Emotionale Kompetenz trainieren
Emotionale Kompetenz? Das klingt einfach, so als ob jeder diese beherrscht. Doch in der modernen Zeit ist gerade die emotionale Kompetenz oder das Wissen, wie man mit seinen Gefühlen umgeht, vernachlässigt worden.
Diesen Mangel, der sich in Burn-Out-Syndromen, Depressionen oder auch Beziehungskrisen äußert, will das psychologische Konzept der „Emotionalen Kompetenz“ (emotional literacy) angehen und, wenn möglich, heilen. Man kann sie als eine Erweiterung der Transaktionsanalyse betrachten, die von Claude Steiner (1935-2017), einem Mitarbeiter von Eric Berne, seit Anfang der 1970er Jahre entwickelt wurde.
Emotionale Kompetenz hat das Ziel, das natürliche Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung zu erfüllen. Sie ist die Fertigkeit, mit eigenen Gefühlen angemessen umgehen zu können und die Gefühle des Gegenübers zu verstehen, um eine erfüllende, also nicht manipulative Beziehung zu führen und Liebe zu erleben. Emotionale Kompetenz hilft, dort die gewünschte Klarheit zu schaffen, wo eine Beziehung oder eine Kommunikation schwierig, unangenehm und/oder verwirrend geworden ist.
Strokes stillen unser Bedürfnis nach Anerkennung
In jeder noch so kleinen Kommunikationssituation geben und bekommen wir Streicheleinheiten oder „Strokes“. Strokes sind die Einheiten der zwischenmenschlichen Anerkennung und Zuwendung, sie sind Signale, dass ein anderer uns wahrgenommen hat. Strokes können auf uns positiv, aber auch negativ wirken; das heißt, ein gleicher Stroke kann gewünscht oder unerwünscht sein – je nach der individuellen Wahrnehmung und aufbauend auf individuellen Erfahrungen. Strokes können verbal oder nonverbal gegeben werden, sie können auch unehrlich, vergleichend oder sogar abwertend sein.
Strokes stillen unseren sogenannten strukturellen Hunger: unser Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung unserer psychischen Existenz. Claude Steiner hat beobachtet, dass Menschen, die Anerkennung benötigen, oft selbst viel zu sparsam mit Strokes umgehen: Sie geben da keine Strokes, wo diese erbeten werden, und sie nehmen keine Strokes, obwohl sie sich danach sehnen. Diese Menschen haben oft Schwierigkeiten, das verdiente Lob anzunehmen, sie fühlen sich unwohl, sobald sie „im Mittelpunkt“ stehen. Steiner hat diese Neigung als „Stroke economy“ („Verknappungslehre“) beschrieben, was bedeutet, mit Liebe wie mit einem knappen Gut umzugehen. Menschen lassen sich in die Stroke economy hineinziehen, da für sie eine knappe Zuwendung besser als gar keine ist.
Der sparsame Umgang mit Zuwendung führt zu emotionalem Austrocknen
Stroke economy manifestiert sich in fünf Aspekten:
- Man gibt den anderen gar keine oder nur wenige gewünschte Strokes.
- Man nimmt die gewünschten Strokes von den anderen nicht an, sondern wertet sie ab.
- Man kann gewünschte Strokes nicht einfordern, wie z.B. um Unterstützung oder Hilfe bitten.
- Man kann unerwünschte Strokes nicht ablehnen, man nimmt sich also selbst nicht in Schutz.
- Man billigt sich keine Anerkennung zu, auch wenn man diese verdient hat.
Der zu sparsame Umgang mit Zuwendung, der unsere natürlichen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit und Zuwendung unerfüllt lässt, führt zu einem emotionalen „Austrocknen“, zu Verkümmerung einer Beziehung. Depression, die Steiner als Zuwendungsmangelkrankheit verstanden hat, ist eine Folge der mangelnden Fähigkeit, Liebe zu geben, zu nehmen und zu erleben – damit ist auch die Selbstliebe gemeint.
Manipulatives Verhalten im Rahmen der Stroke economy, das Menschen unglücklich macht, basiert auf der Befürchtung „leer auszugehen“. Für uns ist Anerkennung derart wichtig, dass uns sogar die „schlechten“, sprich ungewünschten, Strokes lieber sind als gar keine.
Strokes erwecken in uns Gefühle und Emotionen. Gefühle zu erkennen und zu benennen ist ein wichtiger Bestandteil der Emotionalen Kompetenz, da wir während der Sozialisation verinnerlicht haben, eigene Gefühle zu unterdrücken, zu tabuisieren, zu verdrängen und ihre Rolle und Funktion nicht richtig wahrzunehmen: Gefühle haben die Aufgabe, uns zu signalisieren, ob unsere natürlichen Bedürfnisse erfüllt werden. Eine bewusst erworbene Kompetenz zu den eigenen Gefühlen und zu den Gefühlen der anderen hilft, Konflikte zu vermeiden und zu lösen.
Kritische Eltern und ihre Macht über uns
Selbstzweifel bis Selbstverachtung, die Neigung, es „allen Recht zu machen“ und eigene Bedürfnisse weniger als diejenigen der anderen zu berücksichtigen, Angst vor Ablehnung, mangelnder Selbstwert und mangelndes Selbstvertrauen, unzureichende Fähigkeit, sich in Schutz zu nehmen – all das sind Manifestationen des psychischen Introjekts (der verinnerlichten Vorstellung) „Kritische Eltern“.
Kritische Eltern spielen als Ich-Zustand in unserer Psyche eine wesentliche Rolle und beeinflussen unsere Beziehungen mit anderen stark. Dieses Introjekt ist ein Teil unserer gespeicherten Erfahrung mit den Elternfiguren, der abwertende Denk- und Verhaltensmuster beinhaltet. Die Infragestellung unseres Wertes durch Kritische Eltern kann uns von der Anerkennung durch andere emotional abhängig machen. Wenn man sich selbst nicht wertvoll fühlt, hofft man auf eine Bestätigung „von außen“.
Das Training der Emotionalen Kompetenz zeigt, wie man mit dem Introjekt „Kritische Eltern“ bewusster umgehen kann. Man lernt, wie man manipulative Kommunikationsformen erkennt und konfliktfreier auf sie reagiert, und wie man eine kooperative Kommunikationsform etablieren kann, in der beide Partner sich gleichwertig erleben, ihre Bedürfnisse berücksichtigen und frei und bewusst im eigenen Interesse handeln. Das Training verdeutlicht zudem, dass Beziehungen nicht auf der Stroke economy aufbauen, sondern auf Liebe und Vertrauen.
Wichtiger Teil eines Trainings der Emotionalen Kompetenz ist der „kooperative Vertrag“, den jeder Teilnehmer des Trainings freiwillig eingeht. Mit diesem Vertrag erklärt man sich bereit, auf jede Form der Machtspiele zu verzichten. Unter dem kooperativen Vertrag bleibt man ehrlich zu sich selbst und zu anderen und zwingt sich nicht, etwas zu machen, was man nicht will. Durch den kooperativen Vertrag wird die notwendige Sicherheit zur Entmachtung der Kritischen Eltern geschaffen, und die Teilnehmer werden befähigt, bewusst Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen.
Das Training der Emotionalen Kompetenz besteht aus drei Schritten
1. Herz öffnen
Man lernt, nicht nach der Stroke economy zu handeln, sondern nach dem tatsächlichen Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung. Man erlaubt sich, Strokes zu geben, gewünschte Strokes anzunehmen, darum zu bitten, ungewünschte Strokes abzuweisen, und sich selbst gewünschte Strokes zu geben. Dieser Teil des Trainings, auch im abgesicherten Raum des kooperativen Vertrages, erfordert Mut und Ehrlichkeit: Es ist nicht immer einfach, gegen die verinnerlichten abwertenden Muster der Kritischen Eltern anzugehen und das eigene Herz durch den Austausch der Strokes zu öffnen. Abwertende Botschaften der Kritischen Eltern (wie z.B. „Nimm dich nicht so wichtig“, „Du hast das nicht verdient“) können eine intensive emotionale Reaktion hervorrufen. Man lernt, die veralteten Botschaften der Kritischen Eltern zu identifizieren und damit die negative Macht des Introjektes zu neutralisieren.
2. Gefühlslandschaft erkunden
Man lernt die durch Handlungen ausgelösten Gefühle zu identifizieren und sie dem Gegenüber angemessen mitzuteilen. Traurigkeit, Ärger, Angst und Freude sollen mit Namen genannt werden. Um das gegenseitige Verständnis zu ermöglichen, kann man auch die Stärke des Gefühls benennen (beispielsweise auf einer Skala von 1 bis 10). So schafft man Klarheit und entmachtet eine mögliche Manipulation, beugt einer Eskalation vor, verhindert eine gegenseitige Unzufriedenheit. Fantasien zu prüfen gehört ebenfalls zum Erkunden der Gefühlslandschaften (z.B. „Als du mich so angeschaut hast, habe ich die Fantasie gehabt, dass du dich über mich ärgerst.“). Die Aufgabe des Anderen ist die ehrliche Überprüfung der Fantasie und die Benennung des Teils, der stimmt („Körnchen Wahrheit“). Eine Äußerung der subjektiven Wahrnehmung ohne Urteile und Beschuldigungen beseitigt Missverständnisse und ermöglicht einen ehrlichen und wertschätzenden Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und auch mit den Bedürfnissen der anderen. Es schärft die Intuition als Fähigkeit und trägt zu einer vertrauensvollen Beziehung bei.
3. Verantwortung übernehmen
Vor allem für die Emotionen, die wir mit unserem Verhalten bei anderen auslösen.
Wir alle machen Fehler, weil wir Menschen sind. Um Entschuldigung zu bitten hat nicht jeder in seiner Kindheit gelernt. Sich nicht zu entschuldigen bedeutet, die Gefühle des Anderen zu verletzen und diesen emotional „hängen zu lassen“, als ob dieser „nicht wichtig“ ist. Eine ehrliche Bitte um Entschuldigung ist immer ein Ausdruck der Wertschätzung, da sie eine Botschaft beinhaltet: „Ich schätze dich und möchte deine Zuneigung nicht verlieren, deswegen möchte ich alles wiedergutmachen“. Eine Verletzung kann auch so tief und schmerzvoll sein, dass derjenige, der um Entschuldigung gebeten wurde, noch nicht bereit ist, die Entschuldigung anzunehmen. Er darf dann mehr Zeit in Anspruch nehmen. Man hat auch die Freiheit, die Entschuldigung zurückzuweisen. Es gibt Verletzungen, die nicht zu verzeihen sind. Alle Interaktionen müssen nach dem Prinzip des kooperativen Vertrages gestaltet werden: keine Verheimlichungen, keine Lügen, keine Retter- oder Opferrollen.
Emotionale Kompetenz ist eine präzise erarbeitete und wirksame Methode, mit deren Hilfe man Veränderungen bei sich selbst und in der Kommunikation mit anderen herbeiführen kann. Sie kann in der Psychotherapie, (Paar-)Beratung, im Coaching, in der Teamentwicklung und Supervision eingesetzt werden. Dank der Emotionalen Kompetenz können Menschen liebevoller mit sich selbst und mit anderen umgehen lernen.
Dieser Artikel ist ein leicht modifizierter Auszug aus dem Beitrag der Autorin in der Broschüre "Liebe ist die Antwort".