Medizinisches Cannabis – neue Hoffnung für chronische Schmerzpatient:innen

Ein Mann mit medizinischer Maske und Handschuhen hebt ein Cannabis-Blatt vor die Kameralinse

Seit 2017 können Ärzt:innen Cannabis (Cannabinoide) bei schwerwiegenden Erkrankungen oder fehlenden Therapiealternativen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnen. Seither setzen immer mehr chronische Schmerzpatient:innen hohe Erwartungen in cannabisbasierte Medikamente als Alternative zu den klassischen Schmerzmitteln, mit denen sie meist schon über viele Jahre behandelt werden.  

Um mit klassischen Schmerzmitteln einen schmerzlindernden Effekt zu erhalten, bedarf es im langjährigen Behandlungsverlauf oft einer Anpassung der Dosierung (Höherdosierung), was zumeist auch eine Intensivierung der bereits vorhandenen Nebenwirkungen nach sich zog.  

Medizinisches Cannabis als letzte Rettung?

Für chronische Schmerzpatient:innen, die schon lange Schmerzmittel einnehmen, ohne auf Dauer wesentliche Schmerzlinderung zu verspüren, jedoch in ihrem Lebensalltag durch starke Nebenwirkungen massiv belastet werden, ist medizinisches Cannabis die letzte Rettung, verbunden mit der Hoffnung, endlich deutliche Schmerzlinderung zu erreichen. Das aus der Hanfpflanze Cannabis sativa gewonnene Produkt gibt es in verschiedenen Darreichungsformen, etwa als Marihuana aus den getrockneten Blüten der weiblichen Hanfpflanze oder als Haschisch, das gepresste Harz der Hanfpflanze, sowie als Haschischöl (Haschöl, THC-Öl). Die aus der Hanfpflanze extrahierten Cannabinoide können einen positiven Effekt auf Körper und Psyche haben, da sie die Homöostase des Körpers fördern und dadurch psychisch zu einem Gefühl von Wohlbefinden durch Entspannung beitragen. Entscheidend für die medizinische Verwendung von Cannabis sind die beiden Cannabinoide Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD).  

  • THC wirkt stimmungsaufhellend, verändert die Wahrnehmung (Rauschzustand) und hat ein hohes Suchtpotenzial.  
  • CBD wirkt entzündungshemmend, schmerz- und krampflindernd, angstlösend.  

Der menschliche Körper produziert selbst cannabisähnliche Wirkstoffe, sogenannte Endocannabinoide, die ihre Wirkung, ähnlich wie wenn sie von außen zugeführt werden, über zwei Typen von Cannabinoid-Rezeptoren Typ 1 und Typ 2 entfalten. Rezeptor Typ 1 (CB 1) befindet sich besonders im zentralen Nervensystem und ist in erster Linie relevant zur Erforschung der Wirkweise von Cannabinoiden bei Nervenschädigungen und neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa Demenz oder Parkinson. Rezeptor CB 2 kommt vor allem im Immun-, Verdauungs- und Fortpflanzungssystem, aber auch in Knochen, Lunge, Haut, hormonellen Drüsen und Augen vor und wirkt antientzündlich.

THC bindet sich an den Rezeptor CB 1 im Gehirn und aktiviert diesen, was zur Ausschüttung von Glückshormonen führt und dadurch die Gefahr von Suchtpotenzial erhöht. CBD blockiert die Bindung von THC an die Cannabinoidrezeptoren und verhindert/lindert somit die Entfaltung eines Rauschzustandes.

Einsatzgebiete und Wirkweise von Cannabis-Präparaten bei chronischen Schmerzstörungen

Medizinisches Cannabis kann von Ärzt:innen (Fachärzt:innen, insbesondere von speziellen ärztlichen Schmerztherapeut:innen sowie von Hausärzt:innen) nur in den bereits zu Beginn des Artikels erwähnten Einzelfällen verordnet werden und bedarf bei Beantragung der Kostenübernahme durch die Krankenkasse einer besonderen Begründung.  

Auf einer Handfläche liegen Schmerzmittel in Tablettenform.

Die Indikation chronischer Schmerz führt dabei bei den Krankenkassen am häufigsten zu einer Genehmigung der Behandlung mit medizinischem Cannabis. Das gesteigerte Interesse der chronischen Schmerzpatient:innen in meiner psychotherapeutischen Praxis mit Schwerpunkt „spezielle Schmerzpsychotherapie“ an einer Behandlung mit medizinischem Cannabis, verbunden mit der Hoffnung, endlich Schmerzlinderung zu erfahren, die trotz langjähriger Behandlung mit klassischen Schmerzmedikamenten nicht erreicht werden konnte, ist im Verlauf der letzten Jahre verstärkt zu beobachten. Patient:innen, die sich noch davor scheuen, Ärzt:innen anzusprechen, kaufen sich zunächst das freiverkäufliche CBD-Öl (Cannabidiol- oder Hanföl), das in Deutschland als Nahrungsergänzungsmittel deklariert wird, nicht abhängig macht und deshalb legal ist, sofern der THC-Gehalt im Cannabidiol unter 0,2 Prozent liegt. Es ist meist als Tinktur erhältlich, kann pur oder vermischt eingenommen werden bei individueller Dosierung. Die meisten meiner Patient:innen mit unterschiedlichen chronischen Schmerzstörungen berichten eine durchweg positive Wirkung auf den Schlaf, die Konzentrationsfähigkeit und das allgemeine Wohlbefinden, wobei letzteres durchaus als Folge der verbesserten Schlafhygiene zu werten ist. Bis auf eine entspannende sowie krampflösende Wirkung wurde die erhoffte Schmerzlinderung jedoch in keinem Fall berichtet.  

Die medizinische Verwendung von Cannabis wird kontrovers diskutiert

Die medizinische Verwendung von Cannabis-Präparaten und deren Wirkweise auf verschiedene chronische Schmerzstörungen wird trotz vorhandener Studien bis dato kontrovers diskutiert. Eine relativ gute Wirksamkeit von cannabisbasierten Medikamenten konnte insbesondere bei neuropathischen Schmerzen, Spastiken bei Multipler Sklerose (MS) sowie bei Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit bei Krebserkrankungen unter Chemotherapie erzielt werden. Die am häufigsten verordneten cannabishaltigen Arzneimittel sind neben den Cannabis-Blüten, die eine gewisse Konzentration an THC als auch CBD aufweisen und mittels eines Verdampfers inhaliert werden, Fertigarzneimittel wie etwa „Sativex“, ein THC/CBD-haltiges Konzentrat, das als Mundspray zur Behandlung von Spastiken bei MS eingesetzt wird. Synthetisch hergestellte Cannabinoide, etwa „Nabilon“, werden gegen Übelkeit und Erbrechen bei Tumorschmerzen unter Chemotherapie angewendet. Ein weiteres, (teil-)synthetisch hergestelltes Cannabinoid, das aus meiner Erfahrung als Schmerzpsychotherapeutin am häufigsten verordnet wird, ist „Dronabinol“, ein D9-Tetrahydrocannabiniol (THC). Es wirkt psychoaktiv und ist ausschließlich mit speziellem BtM-Rezept in Form von Tropfen oder Kapseln erhältlich, die zwecks optimaler Einstellung „individuell eintitriert werden müssen“.

Bei Behandlung mit cannabisbasierten Arzneimitteln sind das Autofahren und die Bedienung von Maschinen lediglich bei der Ersteinnahme eingeschränkt. Bei Berufskraftfahrern bedeutet sie jedoch eine dauerhafte Fahruntauglichkeit.

Berichtete Nebenwirkungen bei der Behandlung mit Cannabinoiden sind – meist nur über einen relativ kurzen Zeitraum bis zu wenigen Monaten – Benommenheit, Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen, Stimmungsschwankungen, Gewichtszunahme, Herz- und Kreislaufprobleme.

Indikation

Aufgrund der bisherigen Studienlage sowie Erkenntnissen aus der Praxis von Behandler:innen besteht für folgende Erkrankungen und Anwendungsbereiche eine hinreichende Indikation für eine Therapie mit medizinischem Cannabis: chronische neuropathische Schmerzen, u. a. „chronisch regionales Schmerzsyndrom“ (CRPS) Spastiken bei Multipler Sklerose Epilepsie Übelkeit und Erbrechen bei Tumorschmerzen nach Chemotherapie Appetitsteigerung bei HIV/AIDS 

Eine blonde junge Frau sitzt auf einem Sofa und hält sich ihren schmerzenden Kopf.

Eine Verbesserung des Schlafs und eine Reduktion der Übererregbarkeit sowie die Förderung von Entspannung wurden berichtet bei 

  • ADHS 
  • Tourette-Syndrom 
  • Angststörungen 

Für alle weiteren chronischen Schmerzsyndrome ist der Einsatz von cannabisbasierten Medikamenten lediglich ein individueller Behandlungsversuch, wenn etwa klassische Schmerzmittel trotz langer Einnahme versagen und/oder nicht weiter zumutbar sind. Dies gilt insbesondere für chronische 

  • Rückenschmerzen 
  • Kopfschmerzen 
  • muskuläre Schmerzen 
  • rheumatoide Arthritis 
  • Morbus Crohn 
  • Bauchspeicheldrüsenentzündung 
  • Reizdarmsyndrom 

Insgesamt bleiben die weitere wissenschaftliche Studienlage sowie die Erfahrungswerte von Behandler:innen insbesondere aus den schmerztherapeutischen Praxen und Schmerzkliniken (meist mit Begleitforschung) abzuwarten. 

Dieser Artikel ist ursprünglich in der „VPP aktuell“ erschienen:  

Bentz, Christel (2023). Medizinisches Cannabis – neue Hoffnung für chronische Schmerzpatient:innen. VPP aktuell, 60, S. 8-10.