Trauernde während des Lockdowns begleiten und unterstützen
Besuchsverbote in Krankenhäusern, Beerdigungen im kleinsten Rahmen und fehlende soziale Kontakte. Wie kann man trauern, wenn man durch Covid-19 keinen richtigen Abschied nehmen kann? Unsere Autorin Alexandra Kossowski ist Trauercoach und teilt mit dir ihre Erfahrungen aus dem Lockdown.
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich spüre den Lockdown sehr stark, obwohl ich zurzeit relativ normal arbeiten kann. Der Ausgleich fehlt durch Kultur, Freund*innen, gemeinsame Unternehmungen, Sport, Essen gehen und den fehlenden Tapetenwechsel durch Urlaub und Reisen. Ich fühle mich zusehends gestresster, da mein Körper und Kopf Abwechslung suchen, die sie gerade nicht bekommen.
Wenn es uns also im „normalen“ Leben schon so geht, wie soll es erst für trauernde Menschen sein?
Wie kann man ohne Abschied trauern?
So kurz vor dem Jahrestag des ersten Lockdowns hätte wohl niemand gedacht, dass uns Corona immer noch dermaßen beschäftigt. Und obwohl wir bereits seit knapp einem Jahr mit Besuchsbeschränkungen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen leben, haben wir immer noch keinen passenden Weg für Abschiede von Sterbenden gefunden.
Die Medien sind zurzeit voll von Berichten über Menschen, die allein sterben, von Angehörigen, die sich nicht verabschieden können.
Wie können wir Menschen unterstützen, die in diesen Zeiten trauern?
Was passiert, wenn wir uns nicht persönlich verabschieden können?
Eigentlich begleiten uns „verpasste“ oder nicht stattgefundene Abschiede schon immer: Kontaktabbruch (auch sog. „Ghosting“), Suizid, Trennung ohne Aussprache, verschollen/vermisst sein, fliehen müssen…
Das Abrupte, Unerwartete, Unverhoffte. Zurück bleiben wir mit Unausgesprochenem und Nicht-Gesagtem, aber auch mit dem Unvermögen, begreifen zu können, was passiert ist, denn die Person ist für uns wortwörtlich „un-fassbar“.
Wenn ich mich nicht persönlich von einem geliebten Menschen verabschieden kann, fehlen mir die physischen Eindrücke, beispielsweise der Geruch am Sterbebett oder bei der Beisetzung. Das Gefühl, die Hand ein letztes Mal halten zu können. Das Holz des Sarges zu fühlen. Gemeinsam den oder die Sterbende verabschieden, sich gemeinsam halten. Aussprechen können, was noch zu sagen ist. Mit all meinen Sinnen dabei sein und verstehen, sehen, riechen, fühlen, was gerade passiert. Selbst das gemeinsame „Schmecken“ beim Leichenschmaus fehlt.
Wenn ich das alles nicht er- und durchlebe, fehlen mir die Eindrücke zur Verarbeitung. Viele Trauernde berichten, dass sie eigentlich gar nicht glauben können, was passiert ist. Und hier sprechen wir nicht davon, dass sie es nicht glauben wollen. Der Verlust einer geliebten Person hinter verschlossenen Türen schafft eine Lücke in unserem Erleben.
Das Unterstützungsnetz fehlt im Lockdown ebenfalls
Freund*innen sind mit ihren eigenen Themen während des Lockdowns beschäftigt. Die eigenen Kinder leben weiter weg und können momentan nicht so oft anreisen, wie sie es sich wünschen würden. Verwandte leben vielleicht sogar im Ausland. Auch wichtige Gruppenangebote zum Austausch von trauernden Menschen untereinander sind nicht möglich, wie zum Beispiel (kostenfreie) Trauercafés, wie sie auch oftmals von Hospizen angeboten werden. Für die ein oder anderen bricht zurzeit durch Home-Office, Kurzarbeit oder gar Jobverlust sogar das Kolleg*innennetz weg.
Diese Trauernden erleben nicht nur den Verlust eines Menschen. Sie konnten ihn in seinen letzten Stunden ggf. aufgrund von Besuchsbeschränkungen im Krankenhaus, Pflegeheim oder Hospiz nicht begleiten. Sie konnten sich nicht gebührend verabschieden und bleiben mit ihrer Trauer allein. Zudem müssen sie aushalten können, dass Verwandte, die weiter entfernt oder im Ausland leben, überhaupt nicht zur Trauerfeier kommen können. Auch hier fehlt der Beistand untereinander. Das Wissen, dass diese Menschen ebenfalls mit ihrer Trauer allein sind, ist zusätzlich belastend.
Schuldgefühle nehmen zu
In letzter Zeit begegnen mir häufig Trauernde, die sich schwere Schuldvorwürfe machen. „Hätte ich doch darauf bestanden, meinen Vater nochmal zu sehen.“ „Hätte ich mich bloß nicht vom Krankenhaus abwimmeln lassen.“
Sie machen sich selbst verantwortlich dafür, dass sie aufgrund der Besuchsbeschränkungen nicht zu ihren sterbenden Angehörigen durften. Sie haben das Gefühl, nicht genug unternommen zu haben, ihnen in den letzten Stunden beistehen zu können und finden die Vorstellung, dass ihr geliebter Mensch allein gestorben ist, erdrückend.
Für die Bearbeitung von Schuldgefühlen wird jede*r von uns ein ganz eigenes Repertoire haben. Mit auf den Weg geben möchte ich dir ein tolles Buch von Chris Paul (2010), welches sich speziell auf Schuld in der Trauer bezieht (Schuld – Macht – Sinn: Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess. Gütersloher Verlagshaus).
Wie können wir diese Menschen unterstützen?
Ich habe ein paar ganz konkrete Vorschläge, die Trauernde ins Tun bringen und ihnen ein Gefühl von Kontrolle zurückgeben können. Wichtig ist, Trauernden einen Weg aufzuzeigen, bei dem sie aktiv sein und aus der Ohnmacht der zurzeit nicht änderbaren Situation herausfinden können.
Ich frage meine Klient*innen meistens, wie der Abschied in ihrer Idealvorstellung gewesen wäre. Was hätte passieren müssen, damit es sich jetzt „rund“ anfühlt? Jede*r weiß sofort, was ihm*ihr fehlt. Dann versuchen wir gemeinsam zu erarbeiten, was davon auch nachträglich und/oder in abgewandelter Form möglich wäre und wie es umsetzbar ist.
Folgende Beispiele sind u. a. Lösungen aus meinen Begleitungen:
-
Eine Handvoll Erde vom Grab kann als Grundstock für eine Pflanze im eigenen Zuhause dienen. Die Pflanze oder auch der Samen wird gehegt und gepflegt und erinnert uns daran, dass etwas Neues entsteht. Man kann Erde auch an diejenigen senden, die nicht Abschied nehmen konnten.
-
Handschriftlich Gedanken, Wünsche oder das Nicht-Gesagte aufzuschreiben ist zu jeder Art von Verarbeitung wertvoll. Hier kann nach außen gebracht werden, was nicht am Sterbebett gesagt werden konnte. Der Brief kann zerrissen, verbrannt oder auch auf dem Friedhof vergraben werden.
-
Ein Stofftier o. ä. kann in doppelter Ausführung gekauft oder ein Foto zweimal gedruckt werden. Eines gibt man dem*der Verstorbenen mit, das andere behält man selbst und hat fortan eine bestehende Verbindung.
Ein solcher Gegenstand kann natürlich auch anschließend versendet werden.
-
Ebenso kann man ein Band in einer Lieblingsfarbe entweder dem*r Verstorbenen mitgeben oder ins Grab integrieren, vielleicht an einer Pflanze oder am Grabstein. Dieses Band wird in mehrere Stücke geteilt und alle Beteiligten, die nicht Teil des Abschieds oder der Feierlichkeit sein konnten, erhalten ein Stück der „Verbindung“ per Post.
-
Generell besteht auch die Möglichkeit, auf ein nachgeholtes, gemeinsames Fest nach dem Lockdown hinzuarbeiten. Gibt es dann einen gemeinsamen Leichenschmaus? Wird schon der erste Todestag gefeiert? Wird es ein Erinnerungsfest statt einer Trauerfeier? Verwandte oder Freund*innen können gebeten werden, Geschichten oder Anekdoten des*r Verstorbenen zu sammeln und gemeinsam zu erinnern.
Erinnere die Trauernden daran, dass sie unter erschwerten Bedingungen trauern. Auch wenn Unruhe, Wut, vielleicht sogar Aggressivität durchaus in der Trauer vorkommen, so sind sie momentan verstärkt und schlagen uns nicht selten auch noch von unseren Mitmenschen entgegen.
Mir persönlich hilft die Besinnung darauf und aktuell gebe ich dies allen Trauernden mit auf den Weg, um ein wenig mehr Milde für sich und ihre Situation zu finden. Zu guter Letzt ist Trauer – wie jeder andere Prozess auch - immer sehr individuell, auch im Lockdown. Trauernde fühlen sich oft unsicher, ob sie „richtig“ trauern. Auch hier kann es ihnen sehr viel Druck nehmen, die Individualität des eigenen Trauerprozesses zu betonen.