Einem Studenten droht die Exmatrikulation – Ein psychotherapeutisches Fallbeispiel

Ein junger Erwachsener droht aus dem Studium zu fliegen. Er prokrastiniert viel, die Kriterien für eine Angststörung oder Depression erfüllt er nicht. Stattdessen will er einen Nachweis, damit er seine Prüfung verschieben kann. Hat er eine wirkliche Therapiemotivation? Und was macht man da als Therapeutin? Unsere Autorin Claudia Rockstroh berichtet in ihrem neusten Fallbeispiel über unvorhersehbare Prognosen und Vertrauen in Vorkasse.

Herr B. (28 Jahre; Student) betrat sehr unsicher unsere psychotherapeutische Praxis. Angekündigt hatte er sich per Mail mit Prüfungsängsten. Nun berichtete er, dass er kurz vor der Exmatrikulation stehe, wenn er nicht bald die letzten Prüfungsleistungen und seine Masterarbeit abliefere.

Er schilderte, dass er bereits ein Studium hatte abbrechen müssen. Damals habe er es einfach nicht gepackt, zur Prüfung zu gehen, und sei lieber durchgefallen, statt zu lernen. Nun wolle er nicht, dass dies noch einmal passiere. Auf Nachfrage gestand er schon fast, dass er bereits ein Schreiben vom Immatrikulationsamt erhalten habe, mit der Aufforderung, seine Lage zu erläutern sowie einer Frist, bis wann er seine letzten Prüfungsleistungen noch erbringen dürfe. Erst dieses Schreiben hatte ihn bewegt, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben.

Prokrastinieren und bulimie-artiges Lernen

Die Diagnostik ergab schnell, dass es sich bei Herrn B. nicht um eine Prüfungsangst im eigentlichen Sinn handelte. Er habe keine panikähnlichen Zustände während einer Prüfung oder kurz davor, keine Black-Outs oder schlechte Erfahrungen mit unfreundlichen Prüfern. Viel mehr waren seine Ängste, zur Prüfung zu gehen, berechtigt, denn er schob das Lernen einfach so lange auf, bis der Tag der Prüfung gekommen war. In der Vergangenheit habe er dann „bulimie-artig“ in einer Nacht alles in sich rein gelernt und am nächsten Tag irgendwie bestanden. Auch seine Bachelorarbeit hatte er innerhalb von 2 Tagen komplett geschrieben. Bisher habe diese Strategie wunderbar funktioniert, nun sei er aber beim zweiten Versuch der letzten mündlichen Prüfung durchgefallen. Ein dritter Versuch war ihm in einem engen Zeitraum von 3 Monaten gewährt worden, wenn er einen Nachweis über seine Erkrankung erbrächte. Also eine fragliche Motivation für die Psychotherapie?

Ich erklärte ihm, was es mit Prokrastination auf sich habe, und dass auch Ängste eine Rolle dabei spielten, jedoch nicht in Form einer klassischen Phobie. Herr B. wirkte fast erleichtert und sehr interessiert an Ursachen und Auslösern. Gleichzeitig drängte die Zeit, denn in 3 Monaten sollte er eine mündliche Prüfung absolvieren und bestehen.

Lernen verstärken

Wir einigten uns darauf, dass wir zunächst einen Lern- und Verstärkerplan aufstellen und uns später mit Ursachen und Auslösern beschäftigen würden. Schnell zeigte sich, dass Herr B. ungünstige Lernstrategien verfolgte, indem er von sich erwartete, 8 Stunden pro Tag hochkonzentriert lernen zu können. Wir einigten uns erst einmal auf 2 Stunden Neues lernen und 2 Stunden rekapitulieren. Herrn B. erschien dies zunächst zu wenig und ich musste ihm versprechen, dass er mehr lernen dürfe, wenn er unsere Absprache einhielte. Er merkte dann aber schnell, dass die 4 Stunden schwer für ihn durchzuführen waren. Immer wieder neigte er dazu, sich angenehmen Aktivitäten zu widmen und das Lernen aufzuschieben. Unser Verstärkerplan sah vor, dass er Punkte fürs Lernen sammelte und Punkte verlor, wenn er es aufschob. Bei einem negativen Kontostand entzog ich ihm Therapiezeit, indem er im Wartezimmer lernen musste, anstatt mit mir über Ursachen und Auslöser zu sprechen. Diese letzte Konsequenz zog schließlich. In mir stiegen Zweifel auf, ob es wirklich günstig ist, Patienten Therapiezeit zu entziehen?

Die Probeprüfung

Vor seiner mündlichen Prüfung bat ich Herrn B., den prüfenden Professor anzusprechen und um eine Probeprüfung zu bitten. Der Professor gewährte meinem Patienten diesen Wunsch. Und dafür bin ich diesem unbekannten Professor unendlich dankbar. Er prüfte Herrn B. zur Probe, besprach mit ihm, was er verbessern musste und gab ihm eine Woche später den richtigen Termin. Wir übten auch noch einmal und dann erreichte mich eine erlösende E-Mail: „Ich hab‘ bestanden, Frau Rockstroh! Ich fahr‘ jetzt erst einmal für 6 Wochen in den Urlaub“. Erneute Zweifel packten mich: Wird Herr B. zurück in die Psychotherapie kommen und sein Problem langfristig anpacken oder war ich nur Mittel zum Zweck?

Schematherapeutisches Arbeiten an den Ursachen

Herr B. meldete sich wieder. Er wollte nun mit mir über die Ursachen sprechen und verstehen, warum er immer wieder Dinge aufschieben musste. Er schilderte, dass dies auch mit angenehmen Aktivitäten passiere bspw. Fußballspielen oder Klavier üben. Er gehe einfach nicht hin und ärgere sich hinterher sehr darüber.

Wir begannen, das Problem schematherapeutisch zu betrachten. Er schilderte, dass er einen strengen Vater hatte, der unerbittlich beim Lernen war. Wenn der „kleine Herr B.“ nicht gleich verstand, um was es ging, dann wurde der Vater laut und schrie rum. Die Mutter hielt sich raus, kam selten zu Hilfe. Abends stritten sich die Eltern und Herr B. gab sich dafür häufig die Schuld. Der kleine Junge fing an, Schulaufgaben zu verheimlichen, nicht zu erledigen oder bei Schwierigkeiten niemanden zu fragen. Er schaffte das Abi mit normalen Noten, aber fiel durch das erste Studium durch. Sein Vater hörte danach auf, ihn zu fragen, wie alles laufe und ob er Unterstützung brauche. Dafür fing die Mutter an, Druck auszuüben.

Soziale Kompetenzen üben

Mit Hilfe der Stühle und mit imaginativen Reisen in vergangene Erinnerungen, konnte Herr B. erstmalig über seine Ängste und Verletzungen sprechen. Ihm fiel auf, dass er sich aus Angst mit angenehmen Dingen beschäftigte, statt für seine langfristigen Ziele zu kämpfen. Wir stärkten diesen Gedanken und förderten seine soziale Kompetenz gegenüber den Eltern: seine Meinung äußern und sich nicht unter Druck setzten lassen. So fiel es ihm auch leichter, zu seinen Betreuern für die Masterarbeit Kontakt zu halten und keine Angst vor Nachfragen zu haben. Auf diesem Weg entließ ich Herrn B. aus der Psychotherapie.

Ein Jahr später erhielt ich die Nachricht, dass er seinen Masterabschluss erhalten habe und sich ein halbes Jahr Zeit genommen hatte, um sich mit seinen Zielen auseinander zu setzten. Er habe verschiedene Sachen ausprobiert und versuche, sich anderen Menschen mehr zu öffnen.

Fazit

In meine Praxis kommen immer wieder junge Studierende, die kurz vor der Exmatrikulation stehen und Hilfe suchen. Häufig handelt es sich um Prokrastination aus verschiedenen Gründen: Depression, Ängsten oder Zwängen. Meiner Erfahrung nach sind die Kriterien für die letztgenannten Diagnosen häufig nicht in vollem Umfang erfüllt und dennoch leidet diese Gruppe von Patienten stark. Ich habe mir, trotz Ablehnung so manches Gutachters, angewöhnt, Prokrastination bei der Diagnose mit anzugeben. Ich denke nicht, dass die Betroffenen einfach unfähig oder fürs Studium nicht geeignet sind. Daher bin ich auch immer wieder bereit, Atteste oder Befunde für das Prüfungsamt zu schreiben, trotz anfänglicher Zweifel, ob die Motivation oder Prognose ausreichend sein könnten. Ich denke, manchmal muss man auch als Psychotherapeut in Vorleistung bezüglich des Vertrauens gehen können und nicht immer nur die Patienten. Bisher habe ich bei dieser Patienten-Gruppe noch keine Enttäuschungen erleben müssen, auch wenn nicht jeder sein Studium erfolgreich abschließen konnte.