Pranayama in der Therapie: Vom Mut, die eigenen Grenzen zu überschreiten
Pawlow nannte seine berühmte Beobachtung an seinen Hunden den „bedingten Reflex“. Er zeigte den Grundzusammenhang zwischen klassischer Konditionierung und den Reflexen auf. In der Traumatisierung, besonders bei Posttraumatischer Belastungsstörung, haben wir es immer mit klassischer Konditionierung zu tun. Warum arbeiten wir therapeutisch nicht direkt mit den Reflexen?
Im Yoga, genauer gesagt im Pranayama, wird mit intentionaler Atemreflex-Hemmung gearbeitet. Der Atemreflex ist an den Kampf-Flucht-Reflex und an den Erstarrungsreflex assoziiert. Daher erreichen wir mit der Atemreflex-Hemmung gezielt eine Beruhigung des zentralen Nervensystems, so dass wir besser therapeutisch arbeiten können.
Fallbeispiel: Frau Ullstein* kommt in die Praxis
Die Patientin Ullstein kam vor einigen Jahren in meine Praxis. Sie war sehr angespannt und nervös. Etwas genervt und zugleich hoffnungslos trug sie vor, dass sie sich durch ihre Posttraumatische Belastungsstörung immer mehr eingegrenzt fühlt. Sie konnte fast nichts mehr tun, was interessant oder spannend war, weil es ihr zu viel Angst bereitete. Andererseits konnte sie aber auch kaum Ruhe finden, weil sie aus dem Hier und Jetzt verschwand und sich kaum noch konzentrieren konnte. Ihr Nervensystem spielte „irgendwie verrückt“. Es zwang sie dazu, immer weniger zu unternehmen, da sie sonst entweder in Angst und Panik oder in Lähmung und Erstarrung verfiel. Sie hatte schon viele Therapien gemacht, aber nichts hatte so richtig geholfen. Die Medikamente hatte sie auch schon lange weggelassen. Sie stellte fest, dass die Tabletten bei der Panik und auch bei der Erstarrung nichts brachten. Was die bisherigen Psychotherapien anging, sagte sie: „Reden reicht einfach nicht“. Sie kam zu mir, weil sie sich durch Yogatherapie eine Verbesserung erhoffte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass das jetzt vom Körper her angegangen werden musste.
Die theoretischen Grundlagen in der Edukation
Da die Patientin sehr offen für Yoga war, konnte ich sofort beginnen. Ich erklärte ihr, dass ich Yoga als integratives Mittel der Verhaltenstherapie sehe. Mit Hilfe von Yoga können wir uns noch tiefer mit bestimmten körperbasierten Emotionen konfrontieren. Um das jedoch aushalten zu können, ist eine Vorbereitung notwendig. Diese Vorbereitung bezieht sich auf die Nerven. Bei Traumatisierung sind die Nerven so angespannt, dass die Auslöseschwellen für den Kampf-Flucht-Reflex und auch für den Erstarrungsreflex früher beginnen als beim nicht-traumatisierten Menschen. Daher grenzt sich das Leben immer mehr ein. Bei fortschreitender Eingrenzung werden die Auslöseschwellen immer empfindlicher. Dieser Prozess ist zentralvervös gesteuert, und zwar im Hirnstamm. Daher braucht es eine Art „Reset-Schalter“, der die Auslöseschwellen für Reflexe wieder nach oben zurücksetzt. So etwas gibt es im Yoga - genauer gesagt im Pranayama, welches ein Teil von Yoga ist. Pranayama ist eines von acht Gliedern des Yoga. Im Pranayama werden Atemübungen praktiziert. Im fortgeschrittenen Praktizieren von Pranayama wird das Atemanhalten geübt.
Innerhalb von Pranayama gibt es wiederum Vorübungen und Hauptübungen. Ein Beispiel für eine Vorübung ist Ujjayi. Ujjayi ist ein gleichmäßiges Atmen ähnlich wie das geflüsterte „M“, also mit einem Reibegeräusch im Hals. Dieses Geräusch wird gleichmäßig beim Ein- und Ausatmen erzeugt.
Die Hauptübungen sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihnen willentlich nicht geatmet wird. Das, was man dort macht, kann mit dem Begriff der intentionalen Atemreflex-Hemmung beschrieben werden. Andere Reflexe wie die Überlebensreflexe, also der Kampf-Flucht-Reflex und der Erstarrungsreflex, sind mit dem Atemreflex assoziiert. Hemmt man den Atemreflex willentlich, dann hemmt man sie alle zusammen.
Die Kunst der Vorbereitung auf Pranayama
Ich sagte zu Frau Ullstein: „Nehmen Sie jetzt alle Ihre Erfahrung zusammen und reduzieren Sie mit Hilfe von Ujjayi ihr Atem-Minuten-Volumen, so sanft es geht. Auf jeden Fall ohne dass eine Form von Atemnot entsteht. Je kleiner die Schritte, desto besser. Wenn Sie es auf diese Art und Weise machen, dann passt sich ihr Herz an und reduziert seine Frequenz.“
Nachdem Frau Ullstein Ujjayi durchgeführt hatte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, unser Gespräch wurde flüssiger und sie konnte leichter mitschwingen. Sie verstand schneller, was ich erklärte. Psychologen nennen es die Schwingungsfähigkeit, Mediziner die Herzfrequenzvariabilität und die Yogis nennen es die Herzöffnung. Das Anhalten des Atems darf nur und ausschließlich in diesem Zustand geschehen. Zu Beginn ist ein Gegenüber notwendig, das die hinreichende Erfahrung besitzt, diesen Zustand zu erkennen bzw. herbeizuführen.
Das Überschreiten der Grenze
Frau Ullstein war nun sehr offen für die nächste Technik. Sie vertraute mir und fühlte sich sicher aufgehoben. Ich konnte in der Anweisung voranschreiten. Ich zeigte ihr eine Pranayama Übung, in welcher der Atem angehalten wird (Jalandhara Bandha).
Jalandhara Bandha ist das willentliche Anhalten des Atems nach der Einatmung. Währenddessen sitzt man auf einem Stuhl oder in einer Yogasitzhaltung. Durch Druck der Hände gegen die Knie richtet man das Brustbein auf, während man gleichzeitig den Kopf senkt, um das Kinn auf das Brustbein zu pressen. So verharrt man einige Zeit bis der Atemreflex spürbar wird. Man hemmt willentlich diesen Atemreflex, bis man wirklich unbedingt atmen muss. Dann hebt man wieder den Kopf, atmet aus und setzt je nach Bedarf den Atem fort.
Zunächst hielt Frau Ullstein den Atem an. Sie brachte ihren ganzen Willen auf, um den Atemreflex zurückhalten zu können. Ich unterstützte sie dabei, über die Grenze zu gehen. Die Grenze ist der Punkt, an dem man wahrnimmt, dass der Körper atmen will. Frau Ullstein konnte durch die theoretischen Grundlagen gut unterscheiden, dass der Atemreflex nicht durch einen tatsächlichen somatischen Sauerstoffbedarf herbeigeführt wird, sondern durch die gelernten Reflexe im Atemzentrum, das seine Reflexauslösegrenzen weit vorgezogen hat, um auf jede eventuelle Minigefahr sofort mit maximaler Power antworten zu können. So stemmte sie sich mit Willenskraft gegen den Atemreflex und überstand ihn fast zehn Sekunden lang. Nachdem sie davon zurückkam, war alles anders.
Endlich wieder im Hier und Jetzt
Frau Ullstein war zurück aus der Pranayama-Übung. Sie sagte: „Oh, ich bin ja ganz wach und gleichzeitig ganz ruhig und entspannt. Alles ist klarer, und ich kann mich sehr gut konzentrieren. Ich fühle mich sicher, wohl und mühelos aufmerksam. Diesen Zustand habe ich lange nicht mehr erlebt. Vielen Dank für diese Übung. Ich fühle mich bereit für weitere Konfrontationen.“