant: die Gegenübertragung. Diese spielt eine ebenso wichtige Rolle in den Therapien, denn so lassen sich Hinweise auf die unbewussten Prozesse des Patienten finden. Sie ist eine Art Antwort auf die Übertragung eines Patienten. Ich lasse bewusst Fantasien, Impulse, Gefühle in mir entstehen, die ich dann reflektiere, um damit zu arbeiten. So entsprachen die Hilflosigkeit und Ablehnung, die ich stellvertretend für die Patientin erlebte, als auch die Sorge vor dem Verlassenwerden (Therapieabbruch) den abgewehrten Gefühlen von Miriam. Das nennt man Konkordate Gegenübertragung: ich war also mit dem Erleben der Patientin identifiziert. Die Patientin selbst spürte in unserem Kontakt hauptsächlich Wut und den Wunsch, mich für meine Abwesenheit zu bestrafen.
Daneben gab es eine komplementäre Gegenübertragung. Indem ich sie loswerden (auf den Mond schießen) wollte und wütend auf sie wurde, war ich mit der inneren Mutter von Miriam identifiziert.
Es ist wichtig, sich selbst gut zu kennen
Vielleicht wird spätestens an diesem Punkt deutlich, warum es so wichtig ist, sich selbst sehr gut zu kennen und genau zu reflektieren, wohin welches Gefühl gehört. Schließlich wollte ich Miriam nichts Eigenes überstülpen. Nicht zuletzt ist dies ein Grund, warum eine lange Selbsterfahrung Bestandteil der psychoanalytischen Ausbildung ist. Heute hilft mir dabei das Gespräch mit Kollegen oder der innere Rückzug wie ich ihn z.B. beim Schwimmen erlebe.
Wäre es nicht gelungen, die Dynamik innerhalb der Therapie gemeinsam als Übertragungsgeschehen und damit als unvermeidbar und letztlich hilfreich zu verstehen, hätte Miriam wahrscheinlich eine weitere Beziehungsenttäuschung erlebt. Es wäre zu einem weiteren Beziehungsabbruch gekommen und sie hätte sich erneut abgelehnt gefühlt.
Re-Inszenierung als Bestandteil der Therapie
Der Vorteil der psychodynamischen Methodik ist, dass diese Re-Inszenierungen Bestandteil der Therapie sind und dass wir lernen, damit zu arbeiten statt sie als störend abzutun. Ich selbst beobachte dadurch ganz basale Veränderungen im Selbst- und Beziehungserleben von Patienten. Zuerst machen sie mit mir, also innerhalb der therapeutischen Beziehung andere, korrigierende Erfahrungen, die dann nach und nach ins Außen übertragen werden. Mit der Zeit erkennen die Patienten Situationen, in denen sie Negatives auf andere übertragen und können dies irgendwann selbst korrigieren. Das dauert mitunter recht lang und manchmal knirscht es auch. Dafür berichten fast alle Patienten am Ende der Therapie von einem neuen, positiveren und stabileren Lebensgefühl.
Am Ende der Stunde erlebte ich Miriam so nah und authentisch wie nie. Zwar traurig und sehr berührt von den Gefühlen, die nun offen waren, aber auch erleichtert. Statt abgelehnt zu werden, spürte sie mein emphatisches Mitfühlen und meine Anerkennung für ihren Mut, sich ihren schmerzhaften Gefühlen zu stellen. Auf geht’s!