Medizinische Traumata: Patient:innen Sicherheit und Perspektiven vermitteln

Eine schwarzhaarige Frau in Arztkittel und mit Stethoskop sitzt an einem Tisch.

Ärztliches Handeln bewegt sich zwischen Hilfeleistung und Gewaltanwendung. Medizinische Eingriffe haben ein erhöhtes Potential zu traumatisieren. Darüber zu sprechen, ist weitestgehend tabuisiert. Betroffene leiden im Stillen, vermeiden medizinische Settings oder laufen Gefahr, bei neuen Zahn-/Arztkontakten retraumatisiert zu werden. Wie du Betroffenen zu mehr Sicherheit verhelfen kannst.

Für die Entfernung ihrer retinierten Weisheitszähne wählte Alessia eine Kurznarkose. Nach gelungener Einleitung wachte die 25-Jährige mitten in der OP auf und geriet aufgrund unvorstellbarer Schmerzen in Panik. Das Personal hielt sie fest, um weitere Verletzungen zu verhindern. Obwohl die festen, schmerzenden Griffe nachließen, konnte sich Alessia plötzlich nicht mehr bewegen, war völlig ausgeliefert – aber weiterhin bei Bewusstsein und vollem Schmerzerleben, während die übrigen Zähne aus dem Kiefer gefräst wurden. Über 45 Minuten lang. Der Anästhesist, der wohl Propofol nachgab (Hypnotikum ohne schmerzlindernde Wirkung), rotierte zwischen mehreren Patient:innen. Hinzukam, dass Alessias Schluckreflex durch das Mittel teilweise aussetzte. Sie bekam Atemnot, war sicher zu sterben und beobachtete alles nur noch „von außen“. Dann war es vorbei. Noch bevor sie ihrer Begleitperson übergeben wurde - zitternd, weinend, unter Schock - fauchte die Kieferchirurgin, dass sie nicht versuchen solle, zu erzählen, was passiert sei. Es glaube ihr eh keiner, sie stünde unter Narkose, es gäbe keine Zeugen und das Team halte zusammen. Alessia schwieg. Nicht aber ihr Körper. Als ihr Alltag zusammenbrach, wurde eine PTBS diagnostiziert. 

Traumatisierungen in der Medizin geschehen oft subtil 

„Ein Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ (ICD-11) muss kein Krieg sein – es kann auch dort geschehen, wo es die wenigsten erwarten: beim Zahnarzt, in der Arztpraxis, im Krankenhaus. In der Medizin verlaufen Traumatisierungen häufig subtil, werden oft nicht als solche begriffen oder gelten als „medizinisch gerechtfertigt“. Traumatisierende Erfahrungen können von Routineuntersuchungen über lebensbedrohliche Diagnosen bis hin zu medizinischen Notfällen reichen. Besonders bei invasiven (= in den Körper eindringenden) Interventionen besteht ein erhöhtes Risiko. Auch OPs, intraoperative Awareness wie bei Alessia, Behandlungsfehler, Diagnosen, nicht Ernstnehmen von Beschwerden/Schmerzen/Ängsten, abwertende Worte oder Gewalt fallen darunter. Sogar Eingriffe unter Vollnarkose können Traumata bewirken, da die Erfahrungen im Körpergedächtnis selbst bei Bewusstlosigkeit (vgl. K.O.-Tropfen) gespeichert werden. Nach einem Intensivstationsaufenthalt entwickelt jede:r Fünfte eine PTBS (Gawlytta et al., 2019) – doch sie ist nur eine mögliche Folge: Das Wissen um ein Post Intensive Care Syndrom (PICS: kognitive, körperliche und psychische Langzeitfolgen infolge intensivmedizinischer Behandlung) setzt sich durch. 

Zwischen Hilfeleistung und Gewaltanwendung 

Verschiedene Faktoren führen dazu, dass medizinische Eingriffe ein erhöhtes Traumapotenzial haben: 

  • Strukturelles Machtgefälle zwischen Ärzt:innen und Patient:innen 
  • Körperlicher Übergriffe, die ggf. schambesetzt oder schmerzvoll sind - oft geschwächt und unter Schmerzen 
  • Fremde, sterile Umgebung  
  • Soziale Isolierung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit 
  • Angst/Todesangst   
  • Verletzung des Schamgefühls und intimer Grenzen 
  • Gefühl als Objekt entwürdigt zu werden 
Man sieht eine Person aus der Vogelperspektive, die im OP-Saal liegt und narkotisiert wird.

Ärztliches Handeln bewegt sich zwischen Hilfeleistung und Gewaltanwendung: Jeder Eingriff erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB), weshalb nach § 630 d BGB vor jeder medizinischen Maßnahme die Einwilligung der Patient:in eingeholt werden muss. Das Traumapotenzial kann sich verstärken, wenn das Gefühl dazukommt, dass das eigene Wort nicht mehr zählt, was in körperlichen Notfällen oder in psychiatrischen Einrichtungen der Fall sein kann. Wird darüber hinaus ein Nein überhört oder ein Wille fahrlässig übergangen oder findet unangekündigt eine Intervention statt, sind die Auswirkungen massiv. 

Gefahr von Dissoziation und Schockstarre

Insbesondere Kinder und Menschen mit Gewaltvorerfahrungen oder bereits bestehenden Traumata brauchen weniger Reize/Trigger, um (re)traumatisiert zu werden. Sie sind häufig nicht ausreichend in der Lage Grenzen zu setzen. Wenn sich eine ängstliche Patient:in bei einer Untersuchung/Behandlung nicht wehrt, kann dies auch das Zeichen einer Schockstarre, Dissoziation oder Fawn Response sein. Die Patient:in reagiert nicht mehr und lässt alles über sich ergehen. Manchen Patient:innen wird erst in der Situation in vollem Ausmaß bewusst, zu was sie zugestimmt haben. Das kann sie derart überfluten, dass während der Prozedur kein Stopp-Sagen möglich ist. Auch Frauen (insb. Gebärende), Menschen mit geistigen/körperlichen Einschränkungen oder Personen mit psychischen Leiden sind besonders betroffen. Starre/Dissoziation werden oft nicht erkannt und fälschlicherweise als Einverständnis interpretiert. Und manchmal sogar bewusst ausgenutzt – insbesondere unter Zeit- und Kostendruck; Stress kann Abstumpfung und Empathieverlust zur Folge haben.

Gezielter vorsätzlicher Missbrauch sei hier noch ausgeschlossen, wie er sich zuletzt durch Pfleger und Ärzte in der Uniklinik Frankfurt, in Krankenhäusern in München, Rosenheim, Bielefeld, Trier oder in der Kinderklinik Hannover ereignet hat. Offizielle Statistiken gibt es nicht. Das Thema wird tabuisiert. Betroffene stehen unter großer Scham und leiden im Stillen. 

Lebenslange schwerwiegende Traumafolgen

Als man-made-desaster können medizinische Traumata in einer PTBS oder andere Traumafolgen münden. Im Gegensatz zu anderen Traumata können Betroffene nicht mit dem Geschehenen abschließen, solange sie in ihrem Körper leben. Erfahren z. B. Überfall- oder Unfallopfer, dass sie bei künftigen Nachhausewegen/Autofahrten sehr wahrscheinlich körperlich unversehrt bleiben, können Medizintraumatisierte nicht die Erfahrung machen, dass in Praxen/Kliniken eigentlich nichts Gewaltvolles geschieht. Bei jedem Arztkontakt handelt es sich gewissermaßen um „Täterkontakt“. Daher bergen medizinische Traumata lebenslang eine erhöhte Gefahr von Retraumatisierungen in medizinischen Settings. Selbst bei bemühtesten, empathischen Zahn-/Ärzt:innen bleiben Besuche eine Qual - und werden daher oft vermieden. Auch Therapeut:innen stehen vor einem gewaltigen Problem, wenn keine Vertrauensbasis in das Gesundheitssystem mehr existiert und nur schwer (wieder) aufgebaut werden kann, was häufig auch nicht Ziel vieler Betroffener ist. 

Ein Mann und eine Frau trösten eine Frau, die traurig die Hände ans Gesicht legt.

Das Bewusstsein über den Doppelcharakter ärztlichen Handelns als Hilfeleistung und Gewaltausübung betont die Bedeutung von Präventionsmaßnahmen. 

Sicherheit für die Zukunft schaffen

PTBS-Symptome oder andere Folgeerkrankungen können durch eine Therapie zwar meist enorm gelindert und das Vergangene integriert werden, sodass wieder mehr Lebensqualität möglich wird - doch es bleibt häufig die reale Angst und hohe Wahrscheinlichkeit, künftig wieder Medizingewalt (und sei es nur in Form „normaler“ Interventionen) ausgesetzt zu sein. Eine sensible Traumatherapie kann Zukunftsperspektiven schaffen. Es gilt herauszufinden, wie Betroffenen die größtmögliche Sicherheit und Selbstwirksamkeit gewährt werden kann, z. B.:

  • Trigger und Grenzen ermitteln und Patient:innen stärken, diese zu kommunizieren, ggf. Nein zu sagen oder Alternativen zu erfragen 
  • Ärzt:innen aufklären über Traumata sowie eine traumasensible Behandlung (z. B. über ein mit der Klient:in erstelltes Informationsblatt) 
  • Klient:innen über Patientenrechte aufklären 
  • Bedürfnisse, Schutzfaktoren und Lösungen erarbeiten (z. B. wenig fremde Personen, nicht liegen, alles erklären, ein Pausen-/Stopp-Signal) 
  • Notfallausweis mit Notfallkontakten erstellen 
  • Anbieten, Patient:innen zu begleiten bzw. eine Begleitperson zu finden, die als Schutz/Halt, Kommunikator:in sowie zur Co-Regulation in medizinischen Situationen da sein kann. Die Nähe und Berührung durch eine vertraute Person wirken angst- und schmerzlindernd (Packheiser et al., 2024).  

Wenn Klient:innen körperliche Berührung schwer zulassen können, sollte vorab reflektiert werden, ob, wann, wie und wo Berühren durch Vertrauenspersonen erlaubt ist, und im Alltag in Ruhe ausprobiert werden, was hilft und was nicht. So lernen Betroffene, dass affektive Berührung guttun, Sicherheit verleihen und Halt geben kann.

Du möchtest wissen, wie ein traumasensibler Umgang mit Betroffenen für Therapeut:innen und Ärzt:innen gelingt? Dann kannst du hier bei psylife weiterlesen.

Weiterführende Informationen zur traumsasensitiven Gesundheitsfürsorge:  

Quellen 

Quellenverzeichnis als PDF zum Download