"Der nette Narzisst" - Interview mit Dr. Pablo Hagemeyer

Jeder von uns trägt ein bisschen davon in sich - die einen weniger und andere umso mehr: Narzissmus. Im Alltagsverständnis gilt er vorwiegend als Ausdruck krankhaft überhöhter Selbstverliebtheit. Dr. Pablo Hagemeyer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist selbst Narzisst und weiß: Narzissmus und Narzissmus sind mitunter nicht das Gleiche. Wie er sich äußern kann und welche Rolle Narzissmus in der Psychotherapie spielt, erzählt er uns im psylife-Interview.

Sie bezeichnen sich selbst als einen „netten Narzissten“. Was ist damit gemeint?

Na,... so halt. Nett. Sympathisch. Ungefährlich. Freundlich. Humorvoll. Ironisch. Sozial kompatibel. Empathisch. Dass Narzissten per Definition und Vorurteil immer mit der bösartigen, toxischen und psychopathischen Seite in Zusammenhang gebracht werden, wollte ich mit dieser Bezeichnung brechen. Der nette Narzisst wandelt seine selbstbezogenen Charaktereigenschaften um. Aus der Selbstbezogenheit und dem egoistischen Handeln wird ein kooperativer Stil. Die Energie und der Wille, etwas zu erreichen, erfolgreich oder leidenschaftlich sein oder besonders unterhaltsam, besonders gewitzt wirken zu wollen - nun, das bleibt. Der nette Narzisst schreitet nicht auf Kosten anderer Personen durch die Welt. Er kann diese antisozialen psychopathischen Spielchen zwar spielen, unberechenbar und skrupellos sein, aber er tut es nicht. Der toxische und psychopathische Narzisst verfolgt hingegen eine andere Agenda. Er verbirgt seine Absichten, übt Kontrolle und Macht aus, will gewinnen und genießt diese Sadismen. Das liegt mir fern.

Dr. Pablo Hagemeyer, lächelnd

Wer hat Ihnen verraten, dass Sie ein Narzisst sind? Heißt es nicht, ein Narzisst könne sich selbst nicht als Narzisst begreifen?

Wer sich wie ich beruflich mit Psychopathen, Persönlichkeitsstörungen und der  Psychopathologie des Menschen befasst, stößt automatisch auf diese Charakterkonstellation. Insofern hatte ich schon die Tools zur Selbsterkenntnis zur Hand. In meinem Fall bemerkte ich durch mein berufliches Leistungsumfeld eine große Kritikempfindlichkeit, die ich gut zu verbergen wusste. Mediziner sind sehr leistungsbereit. Auch ich bin das, bis zur Niederlage. Andersherum fällt mir bei Fehlern und nicht so guten Leistungen eine Entschuldigung oder ein „es tut mir leid“ sehr schwer. Ich musste das wirklich lernen. Auch verfolge ich gerne Ideale, ich überhöhe gerne die Dinge, erhebe und übertreibe gern.

Sehr viel größere Anteile finde ich dankenswerterweise in mir, die den positiven Selbstschemata entsprechen und tatsächlich den früh angeknacksten Selbstwert stärken. Der Glaube an die eigene Person, die Energie für das Leben – wie Leidenschaft und die Ausdauer, Ziele zu verfolgen –, die Sympathie und die Freude, etwas bewirken und vermitteln zu können, ja auch die Freude am Erfolg. Seitdem weiß ich: Nach Rückschlägen, die immer bitter sind, gibt es auch immer wieder kleine und größere Erfolge. Bis ich das kapiert habe, brauchte ich eine Weile.

Naja, irgendwann sagte mir auch eine Kollegin auf den Kopf zu, dass ich ein netter Narzisst sei. Damit konnte ich leben.

Hand zu einer Skyline hin ausgestreckt

Wo hört Alltagsnarzissmus auf und wo fängt krankhafter toxischer Narzissmus an?

Alltagsnarzissmus ist ein schöner Begriff. Wer narzisstisches Gehabe kennt, der braucht nur das Umfeld dieser narzisstischen Person zu befragen und wird immer dieselbe Antwort bekommen: „Ja, der nervt, der ist schon etwas narzisstisch“. Narzissmus ist ja eigentlich eine Inkompetenz. Narzissten überschätzen sich selbst, reißen mit dem Arsch ein, was sie und andere zuvor aufgebaut haben. Der pathologische Narzisst kann nur aggressiv mit dieser selbstverursachten Niederlage umgehen. Das ist die Schwelle zum krankhaft-toxischen Narzissten. Die gefährliche Fratze des Narzissmus ist Angst, Aggression, Paranoia bis zu konkreten Feindbildern, die angegriffen werden oder von denen man sich bedroht fühlt. Das führt zu einem ziellosen, blinden Agieren mit kurzfristigen Scheinlösungen voller Inkonsequenzen, um nur den einen zu retten: sich selbst. Solange der Narzisst über seine eigene inkompetente Seite noch schmunzeln kann und für den angerichteten Schaden gerade steht, ihn vielleicht auch korrigieren kann, würde ich sagen, ist das eine Kompetenz.

Sie arbeiten als Psychiater selbst viel mit narzisstischen Klienten. Was sind die besonderen Herausforderungen?

Die Selbsterkenntnis im anderen auszulösen, mal darüber nachzudenken, ob es denkbar wäre, selbst toxische narzisstische Muster zu haben, die menschliche Begegnung zerstören. Mir geht es um diese kalte, abweisende Haltung, die andere Menschen verletzt. Ich finde es großartig, wenn eine Person sich darüber klar wird, dass sie diese antisozialen Wesenszüge in sich trägt, weil sie aus dem eigenen Narzissmus keimen. Auch wenn es bis dato für die Person undenkbar war, dass diese eigenen Verhaltensweisen narzisstisch sein könnten. Das finde ich, ist ein therapeutisches und menschliches Großereignis.

Frau lächelt ihr Spiegelbild an

Klienten kommen in Therapie, um auch etwas über sich selbst zu lernen. So denke ich zumindest. Die meisten Narzissten, die zu mir kommen, haben das aber nicht auf dem Schirm. Sie wollen nur wieder gesund werden. Die Absicht meiner Therapie ist, dem Klienten klar zu machen, dass er aus dieser Nummer nur herauskommt, wenn er selbst fundamental etwas über sich begreift und daraus sinnvolle Schlüsse für sich zieht, die sich dann auch in einer deutlichen Verhaltensveränderung zeigen müssen.

Letztlich fällt jedem Narzissten irgendwann sein idiotisches Verhalten auf die Füße. Diesen psychischen Unfall prophylaktisch zu verhindern ist bei Narzissten nahezu unmöglich. Denn es läuft ja eine ganze Weile sehr gut für diese Personen. Bis der Zusammenbruch und die Depression kommen. Weil Narzissten eben die ganze Konsequenz ihres eigenen Handelns nicht sehen und immer weiter machen, bis sie tief in der Jauche stecken.

Wie geht man therapeutisch mit Narzissmus um? 

Sehr unterschiedlich und je nachdem, welches Kaliber man gegenüber hat. Narzissmus ist ein Spektrum und reicht von einer immanenten Angst vor der eigenen Unwichtigkeit, über die aktiv zelebrierte, glänzende Selbstüberhöhung bis hin zur giftig zerstörerischen Abwertung des anderen. Im regulären Praxisalltag trifft der sogenannte Alltagstherapeut einer durchschnittlichen therapeutischen Praxis der Grundversorgung eher selten auf einen Narzissten. Denn der Narzisst braucht den Supertherapeuten. Den es nicht gibt. Narzissten finden aus unerklärlichen Gründen nie den Weg in eine normale Therapie... (lacht).

Falls ein Narzisst dann doch zufällig die Schwelle zur Praxis überschreitet, dann nur, weil er irgendwo in seinem Leben gescheitert ist – oder kurz davor steht. Typischerweise treffen wir Therapeuten auf die klagsamen, deprimierten und hoffnungslosen Fälle, die vor ihrem eigenen narzisstischen Lebensstil kollabiert sind. Das sind übrigens nicht nur Männer, die aus gut dotierten Positionen geflogen sind oder deren Unternehmungen scheitern, weil die Kunden wegbleiben oder Ehemänner, deren Ehe kaputtgeht. Auch viele Frauen agieren aus der Defensive narzisstisch. Klientinnen, die aggressiv Hilfe und Lösungen einfordern und alle abwerten – den Therapeuten gleich mit. Sie suchen die Schuld nur bei den anderen und nie bei sich selbst. Sie sind in der Überbewertungen der eigenen Kompetenzen und der Abwertungen der Inkompetenzen anderer wie gefangen. Diesen Klienten versuche ich dann ein sehr einfaches Erklärungsmodell beizubringen und sie darin zu verorten.

Der Narzisst ist ein gespaltenes Wesen. In der Tiefe verborgen liegen die negativen Zerrbilder des Selbst, die eigenen Inkompetenzen. Diese vermeidet der Narzisst. Er will nicht wissen, dass er etwas nicht kann, und er bekämpft jeden Versuch, sich damit auseinanderzusetzen. Er bekämpft auch den Therapeuten, falls der mal genauer hinschauen will. Dieses Pseudoich versuche ich behutsam zu demontieren.

Mann lehnt niedergeschlagen den Kopf an die Wand

Beißt es sich manchmal, selbst Narzisst und gleichzeitig Psychiater zu sein?

Der Beruf des Psychiaters und des Therapeuten ist durch die Interaktion mit den Klienten sehr kraftzehrend. Wer acht bis zehn Gespräche über fünfzig Minuten Dauer pro Tag führt, weiß wie anstrengend das sein kann. Hier hilft es, eine empathische Fassade aufrecht zu halten – und als Narzisst weiß ich, wie das geht. Aber diese Technik rettet einen nicht immer. Mit semantischen Spiegeln im Stil von NLP oder dem Abfeuern von pauschalen Deutungen lässt sich die sinkende Aufmerksamkeit vor dem Klienten nicht immer verheimlichen.

Typischerweise überschätzt sich der Narzisst ständig in seiner Kompetenz oder er meint von sich, eher inkompetent zu sein. Letzteres verbirgt er ganz tief in sich und fürchtet, so erkannt zu werden. Dieses Vermeidungsziel – eben als nicht so toller Therapeut entlarvt zu werden – wäre ein Fallstrick, den ein narzisstischer Psychiater hat. Andererseits kann es auch sehr hilfreich sein, den eigenen Narzissmus als diagnostisches Tool zu nutzen, um das Narzisstische im Gegenüber zu erkennen und zu überführen. Nehmen wir als Beispiel Psychopathen. Ich weiß, dass diese im Gespräch oft sehr nett und überangepasst sind, wenn sie wissen, dass es um die Wurst geht. Ich würde das auch so machen, um mit meiner Nummer durchzukommen, wäre ich ein Psychopath.

Dr. Pablo Hagemeyer zeichnet ein Modell am Flipchart

Sie sagen, jeder trägt ein bisschen Narzissmus in sich. Was sind die positiven Aspekte von Narzissmus?

Die positiven Aspekte des normalen Narzissmus sind Lebensenergie, Leidenschaft, hohe Handlungsorientierung und auch die hohe Leistungsbereitschaft im Konkurrenzkampf. Viele narzisstische Personen sind sehr leistungsbereit und werden es noch mehr, wenn sie die Arbeit und den damit verbundenen Schmerz für sich selbst annehmen können. Sich diesem Prozess zu stellen, ist ein großer persönlicher Motivator und schafft ein positives Mindset. Ja, ich schaffe das! Dieses Selbstvertrauen haben viele Narzissten – diesen unerschütterlichen Glauben an die eigene Kompetenz. Falls diese Kompetenz tatsächlich vorhanden ist, wird es auch gelingen.

Wo möchten Sie zukünftig Ihren Narzissmus und Ihr Wissen als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie einsetzen? ­

Mein Weg entstand bisher beim Gehen, also werde ich auch so weiter machen. Ich bleibe neugierig und schaue mir die Welt so an. Dabei möchte ich weiter aufklären. Einen Spiegel vorhalten. Das Buch, das ich geschrieben habe, ist auch dafür da, allen den Spiegel zu reichen. So einen kleinen Handspiegel. Schau mal selbst rein. Kleiner Check: Bin ich jetzt gerade narzisstisch? Ist es noch ok, so zu sein, oder schon nicht mehr? Ich hoffe daher auf eine offene und lebendige Interaktion mit den Menschen, die lernbereit sind und auf einen Lerneffekt bei den narzisstischen Menschen unter uns. Es geht nicht immer nur um Deals, ums Geschäft oder Business. Es geht bei jedem Deal auch immer um Menschen. Das sollten wir nie vergessen.

Vielen Dank für das schöne Interview!