Orte der Sinne – Warum wir zeitgemäße Klöster brauchen

Das Kloster als Ort der Sinne? Unser Autor Udo Boessmann hat ein konfessionsloses Kloster gegründet. (Foto: Belinda Fewings – Unsplash.com)

Eine Woche im Kloster ... verbindest du damit Askese und Gebete? Wenn du mit Religion nicht viel zu tun hast, klingt das, zugegeben, vielleicht nicht so attraktiv. Ruhe, Gemeinschaftsgefühl, Naturnähe und Sinnhaftigkeit wünschen sich hingegen viele Menschen. Warum dann nicht ein konfessionsloses Kloster gründen? Das dachte sich auch unser Autor Udo Boessmann.

Die Idee für eine neue Art von Kloster beruhte auf meinem Wunsch als Arzt und Psychotherapeut, auch über meinen Tod hinaus einen Beitrag zur Gesundheit zu leisten, denn die Kran­kenkassen-Statistiken zeigen, dass in den letzten 20 Jahren psychische Erkrankungen immer häufiger diagnostiziert und behandelt werden. Am häufigsten sind Ängste, Depressionen und psychosomatische Störungen. Mehr als ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung leidet in Deutschland inzwischen an einer psychischen Erkrankung. Am häufigsten sind Menschen mit einem niedrigen sozioöko­nomischen Status und in den Großstädten betroffen. Selbst erschreckend vielen jungen Menschen geht es nicht gut.

Nicht nur ein Problem der „Patienten“

Auch Therapeuten und Ärzten geht es da nicht anders. Neun von zehn Klinikärzten fühlen sich durch ihre Arbeitsbedingungen überfordert. Rund die Hälfte der Krankenhausärzte und ein Drittel der niedergelassenen Ärzte fühlen sich bereits ausgebrannt oder am Rande der Erschöpfung. Fast 30 Prozent sind depressiv. Suizid ist ausgerechnet bei den Psychiatern am häufigsten.

Schon lange ist bekannt, dass die Vertreter der sozialen und helfenden Berufe besonders stark durch Burnout gefährdet sind.

Die Ursachen seelischer Krankheit sind vielfältig. Neben ständigem Zeit-, Leistungs-, Erfolgs- und Konkurrenzdruck spielen auch innere und unbewusste Faktoren eine Rolle. (Foto: Nordwood Themes – Unsplash.com)

Höher, schneller, weiter?

Der Psychologe und Bestseller-Autor Stephan Grünewald spricht sogar von einer völlig „erschöpften Gesellschaft“. Die Deutschen seien durch ihr permanentes „Höher, schneller, weiter“ am Ende. Ständiger Zeit-, Leistungs-, Erfolgs- und Konkurrenzdruck mache für viele die Arbeitswelt zur Hölle.

Die Ursachen seelischer Krankheit sind vielfältig. Es gibt neben Zeit- und Leistungsdruck auch noch weitere innere und äußere, bewusste und unbewusste Faktoren: 

  • Einsamkeit und fehlende Solidarität: Für viele Menschen ist es wichtig, sich in ein größeres Ganzes eingebunden zu fühlen. Viele fühlen sich auch mit den wachsenden Anforderungen der postmodernen Gesellschaft überfordert. Sie wollen Teil einer Halt gebenden, solidarischen Gemeinschaft sein.  Doch mitmenschliche Anteilnahme und Unterstützung für Menschen in Not sind heute alles andere als selbstverständlich. Viele Menschen empfinden sich in unserer Wohlstandsgesellschaft abgehängt und als Verlierer. Gemeinsame Werte sowie familiärer und gesellschaftlicher Zusammenhalt scheinen vielerorts verloren gegangen zu sein.

  • Der Verlust von Naturverbundenheit: Zahlreiche Studien belegen, dass der Aufenthalt im Grünen zum Wohlbefinden und zur Gesundheit beiträgt: Blutdruck und Puls sinken, ebenso der Cortisolgehalt im Blut – man entspannt. Aber viele Menschen, vor allem auch Kinder, haben im Alltag wenig Kontakt zur Natur. Stattdessen werden unsere Lebensgrundlagen und die Umwelt durch einen weltweiten Kapitalismus und durch Klimawandel zerstört. Viele Menschen spüren, dass vieles von dem, was sie tun, nicht mehr richtig ist, aber sie sehen noch keinen Ausweg.
     
  • Der Verlust von Sinn: Für 93 Prozent der deutschen Beschäftigten ist es wichtig, mit dem Gefühl zu arbeiten, etwas Sinnvolles zu tun. Ein gutes Gehalt ist nur für 61 Prozent vorrangig. Menschen, die ihren Job als wenig sinnhaft erleben, leiden deutlich häufiger an Erschöpfung und haben doppelt so viele Fehlzeiten als jene, die in ihrer Arbeit Sinn sehen. Ohne Werte und ohne Erleben von Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit entstehen leicht chronische Langeweile, ein Gefühl von innerer Leere, Hoffnungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Das Leben wird dann nur noch als Last und jede Aufgabe als Qual empfunden. Umgekehrt entdecken Menschen, die eine seelische Krankheit überwunden haben, meist auch wieder Werte und eine neue Sinnhaftigkeit.

Kollektive Ursachen, individuelle Therapie

Wer seelisch krank ist, trägt sein Leiden meist allein. Auch die Behandlung erfolgt überwiegend individuell. Dabei liegen die Gründe für seelische Krankheit meist gar nicht nur im einzelnen Individuum. Kaum jemand würde heute bestreiten, dass unsere Gesellschaft als Ganzes leidet. Doch noch immer delegieren wir seelisches Leiden überwiegend an Individuen und verstehen ihre Krankheit überwiegend als ihr persönliches Problem. Die Frage ist, inwieweit nicht jeder einzelne psychisch Kranke eigentlich ein „Indexpatient“ für die kollektive seelische Not unserer Gesellschaft oder die Welt als Ganzes ist.

Die „Reparatur“ Einzelner hat – wie die Psychotherapieforschung zeigt – durchaus Erfolg. Doch der Erfolg ist begrenzt, weil in der üblichen Psychotherapie die gesamtgesellschaftlichen Faktoren und psychosozialen Rahmenbedingungen von seelischer Gesundheit und Krankheit nicht ausreichend berücksichtigt werden. Vieles spricht dafür, dass ein stärkerer gesellschaftlicher und familiärer Zusammenhalt, mehr gegenseitige Anteilnahme und Unterstützung sowie die Ausrichtung an gemeinsamen, Sinn stiftenden Werten den Bedarf an Einzelpsychotherapien deutlich reduzieren könnten.

 

Viele Umfragen zeigen, dass die Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität, nach Halt in ihrem Leben, nach etwas, das ihrem Leben Sinn geben kann, zunimmt. (Foto: Ben White – Unsplash.com)

Spirituelle Sehnsucht unabhängig von Religion

Seit Jahrtausenden gibt es Menschen, die sich in ihrem Leben auf das Wesentliche besinnen wollen. Sie sehnen sich danach, mit etwas Bedeutungsvollem in Kontakt zu sein, das im Lärm der Welt unterzugehen droht. Dazu kommt, dass viele Menschen sich nicht vorstellen können, dass die sichtbare, „objektive“ Wirklichkeit die einzige ist.

Insgesamt nimmt der Glaube an einen Gott jedoch ständig ab. An zentrale christliche Glaubensinhalte wie den Heiligen Geist glauben nur 39 Prozent. Wie stark der Trend weg von traditionellen religiösen Vorstellungen ist, zeigt eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2018, bei der 19- bis 27-Jährige befragt wurden. 61 Prozent der jungen Erwachsenen bezeichnen sich als nicht-religiös, 19 Prozent als religiös, 20 Prozent als unentschlossen. Für nur 7 Prozent spielt der Glaube im Alltag eine große Rolle. 

Doch Jugendliche und junge Erwachsene sind nicht generell an Religion desinteressiert. Viele Umfragen zeigen, dass die Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität, nach Halt in ihrem Leben, nach etwas, das ihrem Leben Sinn geben kann, zunimmt.

Klösterliche Gemeinschaften ermöglichen Rückzug aus der Alltagswelt, Stille und Besinnung. (Foto: Oriento – Unsplash.com)

Wertvolle Ansätze aus der Jahrtausende alten Klostertradition

Ähnlich wie die Amtskirchen erreichen heute traditionelle Klöster die meisten Menschen nicht mehr. Ihre strengen Regeln, zum Beispiel Armut, Askese, Keuschheit, Gehorsam und das Bekenntnis zu einer einzigen Heilslehre, erscheinen vielen nicht mehr zeitgemäß. Trotzdem beinhalten die Klostertraditionen der verschiedenen Religionen sehr viel Wertvolles. So bieten klösterliche Gemeinschaften in der Regel:

  • einen gegen die Hektik der Welt abgeschirmten Ort, der einen Rückzug aus der Alltagswelt ermöglicht,
  • geschützte Räume der Stille und Besinnung, in denen aber niemand einsam sein muss,
  • einen Ort mit klaren Regeln, an dem sich innere Entwicklung und Freiheit entfalten können,
  • Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, mit denen zusammen bestimmte Werte gelebt werden können,
  • Entschleunigung und Ruhe,
  • gemeinsame Rituale,
  • geistiges und geistliches Studium,
  • gegenseitige Unterstützung,
  • freiwilligen Verzicht (Askese), um neue und tiefere Erfahrungen zu machen
  • gemeinsames Streben nach Entfaltung des schöpferischen Potenzials,
  • gesunde Ernährung, Eigenanbau eines Großteils der Nahrung, Tierhaltung,
  • oft Nähe zur Natur,
  • Gastfreundschaft.

Auch in den traditionellen Klöstern anderer Religionen sind die Angebote ähnlich breit. Dazu gehören z.B. Meditationen, Fasten, Yoga, Qi-Gong und Tai-Chi, sakraler Tanz, Teezeremonien, Maltechniken und Gartenarbeit.

Eine neue Art von konfessionsfreiem Kloster

Wenn die traditionellen Klöster derart reich an wertvollen Erfahrungen, Strukturen und Angeboten sind, aber die Religionen den meisten Europäern heute nichts mehr geben, warum gründen wir dann nicht ein Kloster ohne einen bestimmten religiösen Anspruch? Was spricht gegen ein konfessionsloses Kloster, das für die große Vielfalt spiritueller, wissenschaftlicher, philosophischer, künstlerischer und therapeutischer Ansätze und Strömungen aus aller Welt offen ist?

Ein zeitgemäßes Kloster darf seinen Bewohnern auch – anders als die traditionellen Klöster – privaten Komfort bieten, zum Beispiel ein eigenes Bad. Was uns darüber hinaus wichtig ist:  

Gemeinschaft leben. Mit gegenseitigem Wohlwollen und Respekt. (Arthur Poulin – Unsplash.com)

Gegenseitiges Wohlwollen und Respekt
Es kann gut sein, dass im konfessionsfreien Kloster Christen, Buddhisten und Yogis auf Atheisten treffen, Tantriker auf Sufis, Karriereorientierte auf Träumer, Konservative auf Alternative. Es gilt der Grundsatz: Ehre, was anderen heilig ist. Es geht um gegenseitiges Wohlwollen, Respekt und Toleranz. Niemand darf wegen seiner Hautfarbe, Religion, Herkunft, Überzeugung, seinem sozialen oder wirtschaftlichen Status sowie seinem Geschlecht ausgeschlossen oder benachteiligt werden. Die Würdigung der Einzigartigkeit und Individualität jedes Menschen einschließlich seiner besonderen Fähigkeiten und Bedürfnisse steht im Vordergrund.

Das moderne Kloster ist kein Ort für eine geschlossene, gegen alternative Sichtweisen immunisierte Lehrmeinung, Weltanschauung oder Religion. Auch als unfehlbar angesehene Lehrer, Gurus oder Führer passen hier nicht her.


Nachhaltiger Umgang mit der Natur
Wichtig ist auch der respektvolle Umgang mit der Natur und mit allen Lebewesen sowie ein nachhaltiges, menschliches, sozial gerechtes und ökologisch verantwortungsvolles Wirtschaften.

Das konfessionslose Kloster kann so ein Ort der Stille, des Rückzugs und der Muße sein. Ein Ort der Gemeinschaft und Gruppenarbeit, wo man sich im Einklang mit der Natur durch Achtsamkeit, Meditation, Körperarbeiten, Singen, Malen oder Kreativität mit den Fragen des Lebens auseinandersetzen kann. Seien es Krisen, Abschied, Trauer oder aber Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität. Ein Ort, wo man dazu gehört und Zeit hat ... vielleicht auch, um einfach mal nichts zu tun.

 

Zum Informieren: www.klosternatursinne.at