Trotz Psychose ins Berufsleben? Wie psychisch schwer kranke Menschen rehabilitiert werden können

Ein Rehabilitationskonzept eröffnet schwer psychisch kranken Menschen den Weg in eine qualifizierte Beschäftigung.

Junge Leute, die an schweren Persönlichkeitsstörungen, starken Depressionen oder Schizophrenie leiden, finden den Einstieg ins Berufsleben nur schwer, im schlimmsten Fall gar nicht. Ihre Aussicht auf Erfolg, Arbeit und Selbstständigkeit ist somit sehr begrenzt. Der Psychologe und Vizepräsident des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP), Michael Ziegelmayer, ist seit über zehn Jahren in Baden-Württemberg in einer Reha-Einrichtung tätig, die sich genau dieser Gruppe von Menschen widmet. Die Einrichtung arbeitet nach dem sogenannten RPK-Konzept (Rehabilitation psychisch Kranker): Im Verlauf von zwei Jahren findet zunächst eine medizinische, danach im zweiten Jahr eine berufliche Rehabilitation statt.

Den Krankheitsprozess reflektieren

Unter den vielen Rehabilitanden, an die der Psychologe sich erinnert, ist ein junger Mann mit Abitur und Hochschulerfahrung. Kevin Mertens (Name geändert) hatte eine massive Psychose entwickelt, die eine Fortsetzung seines begonnenen Studiums oder gar eine akademische Laufbahn danach völlig unmöglich machte. Er wurde letztlich unter dramatischen Umständen in eine Klinik eingewiesen und nachfolgend in der Reha-Einrichtung  aufgenommen, in der Michael Ziegelmayer arbeitet. „Er machte bei uns gute Fortschritte und war zunehmend in der Lage, seinen Krankheitsprozess zu reflektieren“, berichtet Ziegelmayer. Diese Fähigkeit zu erlangen, sei Teil der medizinischen Reha.

Den Alltag bewältigen

Es gehe darum, Alltagsbewältigung zu schaffen. Die Rehabilitanden müssen in der Lage sein, regelmäßig rechtzeitig aufzustehen, pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen, den Weg dahin zu bewältigen und dann auch noch sieben oder acht Stunden am Arbeitsplatz durchzuhalten. Bereits in dieser Phase gibt es ein Arbeitstherapieangebot, das dazu dient, den Tag zu strukturieren und konkrete praktische Erfahrungen zu machen, etwa im Umgang mit Materialien wie Holz, Metall oder Stoff. Vier verschiedene Werkstätten unterhält die Einrichtung zu diesem Zweck. In Kevin Mertens reifte in der Arbeitstherapie der Wunsch, später in einer Schreinerei zu arbeiten. „Tatsächlich konnten wir für ihn einen Praktikumsplatz finden. Er erwies sich dort als engagiert und begabt, sodass er in die Ausbildung übernommen wurde und sie inzwischen nahezu abgeschlossen hat.“ Solche Fälle gibt es nicht in Serie, aber rund 70 Prozent der Rehabilitanden schaffen den Weg in eine qualifizierte berufliche Beschäftigung. Wer in welchem Maße am Ende erfolgreich sein wird, kann zu Beginn niemand sagen.

Einfluss des Alters

Ob eine stationäre Reha nach dem RPK-Konzept überhaupt genehmigt wird, hängt wesentlich von der Schwere der Erkrankung ab. Auch das Alter kann eine Rolle spielen, denn bei 40-Jährigen und noch Älteren sind die Chancen auf Erfolg deutlich niedriger, da sie zum Teil schon 15 bis 20 Jahre lang zwischen verschiedenen Jobs, Arbeitslosigkeit und Klinikaufenthalten gependelt sind. Eine stabile Lebensführung und die notwendige dauerhafte Belastbarkeit sind für diese Menschen auch mit Hilfe der Reha nur schwer erreichbar. Zudem liegt häufig bereits eine Chronifizierung der Erkrankung vor.

Relevanz für die Gesellschaft

Alleine die Tatsache, dass ein Mensch mit einer schweren psychischen Erkrankung eine stabile Beschäftigung und damit eine stabile Alltagsstruktur erreicht, auch wenn dies beispielsweise in einer Werkstatt für Behinderte oder in einem Integrationsunternehmen ohne volle berufliche Leistung erfolgt, bedeutet in der Regel einen enormen Gewinn für die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl der Betroffenen. Es ist aber auch relevant für die Gesellschaft, betont der Psychologe, denn im Vergleich mit den Kosten für stationäre Krankenhausaufenthalte und ärztliche Behandlungen ist die berufliche Rehabilitation eine finanzielle Entlastung.

Neigung und Talent

Um Erfolge wie bei Kevin Mertens oder ähnliche zu erreichen, sieht das RPK-Konzept vor, in der beruflichen Reha sehr genau darauf zu schauen, bei welchen Aufgaben jemand Neigung oder Talent zeigt und wohin er passen würde. Das verlangt von den Beschäftigten der Einrichtung über ihre fachliche Qualifikation hinaus gute Kenntnisse der Arbeitswelt und ihrer sich ständig verändernden Anforderungen.

Unterstützte Beschäftigung

Die Kostenträger, beklagt Ziegelmayer, drängen oft auf kürzere Therapieverläufe. „Das ist für diese Gruppe von Rehabilitanden selten realistisch.“ Aussichtsreicher sei da schon die Suche nach ambulanten Konzepten, die es für weniger schwer Erkrankte schon lange gibt, die nun aber auch für Menschen angewandt werden sollen, die bisher eher stationär behandelt wurden.  Zu diesen neueren Entwicklungen gehört die sogenannte unterstützte Beschäftigung. „Das ist eine ambulante Maßnahme, bei der den Rehabilitanden ein Job-Coach an die Seite gestellt wird. Sie wohnen zu Hause und haben dort ihren normalen Alltag. Bei der Suche nach einem Praktikumsplatz bzw. später im Verlauf des Praktikums werden sie vom Coach begleitet. Ziel ist die Übernahme in eine Voll- oder Teilzeitbeschäftigung.“

Erfolg differenziert betrachten

Die Anforderungen in diesem Berufsfeld für Psychologen beschreibt Ziegelmayer als relativ hoch. Es werde eine Kombination von klinischer Psychologie und Arbeits- und Organisationspsychologie gebraucht, über die nur wenige verfügen. Psychologische Psychotherapeuten müssen sich in derart spezialisierten Einrichtungen den in der Regel schweren Erkrankungen, wie etwa Psychosen, stellen. Auch dazu seien, so Ziegelmayer, nicht alle bereit und in der Lage. Und schließlich seien Kenntnisse der Arbeitswelt und ein gewisses Verhandlungsgeschick zum Beispiel mit Kostenträgern und Unternehmen unverzichtbar. Nach einem Traumjob klingt das nicht unbedingt. Ziegelmayer widerspricht: „Für mich besteht der Erfolg darin, die Rehabilitanden bis an die Schwelle des Berufslebens gebracht zu haben. Ich habe bei dieser Arbeit gelernt, Erfolg sehr differenziert zu betrachten. Der Begriff gehört nicht nur den sogenannten  ‚Leistungsträgern’ unserer Gesellschaft zugeordnet.“