„Fürsorge für andere bedarf der Fürsorge für sich selbst“ - Interview mit Christine Brähler
Ein Großteil der Menschen geht mit sich selbst ungeduldiger, härter und unfreundlicher um als mit einem guten Freund in einer ähnlichen Situation. Das belegen Studien aus den verschiedensten Ländern. Mit der Psychotherapeutin Christine Brähler sprachen wir darüber, welche Bedeutung Selbstmitgefühl für unsere seelische Gesundheit hat und warum es gerade für Psychotherapeuten und Berater wichtig ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Christine Brähler hat sich auf die achtsamkeits- und mitgefühlsbasierte Behandlung komplexer psychischer Probleme spezialisiert und ist Ausbilderin im achtsamkeitsbasierten Selbstmitgefühlstraining. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin, Dozentin und Supervisorin mit eigener Praxis in München und zeigt Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten in ihren Workshops Wege, wie sie Selbstmitgefühl für sich selbst entdecken, aber auch in die Psychotherapie integrieren können.
Selbstmitgefühl – was ist das eigentlich genau?
Die US-amerikanische Psychologin Dr. Kristin Neff hat Selbstmitgefühl folgendermaßen beschrieben: Anstatt eine Belastung zu ignorieren oder sich in Geschichten darüber zu verstricken, erkennen wir an, dass wir belastet sind, und nehmen wahr, wie sich das körperlich und emotional anfühlt. Anstatt uns im Erleben der Belastung einzigartig, allein und minderwertig zu fühlen, machen wir uns bewusst, dass alle Menschen schwierige Zeiten durchleben, und dass uns das Auf und Ab des menschlichen Lebens miteinander verbindet. Anstatt verärgert mit uns selbst zu sein, wenn etwas schiefgelaufen ist, trösten und ermutigen wir uns und reichen uns selbst eine helfende Hand – so wie wir es für einen guten Freund tun würden. Kurz gesagt, besteht Selbstmitgefühl aus gleichmütigem Gewahrsein der Belastung, dem Bewusstsein für das gemeinsame Menschsein und Selbstfreundlichkeit.
Oft wird Selbstmitgefühl mit Selbstmitleid verwechselt. Dieses entsteht, wenn wir glauben, mit unserer Not allein zu sein und uns unverstanden fühlen. Dann kreisen wir immer mehr um unsere Leidensgeschichte und verstricken uns darin, so dass wir uns letztendlich schlechter fühlen. Hinter Selbstmitleid verbirgt sich meist die Sehnsucht, von anderen Menschen wahrhaftig in der eigenen Not gehört und gesehen zu werden und Zuwendung zu bekommen. Auch dann kann es helfen, sich von sich selbst „gefühlt zu fühlen“, das eigene Leid zu validieren: Ja, das ist wirklich anstrengend. Es tut mir leid, dass du dich so belastet fühlst. Es ist nachvollziehbar bei all dem Stress. Was brauchst du denn gerade?
Das sind Dinge, die wir auch unseren Mitmenschen häufiger sagen könnten.
Mitgefühl mit anderen und die Bereitschaft, Bedürftigen zu helfen, sind zutiefst menschliche Werte, auf die wir zählen – auch für den Fall, dass wir selbst einmal Hilfe benötigen. Allerdings bestimmen Hilfsbereitschaft und Mitgefühl – so weit verbreitet diese Werte sind – nicht unser tatsächliches Handeln. Ein Grund dafür liegt in unserer fest verdrahteten Sensibilität für und Aversion gegen Schmerzen. Die deutsche Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Tania Singer entdeckte in ihren Versuchen, dass die Not anderer bei ihren Probanden Empathie-Schmerzen auslöste, die auf Dauer unerträglich waren. Hilflosigkeit, Überforderung und schließlich das Abwenden von der Not sind die natürlichen Folgen.
Mitgefühl hingegen wurde in Singers Studien als positiver Geisteszustand beschrieben, der uns die Kraft gibt, uns anderen zuzuwenden, ohne dabei auszubrennen. Singer konnte zudem zeigen, dass es möglich ist, durch geistiges Training explizit Mitgefühl zu üben und weniger Empathie-Schmerz zu empfinden. Doch der Übungsweg zu mehr Mitgefühl beginnt mit dem Selbstmitgefühl. Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama sagte dazu: „Damit jemand echtes Mitgefühl für andere entwickeln kann, muss er zuerst ein Fundament haben, auf dem er Mitgefühl kultivieren kann. Dieses Fundament ist die Fähigkeit, sich mit den eigenen Gefühlen zu verbinden und sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Fürsorge für andere bedarf der Fürsorge für sich selbst.“
Selbstmitgefühl macht uns nicht egoistisch, sondern hilft uns, Verantwortung für unsere eigenen unerfüllten Bedürfnisse zu übernehmen.
Aber haben wir nicht alle zur Genüge Mitgefühl mit uns selbst?
Die Idee, dass wir über genügend Selbstmitgefühl verfügen, rührt zum Teil aus dem Missverständnis, dass Selbstmitgefühl egozentrisch sei, dass wir dadurch nur noch um uns selbst kreisen und andere vernachlässigen würden. Forschungsbefunde beweisen das Gegenteil: Zum einen korreliert Selbstmitgefühl nicht mit Narzissmus, dafür aber mit Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen und Niederlagen, mit Zuversicht, Weisheit und Lebenszufriedenheit sowie mit einer gesünderen Lebensweise. Zum anderen können sich Personen mit mehr Selbstmitgefühl besser in andere hineinversetzen. In Beziehungen werden sie als zufriedenere Partner erlebt und als kompromissbereiter, konfliktfähiger und empathischer beschrieben. Selbstmitgefühl macht uns also nicht egoistisch, sondern hilft uns, Verantwortung für unsere eigenen unerfüllten Bedürfnisse zu übernehmen – und somit mehr Kapazität zu schaffen, um für andere auf nachhaltige und authentische Weise da zu sein.
Mach doch selbst einmal das Experiment und überprüfe, wie mitfühlend du mit dir selbst bist: Wie bist du mit dir umgegangen, als es dir das letzte Mal schlecht ging? Was hast du zu dir selbst gesagt und in welchem Ton? Was hast du getan? Studien in den verschiedensten Ländern belegen, dass rund 75 Prozent der Menschen ungeduldiger, härter und unfreundlicher mit sich selbst umgehen als mit einem guten Freund, dem es schlecht geht.
Wie äußert es sich, wenn es einem Menschen an Selbstmitgefühl fehlt?
Metaanalysen bestätigen einen robusten Zusammenhang zwischen einem niedrigen Selbstmitgefühl und Gefühlen von Angst, Depression und Stress. Menschen mit psychischen Erkrankungen zeigen durchweg ein niedrigeres Maß an Selbstmitgefühl als gesunde Probanden.
Das ist nicht überraschend, wenn wir verstehen, dass Selbstmitgefühl nichts anderes ist als effektive Emotionsregulation – die wir uns als Erwachsene jedoch häufig verwehren. Zudem haben wir oft sehr hohe Erwartungen an uns selbst. Wenn wir diese nicht erfüllen, reagieren wir automatisch mit Scham, Selbstverurteilung und Unverständnis. Die wahrgenommene Enttäuschung aktiviert unser Bedrohungssystem, das wiederum das Problem, also uns selbst, bekämpft.
Intuitiv wissen wir, dass wir in Momenten der Enttäuschung und des Scheiterns Fürsorge brauchen, um uns zu beruhigen und zu trösten – und auch, um uns zu ermutigen, aus den gemachten Fehlern zu lernen. Je nachdem, welche Glaubenssätze aus der Gesellschaft oder der Familie wir verinnerlicht haben, wird es uns jedoch mehr oder weniger schwer fallen, unser Fürsorge- und Bindungssystem zu aktivieren, uns selbst zu umsorgen und so unseren Stress zu regulieren. Wenn wir anstelle von Fürsorge in unseren frühen Lebensjahren sogar Vernachlässigung oder gar Missbrauch erlebt haben, kann selbst die Vorstellung von Selbstmitgefühl bedrohlich wirken.
Ein Mangel an Selbstmitgefühl geht oft auch mit erhöhter Scham und starker Selbstverurteilung einher. Und gerade Schamgefühle tragen zur Chronifizierung bestehender emotionaler Probleme bei. Denn das darunter liegende Gefühl von „Ich bin ein schlechter Mensch und verdiene keine Zuwendung“ erhält das System aufrecht. Selbstmitgefühl ist ein Gegenmittel dazu: Es hilft zu erkennen, dass auch Scham ein universelles Gefühl ist, das aus dem Wunsch heraus entsteht, geliebt zu werden, den wir mit allen Menschen teilen. Wir sind mehr als unsere Schwächen, auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt.
Wie kann Selbstmitgefühl erlernt bzw. gestärkt werden?
Je nachdem, wie psychisch stabil eine Person ist und welche Ressourcen sie mitbringt, kann Selbstmitgefühl im Rahmen einer Psychotherapie oder in einem gruppenbasierten Training in „Mindful Self-Compassion“ (MSC) trainiert werden. Ein MSC-Kurs für psychisch stabile Erwachsene wurde von Christopher Germer und Kristin Neff in den USA entwickelt. Er fördert die psychische und physische Resilienz und bietet sich somit als evidenzbasierte Präventionsmaßnahme an. Aktuell wird die Methode vor allem gegen Burnout in Gesundheitsberufen in den USA und in Großbritannien eingesetzt und weiter erforscht.
Nicht immer reicht ein solches Training aus. Man sagt: Liebe offenbart alles, was nicht Liebe ist. Das klingt paradox, aber es bedeutet für uns, dass beim Üben von Selbstmitgefühl belastende Gefühle auftauchen können, wie zum Beispiel normale Trauer, für die wir uns vorher keine Zeit genommen haben. Das heißt, Menschen, die Traumatisierungen seitens ihrer Fürsorgepersonen erlebt haben oder unter starker Scham leiden, kommen durch die Praxis in Kontakt mit belastenden Gefühlen, die mit der Vernachlässigung oder dem Missbrauch einhergingen. Wenn ich verinnerlicht habe, dass ich ein schlechter, verabscheuungswürdiger Mensch bin, der keine Zuwendung, sondern Schläge verdient hat, dann aktiviert Selbstmitgefühl diese emotionale Bindungsmatrix. In solchen Fällen bedarf es des sicheren und vertrauensvollen Settings einer Einzeltherapie, um stufenweise einen sicheren und individuellen Zugang zum Selbstmitgefühl zu finden.
Ich kann mir vorstellen, dass es viele Hemmnisse in uns und unserer Umwelt gibt, die uns diesen Weg schwer machen.
Oft tragen wir Glaubenssätze in uns, aufgrund derer wir uns Fürsorge gerade dann verwehren, wenn wir sie am nötigsten brauchen. Wir glauben etwa, Fürsorge nicht zu verdienen, oder dass sie uns egoistisch, arrogant, selbstgefällig und faul werden lasse. Solche familiär und kulturell geprägten Glaubenssätze haben uns möglicherweise einmal geholfen, zur Familie und zur Gesellschaft dazu zu gehören, geliebt und anerkannt zu werden. Sie sind aber nicht mehr unbedingt dienlich, wenn wir uns durch Selbstvorwürfe nach einer gescheiterten Ehe oder der Diagnose einer chronischen Erkrankung niedergeschlagen fühlen. Im Selbstmitgefühlstraining werden die Teilnehmer eingeladen, ihre individuellen Glaubenssätze neugierig wahrzunehmen und zu hinterfragen – und zu erforschen, was passiert, wenn sie mitfühlender mit sich selbst umgehen.
Äußere Hindernisse sehe ich in einer starken gesellschaftlichen Orientierung auf Wettbewerb, Leistung und Perfektion. Mit dem omnipräsenten Gefühl, nicht gut genug zu sein, und vor dem Hintergrund eines permanenten Strebens nach Status und Schönheit, mag die radikale Botschaft des Selbstmitgefühls: „Du bist okay so wie du bist“, zunächst bedrohlich und verwirrend wirken.
„Therapeuten brauchen Selbstmitgefühl, um die Probleme ihrer Patienten halten zu können, ohne sich dabei selbst zu erschöpfen“
Inwiefern ist es auch und gerade für Psychologen und Psychotherapeuten wichtig, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Psychotherapiestudien belegen, dass die Entwicklung von Selbstmitgefühl maßgeblich mit einer Verbesserung psychischer Symptome in Zusammenhang steht. Bei Essstörungspatienten etwa ging ein Zugewinn an Selbstmitgefühl mit einer Verbesserung des Körperbilds und einer Normalisierung des Essverhaltens einher. Mit Blick auf die aktuelle Forschungslage lässt sich also schlussfolgern, dass eine Förderung von Selbstmitgefühl die Effektivität der etablierten Psychotherapieverfahren steigern kann, wenn diese die Verbesserung der Emotionsregulation und der Selbstakzeptanz zum Ziel haben.
Doch wie kommt das Selbstmitgefühl in den Patienten? Verständnis, Güte, Hoffnung und Klarheit, die ein Psychotherapeut seinem Patienten idealerweise entgegenbringt, können diesem helfen, Mitgefühl zuzulassen und es stufenweise auch für sich selbst zu entwickeln. Das ist das notwendige Fundament einer jeden Psychotherapie. Dabei ist Mitgefühl keine abstrakte Technik, sondern eine wohlwollende und weise Haltung gegenüber Leid: Wir erkennen, dass wir alle Menschen sind, denen im Leben Leid widerfährt, und dass Mitgefühl die einzig sinnvolle Antwort auf Verlust, Stress, Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung ist.
Das gilt für Therapeuten wie für Patienten. Studien zeigen, dass sich die Haltung des Therapeuten sich selbst gegenüber auf die Patienten überträgt und maßgeblich den Therapieverlauf beeinflusst. Zudem bedürfen Therapeuten des Selbstmitgefühls, um die Probleme und das Leid ihrer Patienten halten zu können, ohne sich dabei selbst zu erschöpfen.
Das scheint gar nicht unbedingt ein neues Thema zu sein...
Carl Rogers und viele andere haben zwar über Empathie und Mitgefühl geschrieben, doch eine klare empirische Definition fehlte bisher. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere die von Prof. Dr. Tania Singer, ermöglichen uns nun zum ersten Mal, Mitgefühl in Abgrenzung von Empathie empirisch zu verstehen. Das hilft unter anderem, das Entstehen von Burnout in helfenden Berufen zu erklären, betroffene Personen zu entlasten und durch Mitgefühlstrainings eine effektive Burnout-Prävention anbieten zu können.
Des Weiteren helfen die Erkenntnisse der sozialen Neurowissenschaften zum Thema „Mitgefühl“, ein fundiertes Verständnis der Mechanismen der Emotionsregulation zu schaffen. Letztendlich kann das nicht nur in der Konzeption von Psychotherapie genutzt werden, sondern auch zur Gestaltung einer bewussten und mitfühlenden Gesellschaft.