Gewalt gegen Frauen: Anzeichen erkennen und adäquat ansprechen

Straftaten gegen Frauen in Deutschland steigen in allen Bereichen (BIM, 2024) - und damit auch die Zahl Gewaltbetroffener im therapeutischen oder beratenden Setting. Klientinnen wie auch Therapeut:innen selbst fällt es häufig schwer, die Thematik anzusprechen. Wir erklären, wie man Anzeichen erkennt und ein feinfühliger Dialog gelingt.
Unterstützung zu suchen ist für viele gewaltbetroffene Frauen eine schier unüberwindbare Hürde. Scham und Angst machen es schwer, Gewalterlebnisse offenzulegen. Anderen fehlen schlichtweg die Worte. Ist eine Frau bei häuslicher Gewalt einer anhaltenden Bedrohung durch Täterkontakt ausgesetzt, kann es für sie Lebensgefahr bedeuten, Taten öffentlich zu machen. Daneben hält Trauma Bonding eine von intrafamiliärer Gewalt betroffene Frau oft davon ab, eine schädliche Beziehung als solche zu erkennen. Womöglich also sucht eine Klientin aufgrund diffuser psychischer und/oder körperlicher Symptome professionelle Hilfe und ist sich ihres Traumas selbst noch gar nicht bewusst.
Anzeichen im Therapie- und Beratungskontext
Typische Reaktionen und Verhaltensmuster von Gewaltopfern gibt es nicht. Die Anzeichen sind so unterschiedlich wie die Klientinnen und ihre Erlebnisse selbst. Durch ein Schocktrauma oder sequenzielle Traumatisierungen kann es zu einer Belastungsreaktion und diversen Folgestörungen kommen, häufig mit Komorbidität. Wurde ein Trauma – wie im Fall von Gewalt – absichtlich und durch Menschen herbeigeführt, steigt das Risiko für eine PTBS. Nach einer Vergewaltigung entwickeln mehr als 90 % der Betroffenen eine akute Belastungsstörung und 50 % eine PTBS (Resnick, Acierno, Waldrop et al., 2007). Eine PTBS ist mit 31-84 % ebenfalls eine häufige Folge von Partnerschaftsgewalt (Iversonet al., 2011), eine K-PTBS mit bis zu 21% (Dokkedahl, Kristensen, Murphy & Elklit, 2021). 36 % der Gewaltbetroffenen erleben Angstzustände (FRA, 2014). Je nach Studie entwickeln 18-72 % substanzbezogene Störungen (Rivera et al., 2015). 20% berichten von Depressionen (FRA, 2014). Aber auch eine Panikstörung, Zwangsstörung, Dissoziative Störungen, Essstörungen, Somatoforme Störungen oder Veränderungen der Persönlichkeit können einer Traumatisierung folgen. Darüber hinaus zeigen sich Traumata häufig in (generalisierten) Schmerzen sowie einer Vielzahl körperlicher, oft chronischer Krankheiten wie Migräne, Neurodermitis, Gastritis oder Unterleibsbeschwerden.
Anzeichen für körperliche/sexualisierte Gewalt können blaue Flecken und Wunden in unterschiedlichen Heilungsstadien, Würgemale, ein Schal oder lange Kleidung sein, die Verletzungen verdecken soll. Auch Anzeichen im Verhalten lassen aufhorchen:
- Schwierigkeiten, Blickkontakt zu halten, oder Vermeidung eines solchen,
- Flashbacks oder Wegdriften/Erstarren (Dissoziieren),
- Vermeiden von oder ungewöhnliche Gleichgültigkeit oder Weinen und Nesteln bei bestimmten Themen/Triggern,
- großes Redebedürfnis oder fehlende Worte für Erlebnisse und Gefühle,
- Beziehungsprobleme, Isolation/sozialer Rückzug, Angst vor körperlicher Nähe, Berührungen, Menschenmengen oder fremden Personen,
- Panik vor Zahn-/Arztbesuchen und medizinischen Interventionen (entsprechen erneutem körperlichen Übergriff mit ggf. Gewalterleben und Ausgeliefertsein),
- auffällig hohes Kontroll- und Distanzbedürfnis,
- Aktionismus oder Leistungsabfall, Konzentrationsprobleme, Sprunghaftigkeit, Gedächtnislücken,
- ein schwieriger Vertrauensaufbau, häufiges Absagen von Terminen oder ein plötzlicher Therapieabbruch.

Körperliche Reaktionen können u. a. Zittern, Herzrasen, Schwindel, Schüttelfrost, Hypervigilanz, Schreckhaftigkeit, Hyperventilieren, Übelkeit, Magen-Darm-Probleme, Appetitlosigkeit, Gewichtsveränderungen, starke Müdigkeit, Erschöpfung bis hin zu Burnout, Alpträumen und Schlaflosigkeit sein.
Emotional können Menschen, die ein Gewalttrauma erlebt haben, je nach Persönlichkeit u. a. mit Unsicherheit, Nervosität, Ängsten, Panikattacken, Einsamkeit, Schuldgefühlen, Scham, Sinn-/Hoffnungslosigkeit, Trauer, Gleichgültigkeit (Abspaltung des Erlebten) oder Gereiztheit, Wut/Aggression sowie verminderter Schwingungsfähigkeit und Depression reagieren.
Wie kann ich das Thema ansprechen?
Es wäre von Vorteil, Gewalterfahrungen bereits in der therapeutischen und ärztlichen Anamnese zu erfragen, um unbewusste Retraumatisierungen evaluieren und vermeiden zu können. Wer im Rahmen der Probatorik/Diagnostik vermutet, dass sich hinter diffusen Symptomen ein Gewalttrauma verbergen könnte, sollte genug Zeit einplanen (keinesfalls am Ende der Sitzung!), die Klientin feinfühlig mit dieser Vermutung zu konfrontieren. Offenheit zu signalisieren, mit Verständnis zu reagieren und die Schweigepflicht (Ausnahmen nur nach den Kriterien des rechtfertigenden Notstands) zu betonen, gibt Sicherheit und schafft Vertrauen.
Mögliche Fragen können sein (nach Gysi, 2021):
- Fühlen Sie sich zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit sicher?
- Haben Sie manchmal Angst vor Freund:innen, Bekannten, Angehörigen, Kolleg:innen aufgrund von Drohungen und/oder Gewalt?
- Werden Sie manchmal erpresst und/oder bedroht?
- Haben Sie körperliche, sexualisierte und/oder psychische Gewalt erlebt oder erleben Sie aktuell Gewalt?
Dabei sollte kein Druck erzeugt werden. Wenn die Klientin abblockt, das Thema meidet oder sich hinausflüchtet, hat sie gute Gründe des Selbstschutzes und ist nicht bereit, sich zu öffnen. Womöglich liegt noch nicht genügend Vertrauen vor und die therapeutische Beziehung oder das Setting weisen (noch) nicht ausreichend Sicherheit auf. Ein Vertrauensaufbau nach man-made-Traumata kann Monate bis Jahre in Anspruch nehmen. Falls die Klientin Gewalterleben verneint, aber eine Annahme besteht, sollte der Verdacht in der Akte notiert und die Frau über Unterstützungsmöglichkeiten, Beratungsstellen, Notrufe und Hilfetelefone informiert werden. Therapeut:innen sollten zudem von der Erwartungshaltung absehen, dass Gewalterlebnisse vollumfänglich erinnert werden und beschreibbar sind. Traumatische Erlebnisse werden meist als Erinnerungssplitter gespeichert, was die Aufarbeitung von Gewalt so komplex macht.
Eine subtilere Annährung an die Thematik kann das Legen einer Lebenslinie sein (vgl. NET – Narrative Expositionstherapie). Steine, Blumen oder andere Figuren können belastende und positive Lebensereignisse symbolisch aufzeigen und bilden den Ausgangspunkt für mögliche weitere Gespräche über Einzelereignisse. Dabei bestimmt die Klientin das Tempo und den Grad, in dem sie bereit ist, über ihre Erlebnisse zu berichten.
Vorsicht ist bei Überforderung geboten, die sich in Form von Flashbacks oder Dissoziation zeigen kann. Auf insistierende oder auf Details der Gewalterfahrungen bezogene Fragen sollte daher im Rahmen der Probatorik/Diagnostik verzichtet werden, um die Gefahr einer Retraumatisierung zu vermeiden.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es darüber hinaus?
Gewaltbetroffene sollten – ohne Handlungsdruck – über zusätzliche Hilfsmöglichkeiten informiert werden: z. B. durch Fachberatungsstellen, im Gesundheitswesen, durch die Polizei für eine eventuelle Strafverfolgung, in Traumaambulanzen oder durch psychosoziale Prozessbegleitung. Daneben gibt es Frauenhäuser, Interventionsstellen, Zufluchtswohnungen sowie das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“. Dieses bietet Frauen, Personen aus deren sozialem Umfeld sowie auch Fachkräften unter der Nummer 116 016 rund um die Uhr kostenlose, barrierefreie und anonyme Beratung.

Viele Therapeut:innen haben Angst, etwas falsch zu machen, und fühlen sich mit einem Gewaltkontext überfordert. Die Therapeut:innen-Ausbildung sollte verpflichtend grundlegende Themen von Gewalt gegen Frauen und deren Auswirkungen beinhalten. Zudem ist ein Blick auf die Verursachenden (Täterprogramme!) und strukturellen Ursachen (Prävention!) für die Bearbeitung geschlechtsspezifischer Gewalt unumgänglich.
Stellt man fest, dass die Thematik die eigenen emotionalen wie fachlichen Kompetenzen übersteigt, sollte gemeinsam mit der Klientin eine traumageschulte Kolleg:in für die weitere Begleitung gesucht werden. Die Berichte von Gewalterfahrungen können zu Sekundärtraumatisierungen führen, insbesondere bei eigenen Gewaltvorerfahrungen. Seine eigenen Grenzen zu (er)kennen sowie eine regelmäßige Supervision bei gegebenenfalls traumaerfahrenen Kolleg:innen sind Zeichen verantwortungsbewusster Selbstfürsorge.
Zum Weiterlesen
MaLisa Stiftung: Ziel ist u.a. die Beseitigung von Diskriminierungen, Ungleichbehandlungen und geschlechtsspezifischer Gewalt.
(Werbung) Brenssell, A., Hartmann, A., Schmitz-Weicht, C. (2020). Kontextualisierte Traumaarbeit. Forschungsergebnisse aus der Praxis feministischer Beratungsstellen. Berlin: bff – FRAUEN GEGEN GEWALT E.V.
(Werbung) Büttner, M. (2022). Handbuch Häusliche Gewalt. Stuttgart: Schatteuer Verlag.
(Werbung) Meneses Colque, M. (2023). Die Behandlung von Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt sind. Verlag Unser Wissen.
(Werbung) Olbricht, I. (2004). Wege aus der Angst. Gewalt gegen Frauen. Ursachen - Folgen - Therapie. München: Verlag C. H. BECK oHG.
Quellenangaben