Sexualanamnese und Sexualität in der Psychotherapie – So findest du deinen Weg
Sexuelle Probleme sind verbreitet. In der Praxis gibt es jedoch ein Gefälle zwischen Bedarf und Versorgung, denn in der medizinischen und psychotherapeutischen Ausbildung werden sexuelle Aspekte häufig nicht ausreichend gelehrt. Wie du dich mit dem Thema vertraut machst und eine gute Sexualanamnese erhebst, erfährst du in diesem Beitrag.
Sexuelle Störungen sind häufig. Etwa 45 % der Frauen und 33 % der Männer (Briken et al., 2020, hier werden aufgrund des Studiendesigns binäre Geschlechterkategorien verwendet) leiden nach aktuellen Kriterien der ICD-11 innerhalb eines Jahres unter sexuellen Problemen. Sexuelle Schwierigkeiten können unsere Beziehungen und unsere Lebensqualität negativ beeinflussen, denn wir Menschen sind auf Beziehungen angewiesen. Gute soziale Beziehungen wiederum schützen uns vor verschiedenen körperlichen Erkrankungen und senken die Sterblichkeit (Kanbay, 2023). In den medizinischen und psychotherapeutischen Ausbildungen werden sexuelle Aspekte häufig nicht ausreichend gelehrt, sodass hier ein Gefälle zwischen Bedarf und Versorgung besteht. Daher solltest du dich mit diesem Thema vertraut machen.
Warum solltest du eine Sexualanamnese machen?
Eine gute Sexualanamnese dient mehreren Zwecken:
- Du gewinnst die benötigten Informationen.
- Du gestaltest einen sicheren Rahmen und stärkst somit die Therapeut:innen-Patient:innenbeziehung (wichtiger Wirkfaktor nach Grawe für eine gelungene Psychotherapie!)
- Du kannst ein Modell für deine Patient:innen sein: Wie können wir über sensible oder tabuisierte Themen sprechen?
- Selbst wenn keine Beschwerden im Bereich Sexualität beklagt werden, bereitest du den Boden dafür, dass der/die Betroffene später darauf zurückkommen kann, wenn das Thema relevant wird.
Welchen Rahmen braucht eine Sexualanamnese?
Um eine gute Sexualanamnese erheben zu können, braucht es Übung und Selbstreflexion. Setze dich mit den Inhalten der Sexualanamnese (siehe unten) zunächst auf einer persönlichen Ebene auseinander, sprich darüber in deiner Selbsterfahrung, in der Supervision oder in der Intervision. So findest du nach und nach zu einem Vokabular, was weder Fachchinesisch noch vulgär ist, kennst die Gefühle, die dabei auftreten, und kannst deine eigene sexuelle Biographie einordnen. In welcher „Bubble“ bist du zu Hause? Was sind deine Normen? Gesellschaftlich wird in Deutschland eine monogame Zweipersonenbeziehung zwischen einer Cis-Frau und einem Cis-Mann (mit Kindern oder zumindest Kinderwunsch), deren Sexualität vaginale Penetration beinhaltet, als Norm angesehen. Die Realität muss in jedem Einzelfall vorbehaltslos und nicht urteilend erfragt werden. Die innere Haltung (und damit die Sprache) sollte diversitäts-, gender-, kultur-, rassismus- und religionssensibel sein. Im Idealfall hast du dich mit deinen Privilegien bereits auseinandergesetzt.
Was beinhaltet die Sexualanamnese?
Die Inhalte einer ausführlichen Sexualanamnese können hier nur stichwortartig aufgeführt werden. Für eine Vertiefung findest du Erhebungsinstrumente und Anamnesekonzepte zum Beispiel bei Ahlers et al. (2004).
Wenn du dich unsicher fühlst, beginne mit einem Thema, das dir leichtfällt. Am Anfang war es für mich als Ärztin zum Beispiel einfach, über körperliche Vorerkrankungen, vorangegangene sexuell übertragbare Erkrankungen und deren Therapie, Operationen, Medikamente und deren mögliche sexuelle Nebenwirkungen zu sprechen.
Darüber hinaus nutze ich gern das Konzept der drei Dimensionen von Sexualität (Beier et al., 2011):
Beziehungsdimension: Bindungsstil, Erfahrungen aus dem Elternhaus (wie wurde im Elternhaus geliebt, mit Nacktheit und Sexualität umgegangen, wie wurde die Person aufgeklärt?), bisherige Beziehungserfahrungen, Beziehungskonzepte, Affären, Vertrauensbrüche, Verletzungen, Trennungen
Fortpflanzungsdimension: Verhütung, Kinderwunsch, Schwangerschaften, Fehlgeburten, traumatisierende oder gewaltvolle Geburtserfahrungen, Stillzeit, Elternrolle, Meno-/Andropause.
Lustdimension: Du kannst dich an den drei Punkten sexuelle Fantasien, sexuelles Verhalten und sexuelle Funktionsstörungen orientieren.
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Auf der Fantasieebene wird exploriert, wie die sexuelle Präferenzstruktur einer Person organisiert ist. Diese bildet sich oft im Verlauf der Adoleszenz heraus und ist recht stabil. Sie kann und soll therapeutisch nicht verändert werden (solche „Konversionsbehandlungen“ sind unethisch und verboten). Sie kann erfragt werden, indem die Person gebeten wird, sich die letzten 5-10 Orgasmen, die durch Masturbation ohne weiteres Bild- oder Tonmaterial erreicht wurden, vorzustellen. Welche Fantasie tritt regelmäßig am „Point of no return“ auf? Die Präferenz strukturiert sich auf drei Achsen: Welches Körperalter haben die vorgestellten, erregenden Personen (kindlich, jugendlich, erwachsen)? Welches Geschlecht tritt bei den fantasierten Personen am häufigsten auf? Welcher Modus, also welche Art der sexuellen Interaktion wird als erregend erlebt? Kommt regelmäßig vaginale oder anale Zirklusion (dieser Begriff des aktiven Umschließens aus der feministischen Sexualmedizin ersetzt den alten Begriff der passiveren Penetration) vor? Spielt eine Form der Machtdynamik (Submission, Dominanz oder andere Elemente des BDSM) eine Rolle? Fetische? Andere Kinks? Besteht Leidensdruck bezüglich der als erregend erlebten Fantasien (das ist regelmäßig zum Beispiel bei einer pädophilen Präferenzakzentuierung der Fall)?
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Im Bereich des sexuellen Verhaltens kommt es vor allem auf die Wahrnehmung und Verarbeitung der sexuellen Verhaltensweisen und nicht so sehr auf die Exploration der Anzahl an Sexualpartner:innen oder genauen Praktiken an. Das Konzept der „Perversionen“ ist veraltet, pathologisierend und nicht zielführend. Es ist nicht unsere Aufgabe, sexuelles Verhalten einer Person (moralisch oder medizinisch) zu beurteilen. Besteht ein Leidensdruck zum Beispiel in der Häufigkeit sexueller Verhaltensweisen (Pornografiekonsum, Escort, Sexkauf, Masturbation) oder Kontakte (zu viele, zu wenige, unpassende)? Wenn Drogen eingesetzt werden, wie empfindet das die Person (Stichwort Chemsex)? Können sexuelle Kontakte konsensuell (also einvernehmlich) verhandelt und umgesetzt werden? Sind die Kontakte sicher (genug) für die jeweilige Person?
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Exploriere sexuelle Funktionsstörungen konkret. Hier ist nach Symptomen wie Appetenzproblemen (verminderte oder erhöhte „Libido“), Erregungsstörungen (ausbleibende oder verringerte Erektion von Penis oder Klitoris, ausbleibende/verringerte Lubrikation oder Lusttropfen), Orgasmusstörungen (zu früher, zu später oder ausbleibender Orgasmus) sowie nach Schmerzen beim Sex, Schmerzen der Vulva/des Genitals oder Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur zu fragen. Ordne hier ein, ob die Symptomatik primär oder sekundär ist (also schon immer oder erst nach symptomfreier Phase) und ob die Problematik generalisiert in jeder (sexuellen) Situation auftritt oder nur mit bestimmten Partner:innen oder bei bestimmten Praktiken (situativ). Bei sekundären, generalisierten Erregungsstörungen ist eine somatische, also körperärztliche Abklärung erforderlich, da das ein Hinweis für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung sein kann („Der Penis ist die Antenne des Herzens“).
In jedem dieser Symptome und Themenbereiche können grundlegende Themen wie der eigene Körper, die eigene Geschlechtsidentität, Rollenerwartungen in unserer patriarchalen Gesellschaft oder (sexuelle) Traumatisierungen eine Rolle spielen. Auch das ist sorgfältig zu explorieren. Aufgrund der immensen Auswirkungen und der unterschätzten Häufigkeit und Relevanz sexueller Traumatisierungen lohnen sich meines Erachtens gezielte Weiterbildungen zu diesem Thema sehr.
Bitte achte ebenso auf eine sorgfältige Dokumentation, die sachlich und korrekt ist.
Übertragung und Gegenübertragung
In der therapeutischen Arbeit mit Sexualität sind wir (wie sonst auch) mit unseren eigenen und den Emotionen unseres Gegenübers konfrontiert. Häufig spielen Scham, (Versagens-)Angst, Ekel, sexuelle Erregung und Ärger bei uns selbst eine Rolle. Bitte achte besonders aufmerksam auf deine eigenen Emotionen. Nutze sie für deine Arbeit, nicht zur gemeinsamen Verdrängung des Themas. Beispiel Schamgefühle: Scham tritt auf, wenn eine soziale Norm verletzt wird. Da es kaum Normen zum Sprechen über Sexualität gibt, empfinden wir häufig Scham dabei. Wenn du das Thema im besten Sinne „schamlos“ besprechen kannst, setzt du die Norm auch für deine Patient:innen, sodass deren Schamgefühle ebenfalls reduziert werden können. Wenn du Angst, Ekel, Ärger oder Erregung spürst, setze dich damit in der Selbsterfahrung, Supervision oder Intervision auseinander. Für eine gute Versorgung ist es notwendig, dass du deine eigenen Themen kennst und nicht in die Beziehung zum/zur Patient:in hineinträgst, sofern es sich um eine Übertragung handelt.
Grenzen
In der therapeutischen Arbeit mit Sexualität ist eine achtsame und Grenzen schützende Vorgehensweise besonders wichtig. Schütze einerseits deine eigenen Grenzen, indem du beispielsweise nach einer Fehlgeburt oder Krebserkrankung während deiner eigenen Verarbeitungsprozesse eher mit Klient:innen mit anderen Anliegen arbeitest oder eine Pause einlegst. Schütze andererseits die Grenzen deiner Patient:innen, indem du eine klare, professionelle Beziehung ohne persönliche Offenbarungen, Sonderbehandlungen, Komplimente, körperliche Berührungen oder andere sexualisierte Kontaktangebote führst (Stichwort „professional sexual misconduct“, du kannst dich im Zweifel an den Verein „Ethik in der Psychotherapie“ wenden).
Und drittens kann es (eher selten) vorkommen, dass du die Grenzen Dritter schützen musst, wenn ein:e Patient:in dir im Rahmen einer Sexualanamnese oder im Verlauf anvertraut, Impulse für sexuelle Übergriffe gegen eine konkrete Person zu empfinden. Bitte informiere dich hier bereits im Vorfeld, wie du hier abgestuft vorgehen kannst und wie du in einer Situation mit „Gefahr im Verzug“ handeln solltest, um die Schweigepflicht nicht fälschlich zu brechen.
Therapeutische Hinweise
Keine:r erwartet eine perfekte Sexualanamnese von dir. Nutze jede Gelegenheit zum Üben und Reflektieren. Einer meiner Ausbilder (Kurt Loewit) prägte die goldene Regel: „Nimm die Watte aus den Ohren in den Mund“.
Das heißt: Hör zu, lass dich unvoreingenommen ein. Der/die Patient:in ist der/die Expert:in für ihr Problem. Bilde dich weiter. Und besonders wichtig: vernetze dich. Denn auch wir Therapeut:innen sind Beziehungswesen.