Religion in der Praxis: Wie gehe ich als Psychotherapeut mit spirituellen Themen um?

Eine lange Zeit war man der Auffassung, Religion habe in der Psychotherapie nichts verloren. Aber viele Patienten kommen in die Therapie mit religiösen Werten, die für die Krankheitsbewältigung eine wertvolle Ressource darstellen. Wie religiöse Themen in der Psychotherapie berücksichtigt werden können und welche Grenzen dabei beachtet werden müssen.

Spiritualität hat in der Psychotherapie nichts verloren. Diese orthodoxe Auffassung von Sigmund Freud wird auch heute noch von einem Teil der Psychotherapeuten vertreten. Doch werden wir damit den Bedürfnissen unserer Patienten wirklich gerecht?

Als ich vor vielen Jahren selbst in einer tiefen seelische Krise steckte, half mir mein ganzes psychotherapeutisches Wissen und die Unterstützung von Kollegen nichts. Nur das sehr persönliche Engagement und die ungewöhnlich starke Anteilnahme eines freichristlichen Pastors befreiten mich aus meinem Gefühl, völlig allein, unverstanden und hoffnungslos zu sein. Erstaunlicher Weise gelang es dem Pastor, mein subjektives Problemerleben mit biblischen Begriffen treffender zu beschreiben, als es mir selbst und anderen Fachleuten mit psychologischen Begriffen möglich war. In der Gemeinde dieses Pastors fühlte ich mich liebevoll angenommen und getragen.

Als es mir dann besser ging, fing ich an, die freichristlichen Glaubenssätze zu hinterfragen. Zu meinem Erstaunen sah ich mich mit einem beinharten Dogmatismus konfrontiert: Wer nicht an Jesus Christus glaubt, der für unsere Sünden sein Leben geopfert hat, sei verloren und verdammt und vom ewigen Leben ausgeschlossen. Die fundamentalistische Haltung tat mir körperlich regelrecht weh. Ich musste aber erkennen, dass genau das, was mir Schmerzen bereitete, für andere stabilisierend und heilsam war.

Seit dieser Erfahrung lässt mich eine Frage nicht mehr los: Wie kann das, was bei mir zu einem so heilsamen Erleben von Geborgensein und Getragenwerden geführt hat, auch ohne starre Glaubenssätze verwirklicht werden? Lässt sich die erlebte Qualität von Beziehung auch außerhalb von Kirche, in einem professionellen therapeutischen Setting herstellen?

Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis

In der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie, an der ich seit 1996 lehre, hat die Einbeziehung spiritueller Fragen in die psychotherapeutische Praxis eine lange Tradition. Denn viele Menschen haben ein tief verwurzeltes Gefühl, dass die sichtbare („objektive“) raumzeitliche Wirklichkeit nicht die einzige ist. Dazu kommt das Bedürfnis, die Grenzen der bekannten Erfahrungsmöglichkeiten zu überschreiten und zu erweitern, um mit einer anderen Wirklichkeit in Kontakt zu treten.

In meiner Praxis als Psychotherapeut und als Supervisor habe ich immer wieder erlebt, dass spirituelle und religiöse Bezüge wertvolle Ressourcen zur Krankheitsbewältigung sein können. Für Patienten, die in ihrer Problemtrance gefangen sind, deren Gedanken unaufhörlich um die immer wieder gleichen ungelösten Fragen kreisen, kann ein spiritueller Erfahrungsraum heilsam sein.  Religiöse Narrative, Bilder und Rituale können ihnen helfen, von ihrem Konfliktdilemma zu defokussieren und Trost, mehr inneren Frieden oder mehr Lebensenergie zu finden.

Die Schattenseiten von Religion und Spiritualität

Religionsausübung kann aber auch krank machen und zu „ekklesiogenen Neurosen“ führen. So werden jene seelischen Schwierigkeiten und Erkrankungen bezeichnet, die durch Fehlformen der Frömmigkeit entstehen. Ausschlaggebend dafür können einengende kirchliche Bindung, fanatische Religiosität, sexualfeindliche Erziehung oder ein neurotisches Gottesbild sein.

Was sagen offizielle Stellen?

Während man im angloamerikanischen Raum spirituelle Kompetenzen für Psychiater und Psychotherapeuten ausdrücklich fordert, werden in Österreich, z.B. in einer Richtlinie des österreichischen Gesundheitsministeriums von 2014, religiöse Zugänge immer noch pathologisiert. In Deutschland ist man spirituellen Interventionen gegenüber zurückhaltend, hält es jedoch für sinnvoll, Patienten in ihrer existenziellen, spirituellen, religiösen und kulturellen Dimension ganzheitlich wahrzunehmen. Ohne Berücksichtigung dieser Erfahrungsräume lassen sich depressive Schuldgefühle, Scham, Identitätskrisen, Suizidalität oder Traumafolgestörungen oft nicht verstehen. Insbesondere bei Patienten mit Migrationshintergrund sind kulturelle und religiöse Besonderheiten zu beachten, sonst besteht die Gefahr, als Therapeut religionsspezifische Tabus und Grenzen unwissentlich zu verletzen. Doch wie weit darf die psychotherapeutische Begleitung des Patienten in seiner existenziellen, religiösen und spirituellen Suche gehen? Welche professionellen Grenzen sind notwendig und sinnvoll?

Empfehlungen für Deutschland

2016 hat eine Expertengruppe der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) "Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie" erarbeitet. Die Autoren legen nahe:

  • Dass wir uns als Therapeuten interkulturelle Kompetenz erwerben, um die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte unserer Patienten in einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragen und die Perspektive wechseln zu können.
  • Dass wir grundsätzlich die Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen unserer Patienten als Ressource oder Belastungsfaktor ernst nehmen.
  • Auch bei Patienten ohne religiöse/spirituelle Anbindung ist eine Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen oft erforderlich.
  • Dass wir in der Therapie unseren eigenen weltanschaulichen Hintergrund transparent machen, trotzdem auf eine respektvolle Weise religiös neutral und aufgeschlossen bleiben. Eine Zusammenarbeit mit dem Seelsorger oder spirituellen Lehrer des Patienten kann in vielen Fällen sinnvoll sein.

Wie soll ich mich als Kassentherapeut verhalten?

Insbesondere in der Kassenpraxis stellte sich die Frage, wie ich als Therapeut vorgehen soll. Wie verhalte ich mich gemäß der Psychotherapie-Richtlinien, wenn ich spirituelle und religiöse Themen berücksichtigen will? In dem Lehrbuch Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie: Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, empfehlen wir:

Wertschätzung und Offenheit

Als Psychotherapeut gewinnst du das Vertrauen religiöser oder spirituell interessierter Patienten am besten, wenn du dich ohne Wertung für ihre Erfahrungen und Einstellungen interessierst. Die gleiche Offenheit ist im Übrigen auch einer atheistischen oder agnostischen Weltanschauung entgegenzubringen. Auch wenn du selbst „religiös unmusikalisch“ bist, kannst du die spirituellen Gefühle und Bedürfnisse deiner Patienten ebenso wertschätzend behandeln, wie du als Therapeut mit anderen menschlichen Antrieben und Motivationen (Bindung, Zugehörigkeit, Versorgung, Sicherheit, Kontrolle, Sexualität, Besitz, Macht usw.) umzugehen gelernt hast.

Interesse für spirituelle Erfahrungen zeigen

Du wirst als Kassentherapeut selbst eher keine spirituellen Angebote machen. Aber du kannst dich dafür interessieren, welche spirituellen Erfahrungen deine Patienten schon gemacht haben, welche Rolle Religion in ihrer Herkunftsfamilie spielte oder wer in ihrem sozialen Umfeld in welcher Weise spirituell aktiv ist. Versuche, neutral und wertfrei zu bleiben.

Professioneller Abstand von eigenen Erfahrungen

Wenn du selbst schlechte Erfahrungen mit spirituellen Angeboten, Religion oder Kirche gemacht hast, bedeutet das nicht, dass sie auch für deine Patienten schädlich sind. Wenn du gute Erfahrungen mit deiner Art von Spiritualität gemacht hast, bedeutet das nicht, dass auch deine Patienten von deiner Form der Spiritualität profitieren. Versuche in der Therapie nicht, deine Patienten im Sinne deiner eigenen religiösen, atheistischen oder sonstigen spirituellen und weltanschaulichen Ansichten zu beeinflussen.

Den Patienten aus der Innenperspektive verstehen

Du unterstützt deine Patienten am besten, indem du versuchst, ihre Erfahrungen, ihren Glauben oder Unglauben aus der Innenperspektive deiner Patienten heraus zu verstehen und das, was ihnen eventuell heilig ist, so gut es geht zu ehren. Das ist mitunter schwer, vor allem wenn deine Patienten eine fundamentalistische und intolerante Glaubensposition vertreten.

Keine voreiligen Bewertungen

Stelle diese Überzeugungen aber nicht voreilig in Frage, selbst dann nicht, wenn sie der Lösung wichtiger Probleme und Konflikte im Wege zu stehen scheinen. Denn rigide Glaubenssätze oder die Mitgliedschaft in einer dogmatischen Glaubensgemeinschaft erfüllen unbewusst oft die Funktion, strukturelle Defizite zu kompensieren. Sie stabilisieren das Selbstsystem, zum Beispiel indem sie ein Gefühl von Identität, Orientierung und Kontrolle geben.

Sei dem Patienten ein Vorbild

Du kannst fest gefahrene und dysfunktionale weltanschauliche und religiöse Überzeugungen am ehesten implizit korrigieren: Du wirst aufgrund deines eigenen Menschen-, Gottes- und Weltbildes sowie deiner eigenen spirituellen Erfahrungen mit deinen Patienten und deren Nöten in einer bestimmten Weise umgehen (zum Beispiel geduldig, freundlich, wertschätzenden, anteilnehmenden, optimistisch und ermutigendend). Fühlt sich diese Umgangsweise für deine Patienten gut an, werden sie mit der Zeit vielleicht das Bedürfnis entwickeln, sich immer mehr an deinem Vorbild zu orientieren. Oder sie werden vielleicht am Beispiel der therapeutischen Kommunikation erfahren können, verschiedene Sichtweisen von Glauben eher zu akzeptieren und offener zu werden für neue funktionale Erfahrungen.

Kosten und Nutzen

Du kannst behutsam innere und äußere Kosten und Nutzen spezifischer Glaubensinhalte und -praktiken erforschen und mit dem Patienten gemeinsam untersuchen.

 

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