Wir sollten mehr übers Scheitern sprechen
Mit ihrem Traum vom eigenen Café ging Martina Leisten „so richtig baden“. Sie musste Insolvenz anmelden. Es folgten Depressionen und ein langer Weg aus der Krise. Heute teilt sie ihre Geschichte öffentlich und hilft als Coachin anderen Menschen, Scheitern als Chance zu nutzen. Im psylife-Interview spricht sie über Misserfolge und warum es guttut, diese zu teilen.
Martina, welche Rolle hat Scheitern in deinem Leben gespielt?
Scheitern hat eine größere Rolle in meinem Leben gespielt, als ich zuvor jemals gedacht hätte. Bis zu meinem Café hatte ich ein normales Leben mit Höhen und Tiefen, aber keine besonders einschneidenden Erlebnisse. Anfang dreißig kam dann der Game Changer, den ich zu Beginn gar nicht als solchen wahrgenommen habe. Ich bin mit wenig Geld und großen Hoffnungen mit meinem Traum vom eigenen Café gestartet. Aber ich habe jeden Tag allein im Café gesessen und mich durch den Laden stark verschuldet. Ich habe versucht, den Schuldenberg abzutragen, aber das hat nicht funktioniert. Daher musste ich Privatinsolvenz anmelden. Durch die Privatinsolvenz hat sich mein Leben wie im Gefängnis angefühlt. Es war sehr schwierig, für dieses Scheitern eine Akzeptanz zu finden. Erst als ich angefangen habe, bei den FUCKUP NIGHTS öffentlich über mein Scheitern zu sprechen, konnte ich beginnen, damit Frieden zu finden. Und das hat letztendlich zu dem geführt, wer ich heute bin. Nicht jeder, der scheitert, schreibt später darüber ein Buch oder wird Coach:in, aber bei mir haben sich die Puzzleteile so zusammengefügt. Es ist immer die Frage, was man daraus macht.
Scheitern und Misserfolge sind in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu. Welche Erfahrungen machst du damit, öffentlich über deine Misserfolge zu sprechen?
Damals habe ich nicht wirklich darüber nachgedacht, was es bedeutet, mit meiner Geschichte in die Öffentlichkeit zu gehen. Ich wollte es mir einfach von der Seele reden. Ich wollte mich selbst befreien, indem ich darüber rede. Und ich dachte, vielleicht hilft es ja irgendwem.
Wenn ich in Sendungen auftrete oder öffentlich über mein Scheitern spreche, polarisiert das. Es gibt manche Menschen, in denen bewege ich irgendetwas, was sie an sich selbst nicht akzeptieren oder mögen. Aber glücklicherweise, reagieren die meisten positiv und fühlen sich durch meine Ehrlichkeit ermutigt. Das gute Feedback überwiegt.
Sollten wir insgesamt in unserer Gesellschaft anders über Misserfolge sprechen?
Absolut. Viele Menschen haben Angst zu scheitern. Das liegt aber an unserer Fehlerkultur und unserer Bewertung: „Da hast du einen Fehler gemacht und Fehler sind nicht gut.“ Solange sich an dieser Bewertung nichts ändert, wird sich auch an unserer Fehlerkultur nichts ändern. Wir lernen schon als Kinder: „Mach bloß keine Fehler! Was sollen denn die anderen sagen?“. Fehler lösen unangenehme Gefühle aus. Ich habe mich geschämt. Es war mir peinlich. Und damit geht man nicht hausieren. Es wäre gut, wenn diese Gefühle gar nicht erst entstehen müssten. Die andere Seite ist aber, sie nicht zu unterdrücken und zu merken: Ich muss mich mit diesen unangenehmen Gefühlen auseinandersetzen! Ich muss sie zulassen. Erst dann kann ich sie auflösen. Erst dann kann ich zu mir und meinen Fehlern stehen.
Inzwischen siehst du dein Scheitern als Game Changer. Was hat dir dabei geholfen?
Vorher habe ich mich als Versagerin gefühlt und mir den Versager-Mantel übergezogen, unter dem ich mich versteckt habe und der mir schwer auf den Schultern lag. Da kam die Erkenntnis: „Nur weil ich versagt habe, bin ich keine Versagerin“. Das war für mich das Wichtigste, das zu differenzieren. Eine Handlung sagt nichts über mich als Person aus. Es geht nicht darum, Fehler persönlich zu nehmen. Ich glaube, dass da viele – insbesondere Frauen – zu tendieren. Dadurch, dass ich mein Scheitern akzeptiert habe, hatte ich die Möglichkeit, aus der Opferrolle herauszutreten und die Verantwortung zu übernehmen. Ich habe mir dabei Unterstützung in Coaching und Therapie geholt. Das hat mich gestärkt. Und ich hatte auch ein Netzwerk aus Menschen, die mich unterstützt haben. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben und an mich geglaubt.
Inzwischen unterstützt du selbst als zertifizierte Coachin andere Menschen, mit Misserfolgen und Krisen umzugehen. Wie bist du zum Coaching gekommen?
Letztendlich war es fast schon vorprogrammiert, als ich angefangen habe, meine Geschichte zu teilen und immer wieder auch Anfragen bekam, wie man mit solchen Situationen umgeht. Ich hatte selbst positive Erfahrungen mit Coaching und Therapie gemacht. Und ich habe gemerkt, dass ich gerne andere Menschen ermutige und ihnen helfe. Ich habe mich dann für eine Coaching-Weiterbildung entschieden. Im Coaching arbeitet man an einer direkten Lösung. Das passt. Ich bin eine Macherin und bringe auch meine Klient:innen, so weit wie es möglich ist, ins Handeln.
Wie hilfst du deinen Coachees dabei, besser mit Misserfolgen umzugehen?
Es ist wichtig, sich die eigenen Bewertungen und Glaubenssätze anzuschauen und zu verstehen. Dadurch kann sich schon vieles auflösen. Es geht aber auch darum, trotz des Scheiterns eigene Erfolge anzuerkennen, denn das geht oft verloren. Ich helfe da als Spiegel, z. B. zu sagen: „Okay, das hast du jetzt vielleicht nicht geschafft, aber das hast du gut gemacht, da bist du schon einen Schritt weiter“. Das hätte mir damals sehr geholfen, wenn die Leute mich mehr darin unterstützt hätten, zu sehen, was ich auch geschafft habe.
Inwieweit prägt deine eigene Erfahrung deine Arbeit als Coachin?
Zu mir kommen viele Menschen, die Probleme mit dem Scheitern haben, aber nicht nur. Manchmal wird das Scheitern auch erst im Verlauf zum Thema gemacht. Ich denke, dass ich durch meine eigenen Erfahrungen vielleicht manchmal ein besseres Verständnis für solche Situationen habe.
Wie reagieren deine Coachees darauf, dass du deine eigene Geschichte teilst?
Manche wissen es, manche nicht. Ich fände es schlimm, wenn Menschen nur aufgrund meiner Interviews zu mir kämen. Aber wenn sie sich dadurch angeregt fühlen, freut mich das. Ich glaube schon, dass manche es gut finden, wenn ich mal was Persönliches rein gebe - aber es sollte nicht zu viel sein. Ich stelle Fragen und meine Coachees reden. Da liegt der Schwerpunkt.
Vielleicht tut es den Klient:innen manchmal gut zu hören, dass du als Coachin selbst auch Erfahrungen mit Misserfolgen hast…
Absolut. Das finde ich ganz schön, dass du das ansprichst. Ich hatte eine Klientin, die in der vorangegangenen Therapie nichts von ihrem Therapeuten wusste und es ganz schön fand, dass das bei mir ein bisschen anders war. Sonst ist da so ein Ungleichgewicht: man vertraut sich einer Person viel an und spürt auch Sympathie, aber man bekommt nicht viel Persönliches zurück. Natürlich ist es wichtig, gewisse Grenzen zu wahren. Aber meine Einstellung ist: wenn man das Gefühl hat, dem- oder derjenigen tut das gut, dass man punktuell ein bisschen was Persönliches von sich preisgibt, ist das in Ordnung. Es kann den Klient:innen manchmal gut tun, wenn wir als Coach:innen auch mal mehr aus uns herauskommen.
Danke dir für das Interview, Martina!
Über Martina Leisten:
Martina ist zertifizierte systemische Coachin, Buchautorin und Dipl.-Sozialwirtin, Baujahr 1978, aufgewachsen im Rheinland und seit über einem Jahrzehnt in Berlin ansässig. Sie arbeitet freiberuflich als Life- und Jobcoachin und schreibt Bücher.
https://www.martinaleisten.com/
Zum Weiterlesen [Werbung]:
Leisten, Martina (2019). Voll verkackt! Wie ich auf ganzer Linie scheiterte und was ich daraus lernte. München: mvg.
Leisten, Martina (2021). Under Pressure. Innere Anspannung und selbst gemachten Stress reduzieren in 7 Schritten. München: mvg.