Was mich das Reisen als Psychologin lehrt
Seit fast fünf Jahren reist unsere Autorin Sonia Jaeger durch die Welt und berichtet auf ihrem Blog und ihren Social Media-Kanälen über ihr Leben als digitale Nomadin und Onlinetherapeutin. Welche Erfahrungen macht man, wenn man immer wieder an neuen, unbekannten Orten lebt? Und was lernt man als Psychologin daraus? Ein Erfahrungsbericht.
Seit fast 5 Jahren reise ich durch die Welt, seit gut 4 Jahren arbeite ich als Psychologin online und berate Menschen aus aller Welt per Video und Email. Ich lebe und arbeite im Schnitt in 8 bis 12 Ländern pro Jahr, letztes Jahr war ich länger in Lateinamerika unterwegs, dieses Jahr in Australien und Asien, nächstes Jahr steht (Ost-)Europa auf dem Plan. Gerade sitze ich in einem Café in Japan, genauer in Enoshima, einem kleinen Badeort nicht weit von Tokyo. Klingt exotisch, oder? Ist es auch, in gewisser Hinsicht. Andererseits sieht mein Tag hier gar nicht so anders aus als der von vielen anderen Selbstständigen.
Frühstück, Emails, To-Do-Liste abarbeiten. Das gilt in Japan genauso wie in Deutschland. Nur die Menschen hier im Café um mich herum sehen ein bisschen anders aus und verstehen kann ich sie auch eher nicht. Im Supermarkt nachher wird es einiges geben, was in Deutschland eher schwer zu finden ist, dafür ist es hier fast unmöglich ein richtiges Brot zu finden, das diesen Namen auch verdient. Auch wenn ich häufiger betone, dass mein Leben gar nicht so anders ist als früher, stimmt es natürlich doch auch, dass ich in den letzten Jahren viel über die Welt und vor allem über mich selbst gelernt habe. Viele dieser Erfahrungen fließen auch direkt in meine Arbeit mit meinen Klienten ein und ich bin fest davon überzeugt, dass das Reisen, mit allen Vorteilen und Herausforderungen meine Arbeit täglich aufs Neue beeinflusst.
Wir sind alle Menschen
Wenn man aber als digitaler Nomade ständig an (vermeintlich) exotischen Orten unterwegs ist, dann kann dies zu ganz merkwürdigen Dynamiken im Kontakt mit den "Daheimgebliebenen" führen. So nach dem Motto, "erzähl du mal, du hast doch so viel Spannendes erlebt, bei uns ist alles wie immer". Leider führt dies dann sehr schnell zu sehr einseitigen Erzählungen und eben nicht zum Austausch, den wir Menschen doch eigentlich alle wollen. Ein besonders toller Job, viel Geld oder das Leben im Paradies? Mich hat das Reisen vor allem gelehrt, dass die Menschen doch überall sehr ähnlich sind und was wir alle am meisten brauchen, ist der offene und authentische Austausch mit anderen Menschen. Wir wollen weder derjenige sein, der nur von unseren tollen Erlebnissen erzählt, noch derjenige, der nur zuhört. Es geht darum den gemeinsamen Nenner zu finden und einen wirklichen Austausch entstehen zu lassen. Das gilt für mich privat genauso wie in meiner Arbeit. Ich versuche deshalb, auch auf meinen Social Media-Kanälen nicht nur von den exotischen Orten, die ich besuche, zu schwärmen, sondern gebe regelmäßig Einblicke in die Realität des Reisens und Arbeitens unterwegs, mit allen Herausforderungen und Problemen, die dazu gehören.
Auch viele meiner Klienten leiden darunter, dass ihr Umfeld sie nicht wirklich versteht. Sei es, weil sie als "reiche" Expat-Ehefrau doch wirklich keinen Grund zum Klagen haben, sei es, weil sie doch einfach "nach Hause" kommen sollten, wenn ihnen das Leben in der Ferne nicht gefällt oder weil keiner so wirklich nachvollziehen kann, wie anstrengend so ein Alltag im Paradies doch sein kann. Mir selber hilft da meine eigene Reiseerfahrung sehr. Denn im Grunde ist es doch fast egal wo ich bin, einen schlechten Tag haben, traurig oder unglücklich sein, das kann man eben wirklich überall, auch im Paradies, manchmal sogar gerade dort.
Meine Haltung beim Reisen und als Therapeutin
In vielerlei Hinsicht ist meine Haltung beim Reisen dieselbe wie in meiner früheren psychotherapeutischen und heute beratenden Arbeit. Ich bin offen und neugierig, ich höre zu und schaffe einen Raum für eine Begegnung und einen Austausch. Dabei gehört es auch immer wieder dazu, dass ich mich den jeweiligen Gepflogenheiten anpassen und unterordnen muss. Ich bin hier Gast und möchte das Land und die Leute kennen lernen, da ist es egal, ob mir das unlogisch vorkommt, wie die Dinge hier gehandhabt werden. Im ersten Schritt ist meine Aufgabe das Zuhören, das Abholen dort, wo der Klient steht, mit all seinen Widersprüchen und eigenen Logiken. Ich bin nicht der Missionar, der alles besser weiß. Ich bin der Gast, der erstmal zuhören, kennenlernen und verstehen möchte. In meiner Arbeit hilft mir das sehr, denn auch wenn wir Therapeuten zwar grundsätzlich so arbeiten, so haben wir doch oft auch eine ganze Reihe an Erwartungen, Vermutungen und Vorurteilen. Gerade in der Arbeit mit multikulturellen Klienten ist es aber besonders wichtig, diese Vorurteile erstmal zu Hause zu lassen, sich voll und ganz auf das Gespräch einzulassen und die Kultur des Gegenübers kennenzulernen. Je mehr ich mir meiner eigenen Vorurteile bewusst bin, desto leichter kann ich dann auch vorurteilsfrei auf mein Gegenüber eingehen. Auch da hilft das Reisen, denn ich wundere mich doch fast täglich über das Eine oder Andere, was für die Einheimischen so ganz normal ist.
Reisen fördert Flexibilität und Gelassenheit
Da ich sehr viel und alle paar Wochen oder Monate das Land wechsle, muss ich mich ständig neu orientieren. Links- oder Rechtsverkehr? Wie wird gegrüßt oder das Geld überreicht? Welche Kleidung sollte ich tragen und was sollte ich unbedingt vermeiden? Natürlich bleibt es da nicht aus, dass ich regelmäßig in Fettnäpfchen trete, aber hier in Japan sind die Menschen viel zu freundlich, um einen das spüren zu lassen. In anderen Ländern kriege ich zwar mit, dass es ein Missverständnis gibt, aber worum es genau geht, das bleibt oft ungeklärt. Ich kann also nur versuchen freundlich und offen zu sein und abzuwarten, was passiert. Das Reisen fordert unglaubliche Flexibilität von einem und mit Frust umzugehen, lernt man auch täglich aufs Neue. Im Grunde ist das Reisen eine ständige Konfrontationsübung mit den eigenen Unzulänglichkeiten, dem eigenen Unwissen und den mangelnden Fähigkeiten. Das fängt schon dabei an, dass ich es nur selten auf Anhieb schaffe, eine Tür aufzuschließen, denn wie rum das geht ändert sich alle paar Wochen. Hinzu kommen die vielen kleinen und großen Frustrationen des Reisens, vom verspäteten Flug über den Zug, der sich an keinen Fahrplan hält, bis zu dem Bus, den es schon seit 2 Jahren nicht mehr gibt obwohl man das Ticket erst vor wenigen Tagen online gekauft hat und der natürlich der letzte Bus an dem Tag gewesen wäre. Beim Reisen geht ständig etwas schief und in den meisten Fällen kommt man mit Ärgern und Schimpfen auch nicht schneller ans Ziel. Spontan auf das Ungeplante und Unvorhersehbare reagieren, in Krisenzeiten ruhig bleiben, erstmal tief durchatmen und dann nach neuen Lösungen suchen, alles Dinge, die mir in meiner täglichen Arbeit mit meinen Klienten sehr zu Gute kommen.
Im Hier und Jetzt sein
Viele Dinge, die ich früher blind und ganz automatisch getan habe, muss ich durch das viele Reisen viel bewusster machen. Ganz extrem ist das natürlich, wenn ich in Australien Auto fahre, aber auch schon das Überqueren der Straße ist eine Herausforderung, wenn man alle paar Wochen zwischen Links- und Rechtsverkehr hin und her wechselt und in manchen Ländern weder rote Ampeln noch Fußgängerüberwege wirklich mehr als eine Straßendekoration darstellen. Im Hier und Jetzt bleiben und mich immer wieder neu an den Einheimischen orientieren, nur so kann ich den ständig wechselnden Straßenverkehr und die vielen anderen Dinge, die jeden Monat wieder anders und neu sind, unbeschadet überleben. Das Reisen lehrt mich also immer wieder mehr im Hier und Jetzt zu sein. Die kleinen Dinge des Alltags bewusster wahrzunehmen und zu machen. Manchmal frustriert das, oft ist es aber auch eine hilfreiche Erinnerung an das Entschleunigen und die Achtsamkeit, ganz konkret im Alltag, so wie wir es unseren Klienten ja auch immer empfehlen.