Autismusverdacht – und nun?

Ein kleines Mädchen sitzt mit ihrer Psychotherapeutin an einem Tisch und zeigt auf eine Smiley-Karte

Nicht selten trifft man in der ambulanten Praxis auf Menschen, bei denen der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) naheliegt. Wie sollte man damit umgehen?  

In der klassischen Ausbildung insbesondere der Psychologischen Psychotherapeut:innen spielen dieses Störungsbild und erst recht seine Diagnostik kaum eine Rolle. Und während im Kinder- und Jugendbereich vielerorts sozialpädiatrische Zentren und multidisziplinäre KJP-Praxen für eine (externe) Diagnostik zur Verfügung stehen, ist im Erwachsenenbereich guter Rat oft teuer. Das bestätigte auch die Konsensusgruppe der aktuellen S3-Leitlinie zum Thema: „Es besteht ein dringender Verbesserungsbedarf bezüglich der frühzeitigen, zeitnahen und korrekten Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland.“  

In der Leitlinie ist ein zweistufiges Konzept vorgesehen:  

  1. Bei Verdacht auf eine ASS soll zunächst eine zeitnahe, orientierende Abklärung unter Verwendung von validen, altersspezifischen Screening-Instrumenten sowie der Durchführung einer orientierenden klinischen Evaluation vorgenommen werden.  
  2. Bei Erhärtung des Verdachts soll die Person an eine spezialisierte Stelle überwiesen werden, die eine vollständige Diagnostik und Differentialdiagnostik gewährleisten kann.  

Daraus resultieren zwei Herausforderungen für die Praxis: Einerseits sollte jede:r niedergelassene:r Psychotherapeut:in gewisse Fertigkeiten im Umgang mit den einschlägigen Screeninginstrumenten haben, zudem braucht es Kapazitäten in den spezialisierten Diagnostikzentren – was gerade im Erwachsenenbereich vielerorts ein Nadelöhr mit langen Wartezeiten ist.  

Laut Angabe von Autismus Deutschland e.V. ist die Grundlage für die Diagnostik die ärztliche oder psychotherapeutische Approbation, in der Praxis gäbe es durchaus auch Einzelpraxen, die eine Diagnose stellten. Jedoch: „Der Vorteil der multidisziplinären Arbeit liegt im Mehr-Augenprinzip und einem breiten Fokus auf Komorbiditäten und vor allem Differentialdiagnostik“. Der größte Nachteil in der Praxis: „Es gibt immer wieder Einzelpraxen, die in Elternkreisen und der Selbstvertreterszene als ‚Diagnosegarantie‘ gehandelt werden.“ Dabei seien die Motive und Vorgehensweisen unterschiedlich, die erhöhte Zahl an falsch positiven Diagnosen verzerrte jedoch das Bild von Autismus und führe mitunter zu nicht passender Therapie.  

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und füllt mit einem Stift einen Fragebogen aus.

Screening  

Für ein strukturiertes Screening stehen mehrere Instrumente zur Verfügung, bei denen es sich überwiegend um die Erfassung eines Fremdurteils durch nahe Bezugspersonen handelt. Im Kindes- und Jugendalter ab einem Alter von vier Jahren steht der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK) zur Verfügung. Im Alter von sechs bis 24 Jahren kann die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) eingesetzt werden. Beide Fragebögen werden durch die Eltern/Bezugspersonen ausgefüllt. Für Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren kann außerdem der Autismus-Spektrum-Quotient-Test (AQ-Test) eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um einen Selbstbeurteilungsbogen, der jedoch nicht zwischen verschiedenen Formen des Autismus unterscheidet.  

Bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung kann im Falle eines Autismusverdachts der Diagnostische Beobachtungsbogen für Autismus-Spektrum-Störungen (DiBAS-R) verwendet werden; dabei handelt es sich ebenfalls um ein Fremdrating, das z.B. durch Betreuer:innen ausgefüllt wer- den kann.  

Differentialdiagnostik  

Bei der Abklärung einer Autismus-Spektrum-Störung sind verschiedene andere Syndrome zu bedenken; dazu gehören gerade bei Erwachsenen insbesondere Psychosen, schizoide, schizotype und zwanghafte Persönlichkeitsstörungen, soziale Phobie, fragiles X-Syndrom und das Rett-Syndrom. Außerdem liegt eine erhöhte Komorbidität mit Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS) vor.  

Vertiefte Diagnostik  

Der Goldstandard in der Autismus-Diagnostik ist die Kombination aus einem strukturierten Interview mit den Bezugspersonen (Autism Diagnostic Interview – Revised, ADI-R) und dem Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS-II) mit dem betroffenen Kind selbst. Mit leichten Adaptionen kann das ADOS auch mit volljährigen Patient:innen durchgeführt werden. Beide Verfahren werden von geschulten Psycholog:innen oder Psychiater:innen durchgeführt. Die entsprechenden Schulungen können beim herausgebenden Verlag direkt oder über den Verband Autismus Deutschland e.V. besucht werden; dort wird insbesondere das korrekte Rating des beschriebenen und gezeigten Verhaltens trainiert.  

Dieser Artikel ist ursprünglich in der „VPP aktuell“ erschienen:   

Thünker, Johanna (2023). Autismusverdacht – und nun? VPP aktuell, 62, S. 8