„Ich möchte wissen, woher ich komme“ - Spenderkinder psychologisch begleiten

Illustration mit weißen Spielfiguren und einer roten, die mit blauen Linien verknüpft sind

Immer mehr Menschen in Deutschland wachsen als sogenannte „Spenderkinder“ auf – Kinder, die durch den Samen eines Menschen gezeugt wurden, der keine rechtliche sowie soziale Elternrolle einnehmen möchte und den Wunscheltern häufig unbekannt ist. In der öffentlichen Darstellung erscheinen diese Kinder oft als „Wunschkinder“. Doch wie erleben Spenderkinder selbst ihre Herkunft? Welche psychischen Herausforderungen bestehen für Spenderkinder und ihre Familien? Dieser Beitrag möchte Psychotherapeut:innen und Berater:innen für die besonderen Herausforderungen sensibilisieren und praxisnahe Impulse für die Begleitung von Spenderkindern und ihren Familien geben.

Die rechtliche Situation in Deutschland ist eindeutig: Bereits 1970 wies die Bundesärztekammer darauf hin, dass Spenderkinder ein Recht haben, zu erfahren, wer ihr genetischer Vater ist, und dass der/die vermittelnde Ärzt:in dem Kind den Namen auf Nachfrage nennen muss. Aber erst seit 2018 gibt es ein zentrales Samenspenderregister, das Spenderkindern unkompliziert Auskunft über ihre Herkunft ermöglichen soll. Ein Mindestalter für die Auskunft gibt es nicht; bis zum 16. Lebensjahr vertreten die Eltern das Kind. Das Samenspenderregistergesetz regelt, dass auch ältere Dokumentationen 110 Jahre lang aufbewahrt werden müssen. Allerdings wurden diese Unterlagen nicht ins Samenspenderregister übernommen, sondern lagern weiter in Praxen und Kliniken. An diese müssen sich ältere Spenderkinder wenden, um Auskunft zu erhalten. Das ist problematisch, weil viele Ärzt:innen ihren Samenspendern Anonymität versprochen haben.

Die medizinische Praxis spricht von „Samenspende“. Diese technische und unpersönliche Bezeichnung macht schwer greifbar, dass dabei Verbindungen zwischen Menschen entstehen. Und diese sind beim Konzept der „Samenspende“ auch unerwünscht. So ist es eine Voraussetzung für die Samenvermittlung, dass der „Spender“ gerade keine sozio-emotionale Beziehung zu seinen genetischen Kindern wünscht. Demgegenüber möchten aber sehr viele aufgeklärte Spenderkinder früher oder später wissen, wer ihr genetischer Vater ist. Viele möchten Kontakt aufnehmen und mehr über ihn als Mensch erfahren. Umgekehrt wünschen sie sich, auch von ihm als Person wahrgenommen zu werden. In diesem Text wird deshalb der Begriff Samenvermittlung statt Samenspende verwendet. Die verwendeten Begriffe werden unter Spenderkindern international diskutiert. Der Begriff „Spender“ ist nicht nur unpersönlich, er ist auch aus Perspektive der Wunscheltern gewählt: Allenfalls ihnen wurde etwas „gespendet“. Dem Kind wurde nichts „gespendet“: zum Zeitpunkt der vermeintlichen Spende existierte es noch nicht und als es entstanden war, war der Mensch, von dem der Samen kam, bereits sein genetischer Vater. Viele Betroffene verwenden relationale Begriffe wie genetischer oder biologischer Vater.

DNA-Datenbanken als Aufklärungstreiber

Ein großes Thema ist immer wieder die Aufklärung von Spenderkindern: Nach wie vor erfahren die meisten Kinder nicht, spät und oft zufällig von ihrer Entstehungsweise (Tallandini et al., 2016). Viele Kinder fühlen sich manipuliert, wenn sie herausfinden, dass ihre Eltern sie gezielt unwissend gehalten haben, um ihre exklusive Eltern-Kind-Beziehung nicht zu gefährden. In einer eigenen Studie mit 59 erwachsenen Spenderkindern aus Deutschland berichtete etwa die Hälfte, dass sie auf Initiative ihrer Eltern aufgeklärt wurden.  

Man sieht einen Mann, der einen Spenderbecher mit Sperma in der Hand hält.

Es war im Trennungsstreit meiner Eltern, als es darum ging, wer bleibt bei wem. Mein Bruder ist ja drei Jahre älter und war ein absolutes Papa-Kind und wollte auch bei meinem Vater bleiben/wohnen. Meiner Mutter ging es damit natürlich nicht gut und in dem Moment sagte sie dann zu uns: »Euer Vater ist gar nicht euer richtiger Vater.« (weiblich, erfuhr es im Vorschulalter)*

Meine Mutter hat eine psychologische Beratung in Anspruch genommen. Diese hatte ihr mitgeteilt, dass sie mich möglichst früh aufklären soll. (weiblich, erfuhr es im Grundschulalter)

Die andere Hälfte erfuhr es zufällig – etwa durch Blutgruppenunterschiede, Dokumentenfunde oder DNA-Tests. Die Aufklärung berührt vor allem die Beziehung zur Mutter: Viele Betroffene berichten von einem Vertrauensverlust, wenn die Information lange verschwiegen wurde. Die Beziehung zum rechtlichen Vater verändert sich seltener. Sie ist oft von Zurückhaltung geprägt – viele Kinder möchten seine Gefühle nicht verletzen und vermeiden das Thema.

Ich habe eigeninitiativ zwei Vaterschaftstests durchgeführt. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass mein Vater nicht mein biologischer Vater sein kann. Der Weg bzw. die Entscheidung bis zu diesen Tests war ein langer. Zeitlebens spürte ich, dass in unserer Familie etwas nicht stimmte, ich gänzlich anders aussah als alle anderen, andere Interessen hatte usw. Mit dem mir zweifach vorliegenden Ergebnis, dass mein Vater nicht mein biologischer Vater sein kann, konfrontierte ich meine Eltern, die nach langem Schweigen und Ausflüchten mir dann erzählten, dass ich mittels Samenspende gezeugt wurde.« (männlich, erfuhr es in seinen 30ern)

Auch zwischen Geschwistern kann das Thema unterschiedlich erlebt werden: Während manche offen darüber sprechen, verdrängen andere das Thema.

Psychische Herausforderungen für Spenderkinder

Die Suche nach dem genetischen Vater ist für viele Spenderkinder ein zentrales Thema. Dabei geht es oft um grundlegende Fragen: Wie sieht er aus? Welche Krankheiten gibt es in seiner Familie? Warum hat er sich entschieden, auf diese Weise Kinder zu zeugen?

Die Gefühlslage dazu ist vielschichtig: Neugier und der Wunsch nach Informationen stehen neben Unsicherheit und Angst vor Ablehnung.

„Mein Erzeuger (Samenspender) ist bekannt, er wünscht jedoch keinen Kontakt zu mir, weil er seine Familie nicht zerstören will.“ (Laura, 18)

Viele Spenderkinder erleben Loyalitätskonflikte gegenüber ihren rechtlichen Eltern – sie möchten ihre Bedürfnisse nicht über die ihrer Eltern stellen, und fürchten, diese zu verletzen.

„Ich möchte sehr gerne wissen, woher ich komme und wieso ich so bin, wie ich bin. Doch ich möchte meinen Vater nicht enttäuschen, oder ihn verletzen.“ (Lisa, 19)

„Letztes Jahr wurde sogar meine Zeugung noch mal zum Thema, ich hatte mit meinem Vater darüber gesprochen und versichert, mich interessiere es absolut nicht, wer mein biologischer Vater sei. Da habe ich wohl eher dem Bedürfnis meines Vaters entsprochen, denn irgendwie interessiert(e) es mich schon.“ (Matthias, 28) 

Eine Person in medizinischer Kleidung hält einen blauen Umschlag mit DNA TEST RESULTS in der Hand.

Ein wachsender Anteil der Spenderkinder erfährt heute über DNA-Datenbanken von seiner Herkunft. Drei von vier Spenderkindern, die sich in einer DNA-Datenbank registrieren, finden dort unmittelbar Halbgeschwister, manche auch direkt ihren genetischen Vater. Nach wie vor gibt es in Deutschland keine Begrenzung, wie viele Kinder ein „Spender“ zeugen darf. Die größten über DNA-Datenbanken identifizierten Gruppen umfassen in Deutschland aktuell 30 bis 40 Halbgeschwister. Ärztlicherseits wurden teilweise über 100 Schwangerschaften durch den Samen eines Mannes dokumentiert und viele „Spender“ berichten, über mehr als 10 Jahre regelmäßig Samen zur Zeugung von Kindern abgegeben zu haben. Spenderkinder können also realistisch von einer Halbgeschwisteranzahl im oberen zwei bis dreistelligen Bereich ausgehen.

Die Kontaktaufnahme ist meist mit Freude, aber auch mit Unsicherheit und Erwartungsdruck verbunden. Während viele Spenderkinder den Kontakt zu Halbgeschwistern als bereichernd erleben, ist der Kontakt zum genetischen Vater oft mit besonderen Herausforderungen verbunden: Die meisten „Samenspender“ rechnen nicht damit, kontaktiert zu werden, und sind häufig in soziale Familien eingebunden, die nichts von den weiteren genetischen Kindern wissen.

„Ich bin sehr bemüht im Umgang mit ihm, weil ich nicht möchte, dass er plötzlich den Kontakt zu mir abbricht oder mich ablehnt, weil ich in manchen Dingen eine andere Meinung habe als er. Ich fühle mich wie eine Kandidatin in einem Vorstellungsgespräch, von dem man nie weiß, wie lange es dauert.“ (Claire, 35)

Im Fall von Claire war es so, dass der genetische Vater zwar bereit zu Kontakt mit ihr war, aber nicht wollte, dass sie Kontakt mit seinen ehelichen erwachsenen Kindern aufnimmt. Claire wusste, wenn sie das gegen seinen Willen täte, würde er den Kontakt mit ihr abbrechen. Solch eine Konstellation kommt häufiger vor.

Wenn der genetische Vater offen auf das Spenderkind reagiert, wird dies als besonders positiv erlebt:

Nach einem sehr langen Gespräch verabschiedeten wir uns und er klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Auch wenn ich von vornherein gesagt habe, dass das Treffen nur der Suche nach meinen Wurzeln dient, war ich doch überglücklich von meinem biologischen Vater eine Geste der Anerkennung zu bekommen.“ (Sebastian, 26)

Dabei geht es nicht darum, dass das Spenderkind den genetischen Vater als besonders positiv erlebt, sondern darum, dass ein Abgleich möglich ist.

„Als ich Anfang letzten Jahres durch eine DNA-Datenbank u. A. Kontakt zu meinem Erzeuger aufnehmen konnte, war das ein riesengroßes Geschenk. Das erste Telefonat mit ihm war jedoch ziemlich sch***. Danach überlegte ich, was das Gespräch so schlimm gemacht hat. Ich formulierte die Eigenschaften, die den Erzeuger so unsympathisch gemacht haben, und war verblüfft, als ich genau die Eigenschaften wiedererkannte, die ich jahrelang an mir ablehnte. Dieser Tag war einerseits extrem aufwühlend und unangenehm, doch am Ende sehr aufklärend und gewinnbringend. Seither habe ich mich selber akzeptieren können und fühle mich meinem Selbst so nah wie nie.“ (Anna, 25, Aufkl. mit 15 J.)

Präventive und beraterische Praxisimpulse

Psychotherapeutisch und beratend ergeben sich für diese Integrationsaufgabe mehrere Ansatzpunkte: Präventiv ist es zentral, Eltern zur frühzeitigen Aufklärung zu ermutigen. Kinder sollten von Anfang an altersgerecht über ihre Entstehung informiert werden, weil sie ein Recht auf Kenntnis ihrer Herkunft haben. In sogenannten „Wickeltischgesprächen“, wie sie aus dem Adoptionsbereich bekannt sind, können Eltern ihrem Kind von seinem weiteren genetischen Elternteil erzählen, um sich mit dem Sprechen darüber vertraut zu machen. Im Babyalbum können sie ein Feld für den genetischen Vater ergänzen und ihn auf diese Weise wahrnehmbar machen.

Es kann hilfreich sein, mit den Eltern über deren Ängste und Unsicherheiten zu sprechen und sie auf typische Fragen der Kinder vorzubereiten. Dabei kann durch Begriffe wie „Samenvermittlung“ und „genetischer Vater“ die relationale Tragweite dieser Familienform einbezogen werden. Mit Figuren kann das komplexe Familiensystem sichtbar und greifbar gemacht werden. Eltern, deren minderjährige Spenderkinder bereits Kontaktwünsche ausdrücken, sollten ermutigt werden, ihre Kinder bei der Kontaktaufnahme zu unterstützen. Abzuwarten birgt die Gefahr, dass der genetische Vater in der Wartezeit verstirbt. Eltern unaufgeklärter erwachsener Spenderkinder sollten ebenfalls zur Aufklärung ermutigt werden: Lieber spät, aber durch die Eltern aufgeklärt, als dass das Kind es selbst herausfindet. 

Ein älterer Mann und eine junge Frau sitzen an einem Tisch vor einem Fotoalbum.

In der Begleitung von Spenderkindern sollte Raum für ambivalente Gefühle – Neugier, Angst, Loyalitätskonflikte und Unsicherheiten - gegeben werden. Spenderkindern begegnet häufig die Erwartung, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Im Sinne von Empowerment ist es für sie sehr hilfreich, bestärkt zu werden, ihre Gefühle ernst zu nehmen und informiert Entscheidungen zu treffen: Sie haben ein Recht, zu erfahren, wer ihr genetischer Vater ist. Über DNA-Datenbanken finden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Halbgeschwister. Der genetische Vater kann – ggf. mit Hilfe eines DNA-Detektivs – identifiziert werden, auch wenn er selbst nicht registriert ist. Um das komplexe Familiensystem zu integrieren, kann eine Visualisierung mit Figuren oder Genogrammarbeit ein konstruktiver Ansatz sein. Zum Umgang mit Ablehnungserfahrungen kann Trauerarbeit erforderlich sein. Viele Spenderkinder erleben insbesondere den Austausch mit anderen Spenderkindern als hilfreich.

Neben der direkten Beratung von Spenderkindern begegnet dir dieses Thema vermutlich viel häufiger indirekt. Die meisten Spenderkinder wissen nichts von ihrer Entstehungsweise und auch bei aufgeklärten Spenderkindern ist dies häufig nicht der Grund für den psychologischen Kontakt. Das Thema steckt eher „nebenbei“ in vielen Familien drin: Möglicherweise tragen Eltern das Thema mit sich und es gibt noch unaufgeklärte Kinder, ein Patient oder Partner hat selbst auf diese Weise genetische Kinder – und die Partnerin weiß evtl. nicht davon -, oder eheliche Kinder wissen nichts von ihren Halbgeschwistern. Frag ruhig aktiv nach, wenn du den Eindruck hast, das Thema könnte berührt sein.

Abschließend lässt sich festhalten: Die Frage nach der eigenen Herkunft ist für die meisten Spenderkinder zentral. Frühzeitige Aufklärung wird empfohlen, verhindert aber nicht das Interesse an der eigenen Herkunft. Therapeut:innen und Berater:innen sind gefragt, Familien auf diesem Weg zu begleiten – mit Offenheit, Empathie und dem Bewusstsein für die besonderen Herausforderungen, die mit diesem Familiensystem einhergehen. 

Eine Liste mit weiterführender Literatur und Links findest du hier: PDF zum Download.  

* Die verwendeten Zitate sind aus der Spenderkinderstudie2020 sowie aus Erfahrungsberichten von der Homepage des Vereins Spenderkinder und – mit Einverständnis der jeweiligen Personen – aus Mails an den Verein Spenderkinder.