Soteria – Schizophrenie und Psychosen milieutherapeutisch behandeln

Schizophrenie galt früher als unheilbar: immer wieder geschlossene Unterbringung, starke Neuroleptika und viele Nebenwirkungen. Ein Schweizer Psychiater erkannte: hinter der Psychose stecken vor allem heftige Gefühle, die es herunterzufahren gilt. Aber wie kann ein Milieu geschaffen werden, in dem eine tiefe Entspannung erreicht werden kann? Unsere Autorin Rita Orth-Franke stellt dir vor, wie Psychosen milieutherapeutisch behandelt werden können.

Stell dir vor, du hättest einen Patienten, der akut psychotisch an Schizophrenie erkrankt ist. Du musst ihn in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen oder siehst dich genötigt für eine Einweisung Sorge zu tragen. Stell dir vor, du hättest die Wahl zwischen einer herkömmlichen psychiatrischen Klinik oder einer Klinik mit Soteria-Konzept. Wie würdest du dich entscheiden?

Was ist denn überhaupt Soteria, wirst du dich jetzt vielleicht fragen.
Soteria ist griechisch und bedeutet Wohl, Heilung, Bewahrung, Rettung. Eine Soteria-Klinik ist eine Klinik mit einem speziellen Behandlungsansatz für Menschen in psychotischen Krisen. Die herkömmliche Psychiatrie ist oft eine sogenannte „Drehtür“-Psychiatrie. Wenn Patienten ihre Medikamente absetzen, dauert es nicht lange, bis sie wieder stationär behandelt werden müssen, zum Teil mit richterlichem Beschluss auf geschlossenen Stationen.

In einer Soteria ist dies insofern anders, als dass frühere Patienten ihre Medikamente (falls nötig) durchweg ohne Absetzen zuverlässig weiter nehmen, weiterhin in therapeutischer Behandlung bleiben und zum Teil auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen können. Schizophrenie galt lange Zeit als unheilbar. Das Soteria-Konzept ist mit dem milieutherapeutischen Ansatz in der Behandlung von Schizophrenie sehr erfolgreich. Woran liegt das?

Affektlogik

Zentral für das Verständnis von Psychose ist der vom schweizer Psychiater Luc Ciompi geprägte Begriff der Affektlogik. Er verwendet ungern den Begriff „Schizophrenie“, da dieser „Spaltungs-Irresein“ bedeutet. Psychose ist hingegen ein verändertes psychisches Funktionieren. Ein veränderter Bewusstseinszustand. Affektlogik ist ein paradoxer Begriff. Fühlen und Denken gehören immer zusammen. Es gibt kein reines Denken und kein reines Fühlen, sondern eine Wechselwirkung von beidem. Hinter der Psychose stecken ganz heftige Gefühle, vor allem Angst, Wut, tiefe Trauer. Es geht darum, diese Emotionen herunterzufahren und ein Milieu zu schaffen, in dem eine tiefe Entspannung erreicht werden kann.

Früher gab es in großen Kliniken stattdessen unruhige Abteilungen, die eher psychoseerhöhend waren mit großen Dosen von Neuroleptika, körperlichen Nebenwirkungen und als Folge zombiehaften Zuständen. Je mehr Luc Ciompi das Psychoseproblem verstanden hatte, desto mehr wusste er, dass es besser geht.

Tipp: Ein sehr informatives Interview mit Luc Ciompi und der Filmemacherin Leila Kühni über den Werdegang und den zentralen Begriff der Affektlogik sowie das Faszinosum der Schizophrenie findest du hier:

Schizophrenie milieutherapeutisch behandeln

Das Soteria-Konzept sieht folgende Kriterien vor:

1. Setting

Klein, gemeindezentriert, offen, freiwillig, heimartig, nicht mehr als 10 Betten inkl. zwei Staff-Mitglieder (ein Mann und eine Frau), die mit Vorteil in 24-48-Std-Schichten arbeiten, um die nötige langfristige intensive 1:1-Betreuung zu gewährleisten.

2. Soziales Umfeld

Respektvoll, zuverlässig, klar, voraussagbar, Obdach, Sicherheit und Schutz gewährend, haltend, mit individuell abgestimmter Stimuluskontrolle, Stützung und Sozialisation. Soll mit der Zeit als Ersatzfamilie erlebt werden können.

3. Soziale Struktur

Erhaltung von persönlicher Entscheidungsfreiheit und Autonomie zwecks Vermeidung der Entwicklung von unnötiger Abhängigkeit. Förderung von gegenseitigen Beziehungen. Minimale Rollendifferenzierung zwischen Staff und Klienten zwecks Förderung von Rollenflexibilität, Beziehung und Kontakt, gemeinsame Erledigungen von täglichen Hausaktivitäten wie Kochen, Putzen, Einkaufen, Musizieren, künstlerische Betätigung, Ausflüge etc. zwecks Aufrechterhaltung des Bezugs zum Alltagsleben.

4. Betreuerteam

Eventuell psychiatrisch geschulte Berufsleute, speziell geschulte und ausgewählte Laien, ehemalige Klienten, die in frühere Behandlungsprogramme einbezogen waren, oder eine Kombination dieser drei Kategorien. Berufsbegleitende Ausbildung durch Supervision der Arbeit mit Klienten und Familien sollte bei Bedarf für sämtliche Betreuer verfügbar sein.

5. Zwischenmenschliche Beziehungen

Beziehungen haben eine zentrale Bedeutung für das Gelingen des Programms und werden erleichtert durch ideologisch nicht festgelegte Betreuer, die der Psychose mit offenem Geist gegenüberstehen, positive Verlaufserwartungen vermitteln, das subjektive psychotische Erleben im Licht des Verständnisses, das sich durch „Mitsein“ und „Mittun“ mit den Klienten entwickelt, als real bewerten. Keinerlei psychiatrischer Jargon soll im Umgang mit Klienten gebraucht werden.

6. Therapie

Sämtliche Aktivitäten werden als potentiell „therapeutisch“ eingestuft. Keine formellen Therapiesitzungen mit Ausnahme von Familieninterventionen. Hausinterne Probleme sollen im gemeinsamen Gespräch mit allen Beteiligten sofort angegangen werden.

7. Medikamente

Keine oder nur niedrig dosierte neuroleptische Medikation zwecks Vermeidung von akuten Dämpfungseffekten mit Unterdrückung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit. Zugleich Vermeidung von langfristig toxischen Wirkungen. Benzodiazepine können kurzfristig zur Harmonisierung des Schlaf-Wachrhythmus eingesetzt werden.

8. Aufenthaltsdauer

Soll genügend lang sein, so dass Beziehungen entwickelt, auslösende Ereignisse erkannt, versteckte schmerzliche Gefühle erlebt, ausgedrückt und in der Kontinuität der persönlichen Lebensgeschichte eingeordnet werden können.

9. Nachbetreuung

Die Patienten sollen zu persönlichen Beziehungen mit Betreuern und Klienten nach der Entlassung ermutigt werden, um (wenn nötig) die Rückkehr ins normale Leben zu erleichtern und die Entwicklung von Netzwerken von Gleichgestellten mit Problemlösungspotentialen in der Gemeinschaft zu fördern. Die Verfügbarkeit von Netzwerken, welche die Integration von Klienten und des Programms selber in die Gemeinschaft befördern, ist von kritischer Bedeutung für den langfristigen Ausgang.

In diesem Zusammenhang ist auch die Angehörigenarbeit von großer Wichtigkeit!

Es gibt z.B. den Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V.  Hier kannst du kostenlos sehr informative Broschüren bestellen, die Angehörigen mehr Verständnis für an Schizophrenie erkrankten Partnern oder auch Arbeitskollegen vermitteln können.

Tipp: Auf der Website der IAS findest du drei sehr aufschlussreiche, interessante und informative Videoclips, mit denen du hautnah erleben kannst, wie in der Soteria Bern gearbeitet wird und worum es dabei geht.

Entstehung des Soteria-Gedankens

Der amerikanische Psychiater Loren Mosher gründete 1971 die erste Soteria-Klinik in Kalifornien. Diese musste aber nach 12 Jahren aufgrund der Einstellung staatlicher Hilfen geschlossen werden. Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi gründete in Anlehnung an die Soteria in Kalifornien 1984 die Soteria Bern, die bis heute besteht. Zuvor hatte er 17 Jahre in einer normalen psychiatrischen Klinik gearbeitet.

In Deutschland entstanden Soteria-Projekte bisher ausschließlich in Trägerschaft psychiatrischer Kliniken: z.B. 1999 am Münsterklinikum in Zwiefalten, 2003 am Klinikum München-Ost und 2013 in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité in Berlin.

Mittlerweile können vorhandene Soteria-Kliniken nur noch Patienten aus ihrem direkten Umkreis aufnehmen – so sehr gefragt ist diese Art von Klinik.

Auch Soteria ist kein Allheilmittel

Auch in Soteria-Kliniken gibt es Rezidive und ehemalige Patienten, die mit der Behandlung nicht zurechtgekommen sind oder eine beschützende Station in einer geschlossenen Abteilung brauchen, also zurückverlegt werden müssen.

Es gilt die Regel: Ein Drittel geheilt, ein Drittel gebessert (mit Rezidiven), ein Drittel chronisch.

Vergleichende Untersuchungen der Soteria Bern haben ergeben, dass mit dem Soteria-Konzept trotz viel geringerer Medikamentengabe objektiv gleich gute und subjektiv zum Teil bessere Behandlungserfolge erzielt werden können als mit herkömmlicher Psychosebehandlung. Zudem war die Psychosebehandlung in der Soteria Bern in den letzten Jahren konstant um 10 bis 20% billiger als in vergleichbaren traditionellen psychiatrischen Instituten. Dies hängt damit zusammen, dass sämtliche Hausarbeiten wie Kochen, Einkaufen, Putzen, Gartenarbeiten etc. in der Soteria milieutherapeutisch eingesetzt, d.h. ohne zusätzliches Personal, von den Patienten und Betreuern selber geleistet werden.

Luc Ciompi hatte seiner Zeit eine Stiftung von einer Million Franken und eine kleine Villa mit Garten bekommen. Eine ehemalige Pension Garni mit 12 Zimmern. Heute muss ein Extrabudget von einer Krankenkasse beigesteuert werden. Voraussetzung ist außerdem der Anschluss an ein psychiatrisches Krankenhaus. Wie mittlerweile auch in Gangelt, Reichenau, Zwiefalten. In Bayern gibt es seit 2003 „das Haus im Park“, angegliedert an die psychiatrische Abteilung des Klinikums München Ost, mit inzwischen 2 Stationen mit je 12 Plätzen.

Um auf die oben gestellte Frage zurückzukommen: Würdest du deinen Patienten lieber in eine normale Klinik oder in eine mit Soteria-Konzept einweisen wollen?

Für mich persönlich entspricht die Art der Soteria-Behandlung meinen Vorstellungen und Werten, wie mit psychisch kranken Menschen umgegangen werden möge. Wenn wir uns das nicht nur vorstellen wollen, dann können wir handeln. Wir können uns als Gleichgesinnte zusammentun und uns dafür einsetzen, dass mehr Soterias entstehen. Daher ist es mein Anliegen, das Soteria-Konzept bekannter zu machen.

Mehr Informationen erhältst du beim Soteria-Netzwerk IAS