Eine Psychotherapie ist kein Spaziergang! Oder doch?
„Waldbaden“ - von den heilsamen Wirkungen eines Waldspaziergangs war in letzter Zeit unter diesem Stichwort häufiger zu lesen. Sollen über die Entspannung hinaus auch psychotherapeutische Effekte erzielt werden, gehört allerdings mehr dazu, als die Therapie nur nach draußen zu verlegen. Naturtherapeutin Sandra Knümann zeigt dir, wie du Naturerfahrungen sinnvoll in die Therapie einbeziehen kannst.
Ermutigende Studienlage
Beim gemütlichen Schlendern durch den Wald, so haben Studien seit den 1980-er Jahren bestätigt, werden Blutdruck und Stresshormonspiegel gesenkt, die Herzfrequenz normalisiert, Selbstheilungskräfte und Immunsystem angekurbelt sowie die kognitive und emotionale Erholung gefördert. Dies hat mit den Pflanzen-Botenstoffen in der Waldluft zu tun, aber auch mit der psychologischen Wirkung des Naturerlebens.
Warum uns die Natur so gut tut
Viele Menschen empfinden einen Aufenthalt in der Natur als wohltuende Auszeit von ihrem belastenden Alltagsleben. Aus der Entfernung betrachtet erscheinen ihnen die eigenen Probleme überschaubarer, und vor allem: weit weg. Auch üben die Sinnesreize in Park, Wald und Wiese eher eine sanfte Faszination aus, die der städtischen Reizüberflutung eine angenehme „Reizentflutung“ entgegensetzen. Meine Therapieklienten berichten oft, dass sie sich bei Outdoor-Sitzungen entspannter, freier und vitaler fühlen – weil draußen die Gepflogenheiten des üblichen Therapiesettings außer Kraft gesetzt sind und das unmittelbare Selbst- und Naturerleben im Mittelpunkt steht.
Entspannung als Ausgangsbasis
Entspannte Menschen haben leichteren Zugang zu ihren Ressourcen, sind offener für Veränderungen und finden kreativere Lösungen. In der Naturtherapie trifft das übriges nicht nur für Klienten zu, sondern auch für deren Therapeutinnen! Viele Kolleginnen berichten, dass sie in Outdoor-Sitzungen wacher und konzentrierter sind und ihnen häufiger kreative Ideen kommen. Auch der Umgang mit „schwierigen“ Klienten falle ihnen leichter bei einem entspannten Spaziergang durchs Grüne. Oftmals ergibt es sich sogar, dass der Therapeut 20 Minuten allein auf einer Bank sitzt, während der Klient bei einer Übung in der Umgebung unterwegs ist. Wenn eine gute Beziehung einer der wichtigsten Wirkfaktoren einer Therapie ist, dann bringt eine entspannte Therapeutin sicher die besten Voraussetzungen dafür mit.
Konzepte der Naturtherapie
Entspannung allein ist aber noch keine Psychotherapie. Und eine Therapeutin, die nur die Stühle aus dem Sprechzimmer ins Freie stellt, lässt die einzigartigen Chancen ungenutzt, die die Natur als Erlebensraum bietet. Damit das „In-der-Natur-Sein“ seine psychotherapeutische Wirkung entfalten kann, muss es sowohl praktisch als auch theoretisch in ein Therapiekonzept eingebunden werden. Seit den 1960-er Jahren sind verschiedene solcher Ansätze entstanden, die unter dem Begriff „Naturtherapie“ zusammengefasst werden. Dabei wird das Naturerleben in den jeweiligen Bezugsrahmen der vier großen Psychotherapie-Richtungen eingebunden. Es gibt also eine systemische Naturtherapie, eine psychodynamische Naturtherapie usw. Ich vertrete mit der „Achtsamkeitsbasierten Naturtherapie“ einen humanistischen Ansatz.
Achtsamkeitsbasierte Naturtherapie
Die Achtsamkeitsbasierte Naturtherapie ist ein von mir entwickeltes und mittlerweile veröffentlichtes Konzept, das sich aus meinen Erfahrungen der letzten 20 Jahre herauskristallisiert und sich in der täglichen Arbeit mit Klienten als hilfreich erwiesen hat. Auf der Grundlage der humanistischen Psychotherapie wird darin das psychotherapeutische Potenzial des Naturerlebens mit der Praxis der Achtsamkeit verknüpft – alles wissenschaftlich gut bestätigte Ansätze, um Menschen in seelischen Heilungs- und Entwicklungsprozessen zu unterstützen. In meiner Praxis behandle ich nach diesem Ansatz v.a. Klienten mit Depressionen, Angststörungen und psychosomatischen Beschwerden. Auch in der Trauerbegleitung, im Burnout-Coaching, bei Sinn- und Lebenskrisen habe ich gute Erfahrungen mit der Achtsamkeitsbasierten Naturtherapie gemacht.
Bedeutung der therapeutischen Beziehung
Carl Rogers hat eindrucksvoll gezeigt, dass Psychotherapie in erster Linie ein Prozess der menschlichen Begegnung ist. Auch die aktuelle Psychotherapieforschung legt nahe, dass die therapeutische Beziehung der größte Wirkfaktor ist. Daher bewirkt das Natur- und Selbsterleben draußen v.a. dann eine Veränderung im psychotherapeutischen Sinn, wenn es in eine vertrauensvolle und wachstumsfördernde Therapiebeziehung eingebracht wird. Indem die Outdoor-Erfahrungen der Klienten dort gehört, gewürdigt und auf ihre subjektive Bedeutung hin untersucht werden, verbinden sie sich mit positiven Beziehungserfahrungen. Erst dadurch kann sich ihre heilsame und entwicklungsfördernde Wirkung voll entfalten.
Naturtherapeutisches Vorgehen
Der Therapeut unterstützt die Klientin also sowohl durch ein wertschätzendes, empathisches und authentisches Beziehungsangebot als auch mithilfe von achtsamen Naturbegegnungen dabei, intensive Selbsterfahrungen mit emotionalen, körperlichen, kognitiven und interaktionellen Prozessen zu machen. So werden zum einen ihre charakteristischen Erlebens- und Verhaltensmuster für die Klientin erfahr- und veränderbar, zum anderen vertieft sich das Empfinden existenzieller Verbundenheit mit der Natur und ihren natürlichen Wandlungsprozessen. Auf diese Weise wirkt die Achtsamkeitsbasierte Naturtherapie der Entfremdung von der Natur (auch der eigenen, menschlichen Natur) entgegen und ermöglicht eine selbstregulative, ressourcenaktivierende Anpassung an die realen Lebensbedingungen und Entwicklungsaufgaben.
Anwendungsfelder
Achtsamkeitsbasierte Naturtherapie ist v.a. hilfreich, wenn es um Fragen der eigenen Entwicklung und Wandlung, um Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung, Gesundheit und seelische Widerstandsfähigkeit geht. Insofern ist sie eher personzentriert als störungsbezogen. Es gibt aber auch störungsspezifische Interventionen: Depressiven Antriebsstörungen kann z.B. mit Spaziergängen begegnet werden, Traumafolgestörungen mit der Gestaltung eines „sicheren Ortes“ im Wald, mangelnder Affektwahrnehmung mit Achtsamkeitsübungen in unterschiedlichen Naturumgebungen. Ein großer Vorteil ist, dass die Klienten auch außerhalb der Sitzungen die Natur aufsuchen können. Der therapeutische Ort wird so Teil der Alltagswelt und kann unabhängig von der Therapeutin und weiterhin nach Therapieabschluss zur Stabilisierung und Vertiefung genutzt werden.
Nicht jede Sitzung findet draußen statt
Naturtherapie kann viele Gesichter haben. Nicht immer müssen Therapeut und Klient dafür gemeinsam draußen sein. Es ist genauso möglich, dass der Klient mit einer Aufgabe allein in die Natur geht und in der nächsten (Indoor-)Sitzung davon berichtet. Manche Naturtherapeutinnen lassen ihren Klientinnen zu Beginn jeder Sitzung die Wahl, ob sie lieber drinnen oder draußen arbeiten möchten. Dafür braucht man natürlich ein geeignetes Gelände in fußläufiger Entfernung zur Praxis, z.B. einen Garten, Stadtpark oder ein Flussufer. Einige Kollegen arbeiten ausschließlich draußen und treffen sich mit ihren Klientinnen z.B. am Waldrand. Manche verfügen über ein eigenes Grundstück, andere nutzen öffentliche Naturräume. Der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt.
Erste Schritte mit Naturtherapie
Wenn du mehr Naturerfahrung in deine Arbeit integrieren willst, kannst du deinen Klientinnen z.B. Spaziergänge vorschlagen. Triff dich mit ihnen im Stadtpark oder dreh ein paar Runden auf dem Klinikgelände und beobachte, welchen Einfluss das auf die Sitzung hat. Du kannst sie auch bitten, einen Naturgegenstand zu suchen, der ihr Thema oder aktuelles Befinden darstellt, und mit der Symbolik arbeiten. Achtsamkeitsübungen oder das kreative Gestalten mit Naturmaterial sind ebenfalls einfache Möglichkeiten, um mehr Natur in die Therapie einzubringen. Landschaft und Lebewesen können als Projektionsfläche, Medium, Gegenüber, Materiallager und Erlebensraum mit unterschiedlichsten Qualitäten dienen (z.B. als Frei-, Übungs-, Wandlungs-, Ritual- oder Gestaltungsraum). Um dieses therapeutische Potenzial voll ausschöpfen zu können und auch den Herausforderungen des Outdoor-Settings gewachsen zu sein, empfehle ich eine Weiterbildung, die viel Selbsterfahrung mit naturtherapeutischen Interventionen beinhaltet. Möglichst über alle Jahreszeiten hinweg, damit du auch deren atmosphärische Qualitäten sinnvoll einzusetzen lernst.