„Geburt ist eine Grenzerfahrung“: Geburtstraumata verarbeiten und daran wachsen

Bildausschnitt, auf dem eine Frau ein kleines Kind vor sich auf dem Arm hält.

Eine Geburt ist eine natürliche Sache, aber auch immer intensiv. Eine Erfahrung, die für manche Frauen mit Belastungen und Traumatisierungen einhergehen kann. Julia Berg ist Geburtstherapeutin und unterstützt Frauen dabei, schwere Geburten zu verarbeiten und gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Im psylife-Interview sprechen wir darüber, was eine Geburt braucht, wie Frauen sich auf diese intensive Erfahrung vorbereiten können und wie sie damit umgehen, wenn es doch anders kommt als gewünscht.

Julia, du arbeitest als Geburtstherapeutin. Mit welchen Themen und Fragestellungen kommen Frauen zu dir?

Die Frauen, die zu mir kommen, haben oft eine Geburt erlebt, die sie sich anders gewünscht hätten. Sie haben belastende Geburtserfahrungen erlebt, die sie immer wieder einholen. Manchmal sind es Flashbacks oder Alpträume. Manchmal sind es einfach die Erinnerungen, die kommen, z. B. wenn eine Freundin schwanger wird oder der Geburtstag des eigenen Kindes ansteht, wenn sie konfrontiert werden mit dem Thema Geburt. Es holt sie immer wieder ein, sie sind belastet und sie fragen sich: Wie kann ich das loslassen?

Vielleicht stellen sie sich auch die Frage: Will ich überhaupt noch mal schwanger werden? Sie haben Angst vor einer nächsten Geburt, verändern ihre Familienplanung. Sie erleben möglicherweise, dass die Bindung zum eigenen Kind schwierig ist, oder sie haben Angst, dass es so sein könnte. Sie fragen sich, ob das Kind unter der Geburt gelitten hat. Sie entwickeln vielleicht hohe Ansprüche an sich als Mutter, weil sie das Gefühl haben, bei der Geburt versagt zu haben und „das jetzt wieder gut machen wollen“. Sie fühlen sich nach der Geburt nicht mehr wie sie selbst.

 

Was sind es für Erfahrungen, die Frauen bei der Geburt als belastend oder gar traumatisch erleben?

Das ist hoch individuell. Die komplette Zeit von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett ist ein ganz sensibler Zeitraum, in dem die Frauen sehr verletzlich sind und empfänglich für emotionale Wunden. In dieser Zeit kann es Schlüsselsituationen geben, oft auch mehrere, die miteinander verwoben sind: Eine Trennung von dem Kind nach der Geburt; das „Kristellern“ (äußerliches Drücken auf den Bauch während der Geburt, um das Baby mit hinauszuschieben, was oft als gewaltsam empfunden wird); ein Kaiserschnitt, den man sich nicht gewünscht hat und der dann Hilflosigkeit, Versagensgefühle oder Überrumpeltsein auslöst; Situationen, in denen man das Gefühl hatte, sie waren nicht okay, da wurden Grenzen überschritten; manchmal auch das Ausgeliefertsein im Wochenbett, die Kraftlosigkeit und dass Dinge anders laufen, als man sie sich vorgestellt hat. Oft reicht allein ein unbedachter Satz der Hebamme, ein rücksichtsloses Verhalten des Personals oder eine Geburtsumgebung, in der man sich fühlt, als müsse man es jemand anderem Recht machen, um sich nach der Geburt belastet zu fühlen.

Porträtaufnahme von Julia Berg

Was bräuchten Frauen stattdessen?

In sensiblen Zeiten brauchen wir, dass wir sensibel behandelt werden, also dass wir ganz viel Unterstützung und jemanden an unserer Seite haben, der für uns da ist, uns versorgt, der uns versteht, auf den wir uns verlassen können. Das kann der Partner oder die Partnerin sein, eine Hebamme oder eine Doula. Jemand, der unsere Grenzen achtet. Das ist ohnehin wichtig: dass die Grenzen geachtet und Frauen respektvoll behandelt werden. Wir brauchen ein Bewusstsein darüber, was eine Geburt ist. Und die Frage: Was braucht eine Geburt, um gut zu sein? Der Körper muss sich sicher fühlen und in einer guten Umgebung sein. Das kann für die eine Frau bedeuten, „ich brauche Menschen an meiner Seite“, für die nächste Frau kann das bedeuten, „ich hätte gerne meine Ruhe“. Das ist für jede Frau unterschiedlich.

In der Aufarbeitung wird dann manchmal deutlich, dass die Frauen vielleicht mehr Wissen darüber gebraucht hätten, wie eine Geburt eigentlich abläuft. Was braucht eine Geburt, um in Gang zu kommen? Oder mehr Aufklärung über ihre Möglichkeiten und Rechte. Auch die Erlaubnis, „nein“ zu sagen. Ich habe ein Recht dazu, „nein“ zu sagen, weil das mein Körper ist. Zu wissen, dass eine vaginale Untersuchung nicht notwendig ist für eine Geburt, sondern dass das eine Vorgabe der Klinik ist, dass ich aber immer noch entscheiden darf, ob ich das möchte oder nicht. Da sind wir beim Selbstverständnis der Frau an sich: Ich darf für mich einstehen! Viele Frauen gehen in die Klinik mit dem Verständnis: „Die wissen dort, was sie machen“. Sie lassen Dinge über sich ergehen im guten Gewissen oder Glauben, dass das Personal natürlich weiß, was richtig ist. Sie merken dabei oft nicht, dass sie ihre eigenen Grenzen gar nicht mehr achten, was wiederum das Problem sein kann, warum die Geburt stockt – weil der Körper zumacht und blockiert.

 

Ich habe selbst noch keine Geburt erlebt und stelle es mir schwierig vor, antizipieren zu können, welche Bedürfnisse ich in dieser Situation haben könnte...

Wärst du bei mir in der Vorbereitung, würde ich dich fragen: Was sind denn die Situationen, in denen du dich sicher und richtig pudelwohl fühlst? Was machst du, wenn du dich mal entspannen willst? Dann kommen dir ein paar Dinge in den Sinn und das sind genau die Dinge, die dir auch bei der Geburt guttun könnten. Dann kann man überlegen, okay, wie setzt du das um? Wie wäre das möglich?

In dem Zusammenhang ist es aber auch wichtig zu besprechen, dass es in der Geburtssituation immer sein kann, dass man etwas ganz anderes braucht, und dann zu schauen, wie man da flexibel sein und darauf reagieren kann, damit man sich nicht zurücknimmt, „weil man es ja vorher anders wollte“. Daher kann es hilfreich sein, jemanden an der Seite zu haben, der signalisiert: „Ich setze das für dich um, wir kriegen das hin!“

Bildausschnitt, auf dem man sieht, wie eine schwangere Frau die Hände auf ihren Bauch legt, eine zweite Person umarmt sie von hinten und hat ihre Hände ebenfalls auf den schwangeren Bauch gelegt.

Was können Frauen darüber hinaus machen, um sich auf eine Geburt vorzubereiten, vor allem wenn sie bereits belastende Erfahrungen gemacht oder Angst vor dem Prozess haben?

Es ist wichtig zu schauen, was mein Plan A ist. Wie wünsche ich mir die Geburt? Ich bereite mich darauf vor, dass diese Geburt wundervoll wird und mache alles dafür, was es braucht, um diese Geburt so zu gestalten, wie ich es mir vorstelle. Und dann überlege ich: Wenn das nicht möglich ist, was tue ich dann? Es geht nicht darum, sich auf jede mögliche Komplikation vorzubereiten, sondern eher zu schauen, wie gehe ich mit Herausforderungen um? Was wäre mein Plan B, vielleicht auch mein Plan C?

Als Beispiel: Wenn ich eine Hausgeburt plane, was passiert, wenn die verlegt werden muss? Will ich eine PDA, wenn die Schmerzen zu groß werden? Was wäre mein Weg? Wenn ich weiß, was ich tun kann, dann bin ich nicht mehr überrumpelt, wenn ich in der Situation bin, sondern habe einen Plan B, weil ich mich schon damit beschäftigt habe. Dann kommt keiner auf mich zu und drückt mir das auf, sondern es ist meine Entscheidung. Das gibt ganz viel Halt und Kontrolle.

Ich finde es außerdem ganz wichtig, über Ängste zu sprechen und sich diese Ängste anzuschauen. Also nicht zu denken: „Ach, das schaffe ich schon“, sondern wirklich ganz klar hinzugucken. Was ist ganz konkret das, was mir Angst macht? Auf jede dieser Situationen gibt es eine Antwort. Die Angst liefert dir also eine Richtung, in die es gehen kann. Habe ich Angst vor den Schmerzen? Dann kann ich schauen, wie ich damit umgehe. Habe ich Angst vor einem Kaiserschnitt? In der Vorbereitung kann man viel dafür tun, dass man sich - wenn es dazu kommt, obwohl man es sich vorher anders gewünscht hätte -, dennoch gut und sicher damit fühlt. Z. B. weil man weiß, was passiert, wie das abläuft und was dann mit einem los ist. Es gibt auch Frauen, die davon ausgehen: „Bei mir passiert das nicht, daher beschäftige ich mich lieber nicht damit, ich will es ja nicht heraufbeschwören.“ Aber wenn es dann passiert, fallen sie aus allen Wolken, wissen gar nicht, was passiert und fühlen sich massiv überrumpelt. Die Vorbereitung auf solche Situationen soll nicht Angst, sondern Mut machen.

Geburt ist eine schöne Sache. Es reicht aber nicht aus, nur mit einem guten Mindset hineinzugehen. Geburt ist auch immer eine intensive Situation, eine Grenzerfahrung. Was brauche ich für diese intensive Grenzerfahrung? Ich vergleiche das gerne mit einer Bergbesteigung. Auf einen Berg gehe ich auch nicht in Flipflops. Ich brauche Vorbereitung, ich brauche Ausrüstung, Wissen, Techniken, Fahrpläne und eine gute Umgebung.

 

Jetzt haben wir viel über Vorbereitung besprochen, lass uns gerne mal einen Blick auf die Nachbereitung werfen: Wie begleitest du Frauen, die belastende Erfahrungen gemacht haben?

Wichtige Säulen sind: Anschauen, Aussprechen und ein wertfreier Raum. Das ist das, was vielen Frauen fehlt, dass es diesen sicheren Rahmen gibt, indem sie darüber sprechen können. Viele Frauen fühlen sich ungehört, unverstanden, haben keinen Anlaufpunkt. Oder sie denken: „Das muss jetzt eben so sein, ich kann es ja eh nicht ändern“. Das Heilsamste ist das Gefühl, ich werde gesehen, ich werde verstanden, es darf alles da sein, es wird nicht bewertet. Ich mache viel Psychoedukation und verdeutliche, dass es logisch ist, dass die Frau so empfunden hat. Was sie dann lernt, ist, wie sie mit ihren Gefühlen gut umgehen kann. Dass sie sich erlaubt, wütend oder traurig sein zu dürfen.

Die Geburt wird auch eingebettet in die Lebensgeschichte der Frau, denn in der Geburt zeigen sich ganz oft Parallelen zu Lebensthemen. Wenn sich eine Frau bei der Geburt z. B. sehr alleine gelassen gefühlt hat, dann erkennen wir oft, dass das derselbe Schmerz war, den sie früher auch schon in anderen Situationen gefühlt hat. In dem Moment können wir ein großes Puzzle bilden und diese Themen beleuchten. Die Geburt wird dann sinnig in das eingebettet, was wir in unserem Alltag erleben. Die Geburt ist da nicht getrennt zu betrachten. Wir nehmen uns selbst ja mit in die Geburt.

Auf dem Rücken einer Frau sind mit Stift die Sätze "I AM A WOMAN. WHAT'S YOUR SUPERPOWER?" geschrieben.

Wird in unserer Gesellschaft genug über belastende Geburtserfahrungen gesprochen?

Ja und nein. Ich finde, einerseits sind Filme, Serien und Dokumentationen voll davon, aber oft ist es viel zu viel: viel zu leidvoll und unrealistisch, auf dem Rücken liegend, ausgeliefert in fremder Krankenhauskleidung. Wir sehen oft eine Frau, die gar nicht mehr sie selber ist und leidet. Es wird zwar relativ viel darüber gesprochen, dass eine Geburt schlimm sein kann (weswegen viele Angst davor haben), aber es wird nicht besprochen, warum diese Geburten so schlimm erlebt werden. Wenn wir wissen, was die Ursache ist, können wir es auch ändern.

Was fehlt, ist die Echtheit und das Konstruktive. Was fehlt ist, dass wir die Frau in den Mittelpunkt stellen und zeigen, dass Geburt etwas Natürliches und Schönes ist. Geburt sollte kein Krankenhausthema per se sein, sondern ein natürliches Thema. Wenn wir das begreifen, können wir unseren Körper beim Gebären wieder besser unterstützen und dann auch bessere Geburten erleben. Dann muss Angst vor Geburt nicht sein.

 

Wenn du einen Wunsch frei hättest: Was sollte sich bezüglich Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden verändern?

Die Veränderung, die ich mir wünsche, ist, dass wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Geburt mehr ist als nur ein Moment im Leben. Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bilden die Basis für ein neues Leben. Wir können uns das wie ein Haus der Mutterschaft vorstellen: Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bilden das Fundament. Das kann richtig stabil und solide sein und dann können wir darauf ein wunderschönes Haus, die Mutterschaft, bauen, in dem wir ganz viele verschiedene und bunte Erfahrungen machen können.

Aber wenn das Fundament bröckelt, weil da Schmerzen drin sind, Verletzungen, Trennungen, dann sind da bestimmte Zimmer, die wir gar nicht mehr betreten wollen, weil wir Angst davor haben. Das hat Auswirkungen auf unser Leben als Mama. Ich möchte, dass ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, wie elementar wichtig das ist - letztlich für die psychische Gesundheit unserer gesamten Gesellschaft -, dass wir dieses gesunde Fundament haben, damit wir die Räume unseres Lebens richtig füllen können.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Julia!

 

Über Julia Berg:

Julia Berg ist klinische Psychologin (M.Sc.), Heilpraktikerin für Psychotherapie, Expertin für selbstbestimmte Geburt und Mama von zwei Kindern. Mehr unter: https://www.julia-berg.com/

 

Zum Weiterlesen:

Berg, Julia (2022). Ich hätte es mir anders gewünscht. Wie du an einer schweren Geburtserfahrung wächst: Von Flashbacks, Selbstvorwürfen und über den Umgang mit Emotionen.