Was hochsensible Menschen in der Psychotherapiepraxis brauchen

Eine Frau mit langen blonden Haaren pustet Seifenblasen in die Luft.

Sie nehmen Details intensiver wahr und sind sehr empathisch: Hochsensible Menschen können sehr belastbar sein, jedoch durch unterschwellige Konflikte oder fehlende Abgrenzung an ihre Grenzen stoßen. Kommen sie aufgrund psychischer Belastungen in Therapie, hilft ihnen ein wohlwollendes und verständnisvolles Gegenüber. Was du als Psychotherapeut:in über Hochsensibilität wissen solltest und welche Implikationen sich für die Behandlung ergeben.

Patient:innen in meiner Praxis berichten immer wieder, dass psychotherapeutische oder ärztliche Kolleg:innen die Existenz von Hochsensibilität negieren oder kaum etwas darüber wissen. Dies kann für psychisch belastete Hochsensible eine weitere verunsichernde Erfahrung darstellen und zur Aufrechterhaltung der psychischen Belastung beitragen.

Dieser Artikel gibt einen Überblick über evidenzbasierte Erkennungsmerkmale von Hochsensibilität, beschreibt, welche Belastungen hochsensitive Menschen in die Therapiepraxis führen, welche differenzialdiagnostischen Herausforderungen bestehen und welche Implikationen sich für die Behandlung ergeben. Hierbei berufe ich mich auf meine Erfahrung als Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis.

 

Hochsensibilität erkennen

Abseits der Individualität der Belastungen, die Klient:innen in meine Psychotherapiepraxis führen, gibt es wissenschaftlich untermauerte Gemeinsamkeiten von Menschen mit hochsensitiver Veranlagung (z. B. Wyrsch, 2020). Diese müssen von Kindheit an gegeben und im Alltag deutlich bemerkbar sein:

  • Hohes Bewusstsein und sehr tiefe Informationsverarbeitung: frühere und intensive Wahrnehmung von Feinheiten und Details von externen (z. B. Gerüche oder Stimmungen anderer Menschen) wie auch internen (bspw. eigene Emotionalität oder Hungergefühl) Reizen
  • Hohe Empathie: unmittelbares Mitgefühl und starke Beeinflussbarkeit durch die Gefühle anderer
  • Sensorische Empfindsamkeit und Anfälligkeit für Überstimulation: niedrige Wahrnehmungsschwelle, leichte Erregbarkeit des Nervensystems, dadurch häufigere Reizüberflutung und das Bedürfnis, sich zurückzuziehen

Ein Screening bietet z. B. die auf Hochsensibilität spezialisierte Heiligenfeld Klinik auf ihrer Website (Stand 11.2022).

Eine große Welle im Sonnenlicht.

Meiner Erfahrung nach kommt die Vermutung, hochsensibel zu sein, oft nach mehreren nicht ausreichend hilfreichen Therapien/Klinikaufenthalten oder während einer laufenden Behandlung auf. Manche vermuten Hochsensibilität auf Basis von Selbsthilfeliteratur oder werden von Bezugspersonen „geschickt“, weil diese an ihnen Merkmale von Hochsensibilität erkennen. Hochsensible, die sich in Therapie begeben, berichten, sich im Vergleich zu anderen als weniger „funktionsfähig“ oder zu wenig „belastbar“ zu erleben, in Beziehungen „übermäßig harmoniebedürftig“ zu sein oder von Partner:innen als zu „nachtragend“ oder „genau“ bezeichnet zu werden.

 

Psychische Belastungen von Hochsensiblen verstehen

Entsprechend des Vulnerabilitäts-Stress-Modells können die genannten neurobiologisch bedingten Merkmale von Hochsensiblen sowie frühe ungünstige Prägungen, welche weiter unten beschrieben werden, in Kombination mit aktuellen oder anhaltenden Stressoren zu psychischen Erkrankungen führen. Behandlungsbedürftige Störungsbilder, die in meiner Praxis im Zusammenhang mit Hochsensibilität häufig auftreten, sind u. a

  • Somatisierungsstörungen
  • Depression
  • Burnout
  • Generalisierte Angststörung
  • Panikstörung
  • Soziale Phobie
  • Selbstunsichere und dependente Persönlichkeitszüge

Subklinisch zeigen sich häufig:

  • Schwierigkeiten mit der Modulation von Emotionen
  • Starke Schuldgefühle
  • chronische Unzufriedenheit
  • Probleme in Beziehungen
  • chronische Überforderung
  • geringes Selbstwertgefühl
  • Unsicherheit
  • Grübeln/Overthinking
  • Orientierungslosigkeit im Hinblick auf eigene Wünsche und Ziele

Hochsensible können sehr belastbar sein. Wenn sie an ihre Grenzen stoßen und in die Therapie kommen, sind meistens folgende Stressoren beteiligt:

  • Störungen im beruflichen Kontext wie bspw. fehlende Ruhe, mangelndes Sinnerleben, rigide Strukturen (z. B. Zeitgestaltung), gehäufte (unterschwellige) Konflikte, wenig Anerkennung für die mit viel Hingabe erledigte Arbeit, zu umfassende Anforderungen
  • Im sozialen Kontext bspw. wiederkehrende und/oder unlösbare Konflikte, unbefriedigende Streitkultur, mangelnde Vereinbarkeit der Bedürfnisse von Beziehungspartner:innen
  • Intern beispielsweise niedriger oder instabiler Selbstwert, hohe Leistungsansprüche, geringe Abgrenzungsfähigkeit

 

Die große Bedeutung von Beziehungen berücksichtigen

Hochsensible Patient:innen blicken erfahrungsgemäß auf eine weit zurückreichende Geschichte invalidierender Erfahrungen: sie wurden durch Bezugspersonen unterschätzt, nicht gesehen, missverstanden, abgewertet und abgelehnt. Ihnen wurde vermittelt, dass ihre Bedürfnisse gar nicht erfüllt werden können, weil sie „komisch“, „kompliziert“, „anstrengend“ oder „zu empfindlich“ seien. Solche Labels prägen sich stark ein und wirken im Alltag der Patient:innen in Form von dysfunktionalen Überzeugungen, anhaltendem seelischen Schmerz aus zwischenmenschlichen Verletzungen oder auch in Form von Überangepasstheit bis hin zur vollständigen Orientierung an den Bedürfnissen anderer und ständigem Übertreten der eigenen Grenzen bis in die Gegenwart fort.

Ein Junge steht im Wald und hält sich die Augen zu.

Schon im Erstgespräch macht die Kombination aus ungünstigen biografischen Erfahrungen und hochsensibler Veranlagung die therapeutische Beziehungsgestaltung zum Weichensteller für die weitere Zusammenarbeit und später zum zentralen Wirkfaktor.

Besonderes Augenmerk sollte dabei meiner Erfahrung nach auf folgenden Aspekten liegen:

  • Eine unbedingt wohlwollende, wertschätzende und unvoreingenommene Haltung
  • Aufrichtiges Verständnis komplementär zur sehr feinen Wahrnehmung der Klient:in
  • Eine achtsame und fürsorgliche Begegnung und Begleitung, die dazu einlädt, eigene Grenzen (wieder) zu spüren
  • Offenheit für Details und die große Bedeutung dieser Details für die jeweilige Person (z. B. Tonfall eines Interaktionspartners in der Vergangenheit)
  • Eine sehr feinfühlige, mit Bedacht geführte Kommunikation
  • Eine akzeptierende, geduldige Ausstrahlung: sich viel Zeit nehmen und einlassen.

 

Hochsensiblen in der Psychotherapiepraxis helfen

Um Patient:innen die richtige Hilfe anzubieten, ist auch bei der Vermutung von Hochsensibilität als Faktor im Krankheitsgeschehen eine sorgfältige Diagnostik unumgänglich, denn differenzialdiagnostisch können Verwechslungen vorliegen bzw. Herausforderungen bestehen.

Hier einige Beispiele:

  • Übererregbarkeit und Erleben intensiver Emotionen können auch im Rahmen einer emotional-instabilen Persönlichkeit oder als Folge von Traumatisierungen auftreten.
  • Traumatisierungen können Hochsensibilität verstärken.
  • Es kann zu Fehldiagnosen von AD(H)S kommen.
  • Die Anfälligkeit für Überstimulation kann in Vermeidung resultieren, welche schwer von Vermeidungsverhalten bei Angst- und Zwangsstörungen abzugrenzen ist.
  • Hochsensibilität kann durch bereits fortgeschrittene und/oder chronifizierte Sekundärsymptomatik überlagert sein.
Eine junge Frau blickt ihr Gesicht im Spiegel an.

Wurde Hochsensibilität als Prädisposition herausgearbeitet, haben sich unter anderem folgende Behandlungsstrategien in meiner Psychotherapiepraxis bewährt:

  • Sorgfältige Problemanalyse und Zielklärung als Voraussetzung
  • Psychoedukation, die die Entpathologisierung der Hochsensibilität impliziert
  • Stark validierende Beziehungsgestaltung für korrigierende therapeutische Erfahrungen, Selbstwertaufbau und die Möglichkeit, der eigenen Wahrnehmung wieder zu vertrauen
  • Die Facetten der eigenen Hochsensitivität kennenlernen und als Ressource einsetzen: bspw. starke Vorstellungskraft, ästhetisches Bewusstsein, analytisches Talent, Zuhören etc.
  • Liste der Stimuli, die Stress auslösen (z. B. Gerüche, Geräusche)
  • Akzeptanz der Hochsensibilität und Anpassung der Umgebung (z. B. Rückzugsort, Pausen) sowie der Ansprüche an sich selbst
  • Wo gewünscht und sinnvoll: durch gezieltes Üben kleinschrittig Stimuli konfrontieren, den Fokus hierbei deutlich auf die Erholung und Regeneration nach der Konfrontationsübung setzen
  • Herstellen von work-life-balance, Förderung sozialer Kompetenzen (z. B. Gespräch mit dem Chef, um Arbeitsbedingungen zu verhandeln; Kommunikation von Bedürfnissen in der Partnerschaft)
  • Achtsamkeits- und erlebnisorientierte Übungen für mehr Schutz in schwierigen Situationen
  • Versorgen „alter Wunden“ z. B. biografische Arbeit und Anteilsarbeit
  • Kontakt zu Selbsthilfegruppe herstellen

Insgesamt machen die vielfältigen Begabungen und Ressourcen von Hochsensiblen sowie ihre überdurchschnittlich positive Resonanz auf eine für sie stimmige Therapie meines Erachtens die psychotherapeutische Arbeit mit Hochsensiblen zu einer ganz besonderen und reichhaltigen Erfahrung.

 

Literatur

Heiligenfeld Klinik (Stand 2022). Fragebogen zur Sensibilität und Verarbeitung – SV12. Online verfügbar unter: https://www.heiligenfeld.de/behandlung/psychosomatik/hochsensibilitat/hsp-test/

Lionetti F. et al. (2018). Dandelions, tulips and orchids: evidence for the existence of low-sensitive, medium- sensitive and high-sensitive individuals. Translational Psychiatry 8:24

Wyrsch, P. (2020). Wahrnehmungsfähigkeit Neurosensitivität. Die Kraft der Hochsensitiven.