„Wir müssen uns erlauben, Fehler zu machen“ - Interview mit Christine Altstötter-Gleich

Alles richtig machen, beruflich und privat, keine Fehler oder Schwächen zeigen, immer Topleistung bringen: So wünschenswert hohe Ansprüche an sich selbst und die eigene Leistung in vielen Lebensbereichen sind, sie können auch krank machen und dazu führen, dass wir mit nichts mehr zufrieden sind.

Über ungesunden Perfektionismus und den Zusammenhang mit Burnout sprachen wir mit Christine Altstötter-Gleich. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität Ko­blenz-Landau beschäftigt sich in ihrer Forschung unter anderem mit Perfektionismus und sei­nen Folgen und erklärt uns, wie man einen Weg aus der Perfektionismusfalle finden kann.

Laut Duden bezeichnet der Begriff „Perfektionismus“ leicht abwertend das „übertriebene Stre­ben nach Perfektion“. Mir persönlich fallen verschiedenste Situationen ein, in denen ich mich über Mitmenschen freue, die nach Perfektion streben. Ist der Wunsch nach bestmöglichen Leis­tungen nicht auch etwas Gutes?

Perfektionismus ist etwas Gutes, insofern man ihn als den Wunsch versteht, sehr gute Leistungen zu erbringen und Dinge zu optimieren. Und es gibt einige Berufsgruppen, von denen wir eine per­fektionistische Einstellung und Arbeitsweise erwarten – zum Beispiel von Ärzten oder den Techni­kern, die das Flugzeug warten, mit dem wir demnächst in den Urlaub fliegen wollen. Ebenso ge­nießen wir Perfektion in der darstellenden Kunst und in der Musik und bewundern Menschen, die im Sport Höchstleistungen erbringen. Und überlegen Sie nur, wo wir heute stünden, hätte es nicht immer wieder Menschen gegeben mit dem Drang, Bestehendes zu verbessern und zu optimieren. Vermutlich würden wir immer noch im Dunkeln in unseren Hütten sitzen und unsere Wäsche im Fluss waschen. Aber Perfektionismus erweist sich eben auch als janusköpfig: So positiv wir ihn zum Teil empfinden – er hat auch seine Schattenseiten.

Was sind das für Schattenseiten?

In der Psychologie unterscheiden wir den gesunden bzw. funktionalen Perfektionismus und den ungesunden bzw. dyfunktionalen Perfektionismus. Wobei es die berechtigte Annahme gibt, dass die funktionale Form vielleicht gar nicht im engeren Sinne als „Perfektionismus“ bezeichnet wer­den sollte.

Menschen mit einem gesunden Streben nach Perfektion wollen ihre Sache besonders gut machen. Sie freuen sich an positiven Ergebnissen, verzweifeln aber auch nicht, wenn es mal nicht klappt oder sie einen Fehler machen.

Menschen mit einem dysfunktionalen Perfektionismus hingegen haben ständig Angst, Fehler zu machen, den Erwartungen nicht zu genügen oder zu ver­sagen. Sie sind sehr sensibel für Signale des Misslingens und schreiben diesem gravierende Konse­quenzen zu – etwa von anderen, ihnen wichtigen Personen nicht mehr geachtet zu werden. Im Scheitern stellen sie ihre gesamte Person infrage. Gleichzeitig hängt aber die Messlatte bei diesen Menschen extrem hoch – unabhängig davon, ob das Ziel überhaupt erreichbar ist. Entsprechend häufig treten Momente auf, in denen die eigene Leistung nicht den persönlichen Ansprüchen ge­nügt.

Wenn man Höchstleistungen erbringt, besteht die Gefahr, sich zu er­schöpfen und nicht ausreichend auf die nötige Erholung zu achten. Häufig führt diese Überlastung zu Depression und Burnout.

Das klingt ermüdend.

Und das ist es. Generell besteht, wenn man Höchstleistungen erbringt, die Gefahr, sich zu er­schöpfen, nicht ausreichend auf die eigenen Kräfte und Ressourcen und die nötige Erholung zu achten. Bei dysfunktionalen Perfektionisten ist aber die Tendenz, sich selbst völlig zu überlasten, besonders stark. Wenig überraschend also, dass dysfunktionaler Perfektionismus mit einer ganzen Reihe psychischer Störungen in Zusammenhang gebracht wird: Bezieht sich das Streben nach Per­fektion vor allem auf den eigenen Körper, können Essstörungen oder sexuelle Funktionsstörungen die Folge sein. Auch soziale Ängste und zwanghaftes Verhalten stehen im Zusammenhang mit Per­fektionismus. Häufig führt die allgemeine Überlastung aber vor allem zu Depressionen oder Bur­nout. Leider haben diese stressbedingten Störungsbilder in den vergangenen Jahren markant zu­genommen – mit großen volkswirtschaftlichen Auswirkungen.

Früher ging man ja eher davon aus, dass Burnout vor allem Menschen trifft, die besonders idea­listisch sind und in sozialen Berufen arbeiten.

Ja, ursprünglich schrieb man Burnout vor allem dem pflegerischen oder seelsorgerischen Bereich zu. Doch mittlerweile ist klar, dass die Symptomatik auch bei Menschen in anderen Berufen auf­tritt – und meist vor dem Hintergrund eines ungesunden Perfektionismus und dem Gefühl, an den eigenen Ansprüchen gescheitert zu sein. Wenn die Funktion hoher Standards vor allem ist, Aner­kennung und Wertschätzung zu erhalten, und dieses Bedürfnis immer wieder frustriert wird, wer­den die Bemühungen, Bestleistungen zu erbringen nur noch intensiviert – und dann kann es zu chronischer Überlastung und schließlich zum Burnout kommen.

Wie entwickelt sich ein ungesunder Perfektionismus? Wo kommt das her?

Es gibt die Theorie, dass Perfektionisten auch perfektionistische Eltern haben und sehr leistungs­orientiert erzogen wurden. In Kombination mit einem eher kalten und strafenden Erziehungsstil können hohe Standards zu einem Problem werden. Denn was lernen Kinder daraus? Dass Fehler wirklich schlimm sind und dass sie nur dann Anerkennung und Wertschätzung erhalten, wenn sie hohe Leistungen erbringen. Diese Überzeugungen bleiben bis ins Erwachsenenalter erhalten.

Eine andere mögliche Ursache des dysfunktionalen Perfektionismus ist weniger gut erforscht. Aber wir gehen davon aus, dass auch ein Elternhaus, in dem Missbrauch und Chaos herrschen, die gleichen Überzeugungen entstehen lassen kann. In dieser Umwelt entwickeln Kinder hohe Stan­dards als Schutzmechanismus. Die kindliche Logik dahinter: Wenn ich es nur schaffe, alles richtig zu machen und gut genug zu sein, dann werde ich nicht mehr verletzt, dann gibt es keinen Grund mehr, mich zu schlagen oder zu verspotten.

Es muss selbstverständlich sein, dass Fehler dazu gehören. Wenig gelingt auf Anhieb, wenn man neue Wege geht und Neues ausprobiert.

Die Idee ist ja auch nicht grundfalsch. Denn natürlich ist es in einer leistungsorientierten Gesell­schaft nicht gut, Fehler zu machen. Wie lässt sich das vermitteln, ohne zu viel Druck auszuüben?

Dass Fehler nicht gut sind, bekommen wir schon sehr früh vermittelt, im Elternhaus, in der Schule, überall. Im Idealfall betrifft die Kritik jedoch nur das fehlerhafte Verhalten – und nicht den ganzen Menschen. Wenn Kinder trotz ihrer Schwächen wertgeschätzt und in ihrer Fähigkeit unterstützt werden, aus Fehlern zu lernen, dann kann sich ein sehr funktionales Exzellenzstreben entwickeln. Es muss selbstverständlich sein, dass Fehler dazu gehören. Wenig gelingt auf Anhieb, wenn man neue Wege geht und Neues ausprobiert.

Dazu vielleicht ein Bild, das ich gerne benutze: An sich ist es nicht schwer, ein Spiegelei zu braten. Dennoch wird es vermutlich nicht beim ersten Versuch gelingen. Das braucht ein bisschen Übung – und aus den Fehlern, die wir anfänglich machen, lernen wir. Bei so etwas erlauben sich die meisten Menschen diese Fehler. Warum nicht auch in anderen Bereichen des Lebens?

Was kann man tun, um sich gegen die negativen Auswir­kungen eines dysfunktionalen Perfektionismus zu schützen?

Viele Unternehmen sind schon sehr sensibel bezüglich des Themas „Burnout“. Insbesondere in größeren Organisationen hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass die Mitarbeiter nur dann leis­tungsfähig bleiben, wenn sie ausreichend Auszeiten und Erholung bekommen. Es gibt Programme zu Entspannung, Achtsamkeit oder Stressbewältigung, festgelegte Smartphone-freie Zeiten und vieles mehr.

Mit Blick auf ungesunden Perfektionismus hilft die einfache Frage: Was steckt hinter dem schädli­chen Exzellenzstreben? Der Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung. Das heißt, wir brau­chen eine konstruktive Feedback-Kultur, in der einerseits konsequent anerkannt und gelobt wird, was gut läuft. Und zwar nicht nach dem Motto: Nicht geschimpft ist auch schon gelobt. Anderer­seits brauchen wir eine gesunde Fehlerkultur und wachstumsorientiertes Feedback, wenn etwas nicht funktioniert hat. Im Sinne von: Was machen wir, damit dieser Fehler nicht noch einmal pas­siert? Wir müssen Menschen erlauben, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen.

Jedem einzelnen ist zu empfehlen, einmal die eigene Angst vor dem Versagen zu hinterfragen: Oft machen wir uns nämlich gar nicht bewusst, welche Konsequenzen wir eigentlich fürchten – oder wie wahrscheinlich ihr Eintreten ist. Werden uns wirklich alle verachten, wenn wir einmal nicht Bestleistungen erbringen? Und wie wäre das bei unseren Freunden? Dürfen die Fehler machen? Manchmal entdecken wir, dass wir die Menschen, die hin und wieder einen Fehler machen, ganz besonders gern haben.

Perfektionismus und die damit verbundene Angst und Vermeidung können massive Einschränkun­gen für das eigene Leben bedeuten. Ein guter Grund, die eigenen perfektionistischen Tendenzen und den allgemeinen Optimierungswahn zu hinterfragen. Leider neigen gerade Perfektionisten dazu, sich viel zu spät Hilfe zu suchen. Denn natürlich besteht auch im Hinblick auf die eigene Funktionstüchtigkeit der Anspruch, das alleine und ohne Hilfe hinzukriegen.

Das wäre vielleicht mein Appell zum Ende: Wenn man bemerkt, dass man unter den eigenen per­fektionistischen Ansprüchen leidet, sollte man sich nach Möglichkeit frühzeitig professionelle Hilfe suchen.