Kink-sensibel arbeiten in der Psychotherapie
Über sexuelle Präferenzen und Fantasien zu sprechen, ist für viele Menschen schambehaftet, insbesondere wenn es um „abweichende“ Fantasien, sogenannte „Kinks“ geht. Das Tabu zeigt sich oft auch in der Psychotherapie. Eine kinksensible Haltung einzunehmen und Kinks als eine normale Variante der Sexualität zu verstehen, birgt Chancen und Ressourcen.
Hast du das Thema Sexualität in deiner Beratung oder Therapie schon einmal von dir aus bei Patient:innen oder Klient:innen angesprochen? Herzlichen Glückwunsch, dann bist du eine:r der wenigen Mutigen, die das tun! Wie hat sich das für dich angefühlt? Vielleicht war etwas Angst dabei. Oder Scham? Noch tabuisierter oder schambehafteter wird es, wenn es um das Gespräch und den Umgang mit „abweichendem” sexuellem Verhalten oder „abweichenden” Fantasien geht. Für viele gibt es (noch) keine gute soziale Norm, um über sexuelle Themen professionell zu sprechen. Daher schämen wir uns. Als Patient:innen, Klient:innen, Therapeut:innen, Menschen.
Unter dem Schirmbegriff „Kink” versteht man eine Erlebniswelt, die Elemente aus dem BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) umfasst, den Machtaustausch in Beziehungen oder Fetische beinhalten kann und als sexuelle oder nicht-sexuelle Beziehungen, Partnerschaften oder Communities gelebt werden können. Kink kann sich auf der Fantasieebene abbilden oder/und im realen Verhalten. Kink kann eine untergeordnete Rolle spielen oder wichtiger Teil einer (sexuellen) Identität sein. Es gibt nicht „die eine” Art, kinky zu sein. Personen, unabhängig von Gender oder „biologischem“ Geschlecht, die kinky Fantasien haben, sich als kinky identifizieren oder kinky Praktiken leben, bezeichne ich hier als Kinkster, angelehnt an das Vorgehen im sehr zu empfehlenden Buch „BDSM und Psychotherapie“ von Gisela Fux Wolf.
Was ist in der Sexualität normal?
Historisch wurden Sadomasochismus, Fetische oder andere „Paraphilien” als Perversion, also als Abweichung vom Normalen betrachtet. Federführend war hier Richard von Krafft-Ebing mit seiner „Psychopathia sexualis”. Menschen, die kinky Fantasien oder Verhalten zeigen, wurden (und werden noch) mindestens seither als krank betrachtet und damit pathologisiert. Damit einher gingen Überlegungen über die Entstehung „abweichender” Fantasien. Diese ätiologischen Konzepte beinhalten beispielsweise die Idee, dass Kinkster in der Kindheit traumatisiert worden sein müssten, oder dass mit kinky Verhalten andere psychische Probleme kompensiert werden sollten. Wahlweise auch, dass Kink Ausdruck patriarchaler Strukturen und demnach per se antifeministisch sei (Cross, 2006). Keines dieser ätiologischen Konzepte konnte in der Forschung bestätigt werden.
Klar ist: Es gibt keine Hinweise, dass Kinkster höhere Raten an psychischen Erkrankungen aufweisen. Der Anteil an in der Kindheit traumatisierten Menschen ist bei Kinkstern und Nicht-Kinkstern etwa gleich hoch (siehe Fux Wolf, 2023).
Kink als normale Variante sexueller Präferenz
In der Zusammenschau ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass Kink einfach eine normale Variante (sexueller) Präferenz ist. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider, denn in den meisten Studien zu diesem Thema ist die Anzahl der Personen, die in ihren sexuellen Fantasien kinky Inhalte als erregungssteigernd empfinden, im Bereich um und über 50%. Und ungefähr 10-20% der Menschen leben zumindest gelegentlich Praktiken aus dem BDSM-Bereich aus. In alten Darstellungen von Sexualität werden regelmäßig Fesselungen oder Flagellationen gezeigt, es gibt Bondage-Kunstformen; natürlich findet sich ebenso in aktueller Pornographie ein großes Spektrum an kinky Filmen. BDSM-Fantasien scheinen eher zuzunehmen: Bei den Boomern (1946 bis 1964 geborene) berichten 12% von BDSM-Fantasien, in der Gen Z (1996/97 bis 2010/11) sind es 56% (Lehmiller, 2024).
Zwischen Stigmatisierung und Ressource
Diese Daten sollen zur Depathologisierung beitragen. Aus der LGBTQIA+-Forschung ist bekannt, dass Stigmatisierungen (auch im Gesundheitswesen) sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken. Stigmatisierung steigert das Risiko für eine depressive Erkrankung oder eine Angststörung (Hatzenbuehler, 2013).
Dennoch finden sich bei Kinkstern trotz Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrung keine erhöhten Raten an psychischen Erkrankungen. Es ist also zu überlegen, ob Kink nicht sogar eine Ressource darstellen oder zur Resilienz (also Widerstandskraft gegen Erkrankungen) beitragen könnte. Es gibt inzwischen einige Hinweise in der Literatur, dass Kink therapeutisch wirken kann, auch wenn Kink keine Therapie darstellt (Cascalheira, 2021). Positive Wirkmechanismen können z. B. sein, dass durch die erhöhte Grenz-Sensibilität, klare Konsensverhandlungen, Safewords oder ähnliches sichere(re) sexuelle Erfahrungen gemacht werden können. Auch das Erleben von großer Nähe und Vertrauen kann die Bindungssicherheit erhöhen. Das „Durchspielen“ vergangener, vielleicht traumatischer Erfahrungen, die aber im Unterschied zu damals mit sorgfältiger Planung und Absprache, also mit Kontrolle über die Situation einhergehen, kann zu einer Selbstermächtigung und einem Weg aus der Ohnmacht führen (sicherheitshalber hier der Hinweis: sogenanntes Trauma-Play oder andere Edge-Play-Szenarien sind für erfahrende Praktizierende, nicht für BDSM-Einsteiger:innen).
Kinksensible Psychotherapie
Viele Kinkster, die natürlich auch psychisch erkranken können, suchen erst spät oder gar keine Hilfe bei psychischen Erkrankungen. Sie haben Angst, dass ihr:e Therapeut:in Kink mit Gewalt verwechselt, die Basics nicht kennt oder die Person vorverurteilt, in dem sie alle auftretenden Schwierigkeiten auf das Kinky-Sein attribuiert.
Gleichzeitig sollten sich Gesundheitsprofessionelle mit dem spezifischen Vokabular sowie den spezifischen Herausforderungen (z. B. Sub-Drop, Top-Drop) und typischen Beziehungsschwierigkeiten, die entstehen können (z. B. Bleeding-through-Dynamiken), auskennen. Tipp: Ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen dieses Artikels findest du am Ende als PDF.
Ebenso ist es hilfreich für Behandelnde, sich mit den eigenen bestehenden Vorannahmen reflektierend auseinander zu setzen. Analog zu Homo- und Transfeindlichkeit gibt es auch sogenanntes Kink-Shaming und Kinkfeindlichkeit. Diese verinnerlichten Vorurteile gibt es bei Behandelnden ebenso wie bei Hilfesuchenden.
Ich stelle folgende Hypothese auf: Wenn Kink normalisiert, depathologisiert und entstigmatisiert wäre, könnte die Linie, die konsensuellen BDSM von Gewalt trennt, viel deutlicher besprech- und damit sichtbar werden. Alle, auch nicht-Kinkster könnten von Konsensverhandlungen (z. B. nach dem FRIES-Konzept) und Risikokonzepten (z.B. SSC, RACK, CCCC) profitieren. Konsensverhandlungen dienen dazu, oft recht detailliert, die gewünschte (sexuelle oder nichtsexuelle) Begegnung oder Beziehung zu verhandeln. Was möchte wer? Was nicht? Wie wird darüber kommuniziert? Welche Safewords/ Zeichen werden verwendet? Aus welcher Position verhandelt jede Person? Welche Aftercare wird gewünscht? Da im Rahmen von BDSM auch Praktiken durchgeführt werden, die mit gewissen Risiken einhergehen können, wurden verschiedene Risikokonzepte entwickelt, damit Menschen befähigt werden, darüber zu sprechen und das Risikolevel gemeinsam festzulegen.
Problematisches Verhalten oder Partnerschaftsgewalt könnte (in- und außerhalb von BDSM) leichter erkannt und unterbunden werden.
Jugendliche, die gerade lernen, wie Sexualität und Beziehungen funktionieren, könnten besser dabei unterstützt werden, ihre sexuellen Präferenzen in einem sicheren und konsensuellen Rahmen zu erforschen.
Aus diesen Gründen bin ich sehr dafür, ein Basiswissen zu Kink sowohl in der Bevölkerung als auch in Psychotherapie, Medizin und Beratung zu schaffen.
Inzwischen gibt es immer mehr KAPs, also Kink-Aware Professionals. Eine Liste von Fachkräften findest du z. B. hier.
Wenn du dich in dem Bereich weiter informieren möchtest, gibt es zum Beispiel die Leitlinien zum kink-sensiblen Arbeiten, Supervisions- und Fortbildungsveranstaltungen z. B. der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin und Sexualpsychologie, oder das bereits genannte Buch zu BDSM und Psychotherapie. Gleichzeitig ist immer die therapeutische Beziehung ein wichtiger Faktor für das Gelingen einer Therapie.
Auch Therapeut:innen ohne Schwerpunkt können mit dem Thema professionell und sensibel umgehen lernen. Es ist hilfreich, sich zu vernetzen und sich mit Anlaufstellen für Kink-Erforschende oder Praktizierende vertraut zu machen. Denn „finding a kink-aware professional is so important, because it’s really hard to be in therapy when you’re hiding your life from your therapist” (Tashlin & Kaldera, 2014).
Glossar
Von Aftercare bis Trauma Play: Die wichtigsten Begriffe des Artikels haben wir dir im Glossar zusammengestellt. PDF zum Download.
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Fux Wolf, G. (2023). BDSM und Psychotherapie: eine Handreichung auf dem Weg zum kinkrespektvollen Arbeiten. Münster: Edition Assemblage.
(Werbung) Kossow, S. (2025): Das Gute an (schl)echtem Sex – wie Bindung, Kink und Konsens uns den Arsch retten können. Köln: Divana Verlag.
Quellen