„Ich hatte den Eindruck, meine Therapeutin glaubt mir nicht“

Eine dunkelhäutige Frau sitzt einer anderen Frau gegenüber und schaut etwas resigniert zur Seite.

Diskriminierung und Rassismus sind für viele Menschen in unserer Gesellschaft eine alltägliche Erfahrung. Erfahrungen, die in der Psychotherapie nicht immer Platz finden - oder sogar reproduziert werden. „Ich würde mir wünschen, dass der Mut dazu da ist, sich dem Thema zu öffnen“, sagt Psychotherapeutin Sema Akbunar. Warum wir mehr Bewusstsein und Sensibilität brauchen, damit Psychotherapie für alle Menschen zum Safe Space wird.

Sema, in eurer Praxis habt ihr einen interkulturellen Schwerpunkt. Was zeichnet kultur- und diskriminierungssensible Psychotherapie aus?  

Optimalerweise wird in einer kultur- und/oder diskriminierungssensiblen Psychotherapie ein gewisses Verständnis für Diskriminierungsformen mitgebracht. Diskriminierung ist ja nicht nur die direkte Ansprache auf Grund von optischen Merkmalen, sie kann auch strukturell oder institutionell sein. Es ist wichtig, dass man als Therapeut:in eine Sensibilität und ein Wissen darüber hat, damit Betroffene ihre Erfahrungen besprechen können.  

Kultur, Ethnie oder Herkunft werden in der kultursensiblen Therapie auch nicht wegignoriert. Manchmal sagen Therapeut:innen: „Ich sehe gar keine Hautfarben“ - in der Literatur spricht man von Colorblindness – oder: „Für mich sind alle Patient:innen gleich“. Das ist bestimmt ein gut gemeinter Ansatz und berufsethisch kann man sagen, ich behandle alle gleich von dem her, was ich anbiete. Aber nicht alle Patient:innen sind gleich. Dass man sich die Einflüsse der Kultur auf die Identität klarmacht, finde ich sehr wichtig. Wir brauchen ein ganzheitliches Verständnis zu der behandelnden Person.  

Auch unsere eigenen kulturellen Erfahrungen, die wir mitbringen, beeinflussen unseren Blick auf die Welt. Auch innerhalb Deutschlands: Ich komme z. B. aus dem Ruhrgebiet und habe einen Kulturschock erlebt, als ich nach Berlin gezogen bin. Dafür versuche ich auch in meinen Seminaren zu sensibilisieren: Wie bin ich eigentlich aufgewachsen? Mit wem bin ich zur Schule gegangen? Wie sahen meine Lehrer:innen aus? Was haben mir meine Eltern über die Welt vermittelt? Daraus entwickeln Menschen allgemein und auch wir als Therapeut:innen eine gewisse Norm, wie Dinge zu sein hätten. Man sollte sich als Therapeutin aber unbedingt davon lösen, dass es „die eine richtige“ Kultur oder Lebensweise gibt. Es gibt so viele!  

Porträt von Sema Akbunar

Dadurch, wie wir aufgewachsen sind, können wir auch Stereotype internalisieren. Die haben wir im Übrigen alle! Wir sind alle rassistisch sozialisiert. Das ist erstmal ein Fakt, ohne dass wir Rassisten wären. Aber diese internalisierten Stereotype können Vorurteile im Kopf verankern, die ich als Therapeut:in aufdecken und aufarbeiten sollte. 

Das klingt so, als sei Selbsterfahrung an der Stelle ganz wichtig.  

Genau. Ich leite Selbsterfahrung für angehende Psychotherapeut:innen und lasse den Aspekt auch immer mit einfließen. Gerade am Anfang, wenn es um das therapeutische Ich und die Biografie geht, frage ich ganz oft: Wie bin ich eigentlich sozialisiert? Bei schwarzen Therapeut:innen oder Therapeut:innen of Colour schauen wir: Ist meine Diversität ein Thema? Tatsächlich ist es sehr oft Thema, wenn jemand eine Diversität mitbringt. Die anderen Therapeut:innen, die das hören, entwickeln fast schon ein Schuld- oder Schamgefühl, weil sie sagen: „Ich merke gerade, ich habe nie etwas damit zu tun gehabt.“ Dafür sollte man sich nicht schuldig fühlen. Ich kann ja nichts dafür, wie ich aufgewachsen bin. Aber ich kann mich damit auseinandersetzen! Das wäre dann auch kultursensibel: Sich damit auseinanderzusetzen und sich darüber bewusstwerden, welche Diskriminierungsformen existieren, und keinem, der etwas in die Richtung erzählt, die Erfahrungen absprechen. Das höre ich von Patient:innen, die vorher eine Therapie abgebrochen haben und dann zu uns in die Praxis kommen, leider immer wieder. 

Welchen Erfahrungen machen Patient:innen im Behandlungssystem?  

Leider sehr schlechte... Natürlich nicht alle. Die mit guten Erfahrungen bleiben ja da, wo sie sind und sich gut fühlen. Aber die mit den schlechten Erfahrungen kommen oft zu uns, weil unser Label „Interkulturelle Psychotherapie“ ihnen den Zugang erleichtert. Ganz viele sagen: „Ich hatte den Eindruck, meine Therapeutin glaubt mir nicht“ und manche hören auch: „Das kann doch nicht so schlimm gewesen sein!“ Ich denke mir jedes Mal, ich will das eigentlich nicht glauben, aber es ist die Realität. Ich höre das in der Praxis sehr oft und auch die neueste Studien von NaDiRa bestätigt dies. Wir haben viele BiPOC (Black People, Indigenous People and People of Colour) und auch schwarze Aktivist:innen, die zu uns in die Praxis kommen, die sehr bewusst über das Thema sind und besondere Antennen haben, wenn Therapeut:innen ihnen nicht glauben oder Erfahrungen absprechen. Was ich noch schwieriger finde, wenn sich diskriminierende und rassistische Erfahrungen in der Therapie wiederholen und Patient:innen z. B. kontextunabhängig ausgefragt werden. Was Patient:innen viel erzählen ist das sogenannte Othering: „Wie ist denn das bei euch so?“ Die Patient:innen haben dann das Gefühl, so ganz anders zu sein als die Therapeut:in. Dabei sind wir ja häufig anders als unsere Patient:innen, aber es gibt dennoch ein „wir“ in der therapeutischen Beziehung. Die therapeutische Beziehung geht durch das „ihr“ und „wir“ verloren. Dadurch kann eine Blockade entstehen.  

Natürlich soll keinem das Thema aufgezwungen werden, wenn das Thema der Diskriminierung nicht ihr Anliegen ist, aber man kann es offen anbieten: „Ich bin sensibel für das Thema Diskriminierung und Rassismus, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der das passieren kann. Und wenn Sie da belastende Erfahrung gemacht haben, die Sie besprechen möchten, bin ich offen dafür.“ Das ist ein Angebot und das können Patient:innen annehmen. Ich habe viele Supervisanden, die das so ausprobieren und damit gute Erfahrungen machen. Die Patient:innen trauen sich häufig nicht, Erfahrungen anzusprechen, weil sie nicht wissen, ob du als Therapeut:in eine Sensibilisierung dafür hast. Ich denke an eine junge Patient:in, die viel rassistische Diskriminierung erlebt hat und für die das auch ein Thema war. Sie hat zwei Jahre lang in der Therapie nicht über das Thema Rassismus gesprochen, weil sie Angst hatte, dass ihr nicht geglaubt wird oder die Therapeutin sie nicht versteht und denkt, sie würde übertreiben. Das ist dramatisch, weil das eine verlorene Beziehungsmöglichkeit ist. 

Zwei Frauen und zwei Männer unterschiedlicher Hautfarben in der Gruppentherapie.

Was kann ich dafür tun, damit mein Therapieraum ein Safe Space wird? 

Es hilft, Wissen aufbauen, z. B. in Form von Seminaren oder Büchern. Es gibt auch tolle Podcasts oder informative und wissenschaftlich gute Accounts bei Instagram. Man kann auch über verschiedene Kulturen lesen und seinen Horizont erweitern. Wichtig ist, die Patient:innen nicht als Infoquelle zu nutzen; das Wissen sollte ich mir selbst aneignen, kontextabhängig kann ich meinen Patient:innen auch inhaltlich zu ihrem Background Fragen stellen. 

Du musst mit deinen Schwierigkeiten auch nicht allein bleiben und kannst Supervision oder Intervision zum Austausch nutzen. Ein ärztlicher Kollege mit vielen Jahren Berufserfahrung ist jetzt mit seiner Praxis in Berlin-Neukölln. Das ist ein Bezirk, in dem viele türkisch- und arabischsprachige Menschen wohnen. Er sagt: „Ich habe den Standort gewechselt und habe auf einmal eine Barriere. Ich komme mit meinen Patient:innen nicht mehr klar. Ich möchte, das aber gerne ändern!“. Das ist so wertvoll, dass er da Supervision bei mir in Anspruch nimmt. Wir machen das ja auch bei anderen Themen, bei denen wir merken, wir kommen an unsere Grenzen.  

Es ist sehr wichtig, sein eigenes Verhalten zu reflektieren. Was Patient:innen erzählen, ist z. B., dass sie geduzt werden und sich dann denken: „Das stört mich zwar nicht… aber macht er das bei den anderen auch?“ Manche Patient:innen haben auch das Gefühl, das Gegenüber mustert sie. Sie fühlen sich oft viel mehr beobachtet. Das sind so unmessbare Dinge, aber weil wir das in der Masse hören, greife ich das auch in meinen Seminaren auf. Ein sehr plakatives Beispiel: Ein schwarzer Mann hat berichtet, dass er bei einem Therapeuten in die Praxis reinkam und dieser ihn begrüßt hat mit: „Hey yo! Schön, dass Sie da sind!“ Der Patient hat den Therapeuten dann gefragt: „Warum sagen Sie jetzt hey yo zu mir? Sagen Sie das zu dem Patienten davor auch? Oder denken Sie, dass jeder schwarze Mann irgendwie ein Rapper ist?“ Das sind so Momente, die einem wahrscheinlich unbewusst rausrutschen und die eben viel über den Therapeuten in dem Moment zeigen können. 

Ich finde es sehr wichtig, sich damit auseinanderzusetzen und sich auch mal als Therapeut:in zu fragen: Wie sieht eigentlich meine Patient:innenliste aus? Wie divers ist die? Warum habe ich bestimmte Menschen nicht in Therapie? Grenze ich selbst jemanden aus? Habe ich da Ängste oder Unsicherheiten? Ich frage das auch in meinen Seminaren: Was habt ihr für Patient:innen? Gibt es Menschen, die sehr religiös sind? Habt ihr Menschen mit Behinderungen in der Therapie? Haben die euch einfach nicht gefunden oder habt ihr die vielleicht nicht zurückgerufen? Ich hatte mal eine Kollegin im Seminar, die meinte, wenn der Name schon so kompliziert ist und sie nicht weiß, wie er ausgesprochen wird, will sie ihn auch nicht anrufen, aus der Sorge heraus, sie sagt den Namen falsch.  

Ist das häufiger ein Thema, die Angst etwas falsch zu machen?  

Ja, oder auch die Sorge: „Ich bin vielleicht gar nicht die richtige dafür, weil ich selbst keinen anderen Background habe“. Das höre ich v. a. bei Psychotherapeut:innen in Ausbildung: „Meinst du, ich kann das mit dem Fall?“ Oder sie kommen in Supervision und sagen: „Ich bin zu dir gekommen, weil ich glaube, allein kann ich das nicht“. Ich glaube schon, dass das viel mit Unsicherheiten und Ängsten zu tun hat. Manche sagen auch: „Ich habe Angst, etwas falsch zu fragen, deswegen frage ich danach lieber gar nicht“, „Ich könnte ins Fettnäpfchen treten“ oder „Ich möchte nichts reproduzieren“. Ich versuche ihnen dann, die Unsicherheit zu nehmen. Nichts zu fragen, kann auch etwas reproduzieren.  

Wie bei der Patientin, die sich nicht traut, von ihren Erfahrungen zu erzählen…  

Genau. Was total schade ist, weil wir als Therapeut:innen in Offenheit und Empathie geschult werden. Wir brauchen auch mehr Schulung in Kultur- und Diskriminierungssensibilität. Ich bin bei einem Institut, da ist „Interkulturalität in der Psychotherapie“ ein Wahlfach. Ich würde mir wünschen, dass es ein Pflichtfach ist. Nur weil ich einen anderen Background als den weißen, deutschen Background habe, heißt das nicht, dass ich besser bin in dem Bereich oder sensibler. Nur türkisch sozialisiert zu sein, reicht nicht als Therapeut:in, um kultursensibel zu arbeiten. Auch ich muss mich schulen und mir Dinge bewusst machen. Ich würde mir wünschen, dass sich auch weiße Therapeut:innen mehr trauen. Sie können das genauso gut, wenn sie sich öffnen und sich weiterbilden.

Eine junge Frau sitzt in Ihrem Büro, telefoniert mit dem Handy und sitzt am Laptop

Jetzt grade ist z. B. Ramadan (Anm. d. Red.: zum Zeitpunkt des Interviews). Ganz viele Menschen in Deutschland sind damit beschäftigt. Wenn ich weiß, ich habe eine muslimische Patientin, und wenn sie offensichtlich ein Kopftuch trägt, könnte es sein, dass sie fastet. Dann ist es gut, etwas darüber zu wissen, z. B. dass man dann vor Sonnenuntergang nicht trinkt und isst. Was dann ganz oft von Therapeut:innen kommt ist: „Nicht zu trinken, ist doch nicht gesund“. Das kann sein, aber das kommt überheblich und unsensibel rüber. Das kann die Person selbst entscheiden, wie gesund oder ungesund das ist. Aber es hat eine andere Bedeutung für den Menschen, wenn er sich dafür entscheidet. Wir haben hier bei uns in der Praxis auch einen interkulturellen Kalender hängen und kriegen dadurch mit, wann z. B. auch andere Feiertage sind. Ich muss Patient:innen nicht darauf reduzieren und das direkt ansprechen, aber ich habe es zumindest im Hinterkopf. Orthodox-christliche Menschen feiern Weihnachten zum Beispiel am 8. Januar. Dann habe ich im Blick, dass ich nicht im Dezember schöne Feiertage wünsche. Das musste ich auch erst lernen. Da eine Offenheit zu behalten, finde ich hilfreich. 

Was würdest du denn sagen, wie kultursensibel ist die therapeutische Landschaft?  

Ich bin tendenziell sehr positiv gestimmt, aber es muss auch noch viel passieren. Ich finde, in den letzten fünf Jahren ist das Thema viel sichtbarer geworden, obwohl es kein neues Thema ist - vor allem nicht in der Welt von Menschen, die Diskriminierung und Rassismus erfahren. Aber ich freue mich sehr darüber, dass es immer mehr Interesse erfährt. So ein Interview ist ein Beweis dafür, dass es immer mehr gehört und gesehen wird. Aber insgesamt sind es noch sehr wenige Praxen, die sich offiziell damit beschäftigen. 

Ich glaube auch, wenn es schon im Studium ein Pflichtfach wäre, würde es wahrscheinlich mehr Menschen geben, die sich damit beschäftigen. Ich kann mich dafür entscheiden, mit Süchten zu arbeiten oder nicht. Dann kann ich das Seminar zu Süchten vielleicht auch mal skippen. Aber das Thema Rassismussensibilität und Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Kultur, Sexualität oder Behinderung kann man nicht skippen. Weil wir mit Menschen arbeiten! Da finde ich es auch berufsethisch schwierig zu sagen: „Der stammt aus Nigeria, den nehme ich nicht“, wenn ich die Störung an sich behandeln kann. NaDiRa hat eine Studie gemacht, dass v. a. nigerianisch und türkisch-arabisch klingende Namen nicht zurückgerufen werden. Das finde ich traurig. Alle Menschen sollen Therapie bekommen. Solche Ausgrenzungserfahrungen kennen sie schon aus anderen Kontexten und Therapie sollte ein Safer Space sein.  

Was möchtest du psychotherapeutischen Kolleg:innen noch mit auf den Weg geben?   

Ich würde mir wünschen, dass der Mut dazu da ist, sich dem Thema zu öffnen, weil es sehr wichtig ist. Es ist ethisch gesehen unsere Aufgabe, alle zusammen an dem Thema zu arbeiten. Offenheit haben und Ängste abbauen, sich darin fortbilden, sensibilisieren und vor allem die Machtverhältnisse, die ich mit Patient:innen habe, zu reflektieren Das ist glaube ich eine gute Basis.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

Über Sema Akbunar:  
Sema ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Burak Inkaya leitet sie die Interkulturelle Psychologische Praxis Berlin. 

Mehr Infos findest du unter: https://interkulturelle-psychologie-berlin.de/