Im Körper verankert: Das Körpergedächtnis in der Psychotherapie

Die Vorstellung, dass der Körper Erlebnisse speichert, ist in der wissenschaftlichen Psychologie und Neurowissenschaft fest verankert. Das Konzept des Körpergedächtnisses beschreibt dabei eine Form von implizitem Gedächtnis, in dem sensorische, emotionale und motorische Erlebnisse nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Organismus verankert werden. Diese Form der Speicherung spielt eine entscheidende Rolle in der Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, insbesondere bei Traumfolgestörungen.
Der konstruktive Umgang mit dem Körpergedächtnis erfordert einen umfassenden therapeutischen Ansatz, der sowohl kognitive als auch körperorientierte Methoden integriert. Durch das Verständnis der neurobiologischen Mechanismen des Körpergedächtnisses wird deutlich, warum eine rein kognitiv angelegte Therapie oft nicht ausreicht, um tief verankerte, somatisch gespeicherte Erinnerungen zu verarbeiten.
Neurobiologische Grundlagen des Körpergedächtnisses
Das Körpergedächtnis wird durch die Interaktion zwischen verschiedenen Ebenen des Nervensystems aufrechterhalten. Das zentrale Nervensystem (ZNS), insbesondere Strukturen wie der Hippocampus und die Amygdala, spielt eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung emotional aufgeladener Erfahrungen. Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio beschreibt den Prozess der somatischen Marker, bei dem der Körper emotionale Erlebnisse als physische Muster speichert und diese Erinnerungen durch sensorische Reize oder Körperhaltungen wieder aktiviert werden. „Der Körper ist nicht nur der Empfänger von Erfahrungen, sondern auch ein aktiver Speicher von Erinnerungen, die unsere zukünftigen Reaktionen prägen“ (Damasio, 1999). Diese Sichtweise legt nahe, dass der Körper integraler Bestandteil des Gedächtnisprozesses ist. Emotionen und physische Zustände sind in den synaptischen Verbindungen verankert, und die Art und Weise, wie der Körper auf neue Reize reagiert, hängt oft von diesen gespeicherten Mustern ab.
Ein bedeutender Beitrag zur Erforschung des Körpergedächtnisses stammt vom Neurowissenschaftler Joseph LeDoux vom Center for Neural Science an der New York University, der die Rolle der Amygdala in der emotionalen Verarbeitung untersuchte. „Emotionale Erinnerungen werden oft ohne bewusste Wahrnehmung gespeichert und können körperliche Reaktionen auslösen, selbst wenn die kognitive Erinnerung an das Ereignis nicht verfügbar ist“ (LeDoux, 2000).
„Trauma wird im Körper gespeichert und seine Symptome sind das Ergebnis von Energien, die nicht freigesetzt wurden.“
(Levine, Peter: Trauma-Heilung: Das Erwachen des Tigers, 1997)
Traumatische Erlebnisse beeinflussen das Nervensystem auf tiefgreifende Weise, und das Körpergedächtnis spielt eine entscheidende Rolle in der Pathogenese von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Der Niederländer Bessel van der Kolk betont, dass traumatische Erinnerungen häufig als fragmentierte sensorische und motorische Muster gespeichert werden. „Das Trauma bleibt im Körper haften, und der Körper erinnert sich oft besser als der Geist“ (van der Kolk, 2014). Dies führt dazu, dass sensorische Reize wie Geräusche, Gerüche oder Körperhaltungen intensive emotionale und physische Reaktionen hervorrufen können, ohne dass der Betroffene bewusst weiß, warum.

Trauma und Körpergedächtnis: Die somatische Dimension von Erinnerungen
Traumatische Erfahrungen werden oft unzureichend auf der kognitiven Ebene verarbeitet, was zu einer Verlagerung der Erinnerung auf die somatische Ebene führen kann. Die Arbeiten von van der Kolk zeigen auch, dass traumatische Erlebnisse nicht nur im Gehirn, sondern auch im Körper gespeichert werden. Dies erklärt, warum viele Menschen nach einem Trauma unter körperlichen Symptomen wie chronischen Schmerzen, Muskelverspannungen oder Schlafstörungen leiden, ohne dass eine organische Ursache feststellbar ist.
Auch Janssens et al. (2018) untersuchten den Zusammenhang zwischen Kindheitstrauma und psychosomatischen Symptomen und fanden heraus, dass emotionale Konflikte und ungelöste Traumata aus der frühen Lebensphase häufig zu späteren körperlichen Beschwerden führen. „Psychosomatische Symptome sind oft der physische Ausdruck emotionaler Spannungen, die im Körper verankert sind und nicht durch kognitive Verarbeitungsprozesse gelöst werden können“ (Janssens et al., 2018).
„Wir können nicht nur über den Körper hinweg sprechen, sondern müssen ihn in die Therapie einbeziehen. Der Körper ist das lebendige Gedächtnis unserer Erfahrungen.“
(Cohn, Ruth: Daseinsanalyse und Körperpsychotherapie, 1985)
Die Forschung von Babette Rothschild zur Psychophysiologie von Traumata zeigt auf, dass der Körper als primärer Speicher für unverarbeitete traumatische Erlebnisse fungiert. „Der Körper erinnert sich an das Trauma, auch wenn der Verstand es zu verdrängen versucht“ (Rothschild, 2000). Diese Erkenntnis hat zu einer zunehmenden Bedeutung körperzentrierter Therapieansätze geführt, die darauf abzielen, die im Körpergedächtnis gespeicherten Traumata zu lösen.

Methoden wie Somatic Experiencing (SE) und Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) haben sich als besonders wirksam bei der Behandlung von PTBS erwiesen. In einer Metaanalyse von Shapiro (2001) wurde festgestellt, dass EMDR signifikante Verbesserungen bei der Behandlung traumatischer Symptome erzielt, indem sowohl kognitive als auch körperliche Erinnerungen in den therapeutischen Prozess integriert werden. EMDR hilft dabei, die körperlichen und emotionalen Reaktionen auf traumatische Erinnerungen zu desensibilisieren und neu zu verarbeiten.
Kulturelle Unterschiede im Verständnis des Körpergedächtnisses
Kulturelle Perspektiven beeinflussen maßgeblich, wie das Konzept des Körpergedächtnisses verstanden und behandelt wird. In westlichen Gesellschaften dominiert oft ein dualistisches Weltbild, bei dem Körper und Geist als getrennte Einheiten betrachtet werden. Diese Auffassung führt zu einer Trennung in der Behandlung körperlicher und psychischer Beschwerden, wobei häufig entweder medizinische oder psychologische Ansätze verfolgt werden, was den integrativen Aspekt der Behandlung psychosomatischer Störungen einschränken kann.
In kontrastierenden Kulturen, insbesondere in östlichen Heiltraditionen, wird der Körper als eine Einheit von Körper und Geist betrachtet, ohne diese explizit zu trennen. Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und das Ayurveda sind Beispiele für Systeme, in denen der Körper nicht isoliert, sondern als untrennbar mit den emotionalen und geistigen Prozessen verbunden angesehen wird. Kaptchuk (2000) erklärt dies: „In der chinesischen Medizin werden Emotionen als Teil des energetischen Flusses des Körpers betrachtet, der durch Meridiane verläuft und sowohl körperliche als auch emotionale Beschwerden beeinflussen kann.“ Diese Sichtweise basiert auf der Vorstellung, dass emotionale Zustände den energetischen Fluss im Körper beeinflussen und umgekehrt.
Studien belegen, dass östliche Heilmethoden, die auf die Harmonisierung des Energieflusses im Körper abzielen, signifikante Verbesserungen bei psychosomatischen Beschwerden bewirken können. Beispielsweise zeigen Forschungsergebnisse von Häuser et al. (2017), dass Akupunktur und Qigong, zwei Techniken, die den Energiefluss regulieren, erfolgreich zur Behandlung von psychosomatischen Störungen eingesetzt werden können.
Die Integration von Körperarbeit und emotionaler Verarbeitung wird in diesen Traditionen als wesentlich angesehen, um eine ganzheitliche Heilung zu ermöglichen. Diese kulturellen Unterschiede verdeutlichen, wie wichtig es ist, unterschiedliche Ansätze in der Behandlung des Körpergedächtnisses zu berücksichtigen und die Integration von körperlichen und psychischen Heilmethoden zu fördern.

Das Körpergedächtnis in die Psychotherapie integrieren
Therapeutische Ansätze, die das Körpergedächtnis einbeziehen, ermöglichen eine tiefere Verarbeitung dieser Erinnerungen und bieten Patient:innen eine Möglichkeit, sowohl ihre psychischen als auch ihre körperlichen Beschwerden zu bewältigen. In der therapeutischen Praxis sollte dem Körpergedächtnis daher ein zentraler Platz eingeräumt werden, um die Heilung ganzheitlich zu fördern.
1. Atemtechniken als Brücke zwischen Körper und Emotionen einsetzen
Atemübungen können helfen, den Zugang zu emotionalen und körperlichen Spannungen zu erleichtern. Eine bewusste Atemführung ermöglicht es, tief verwurzelte emotionale Zustände zu regulieren und körperliche Verspannungen zu lösen.
2. Verkörperte Emotionen im therapeutischen Gespräch bearbeiten
Therapeut:innen können auf Körpersignale wie Haltung, Gestik und Muskelanspannung achten, um emotionale Themen anzusprechen, die im Körpergedächtnis verankert sind. Dies ermöglicht eine ganzheitlichere Bearbeitung von emotionalen und körperlichen Beschwerden.
3. Somatische Achtsamkeit und Körperwahrnehmung fördern
Patient:innen anleiten, ihre Körperempfindungen bewusst wahrzunehmen und zu benennen. Durch somatische Achtsamkeit werden unbewusste emotionale Spannungen erkannt, die im Körper gespeichert sind.
4. Integration von achtsamer Berührung in den therapeutischen Prozess
In einigen körpertherapeutischen Ansätzen wie der Hakomi-Therapie kann achtsame Berührung genutzt werden, um das Körpergedächtnis gezielt anzusprechen. Diese Technik hilft, emotionalen Schmerz, der im Körper gespeichert ist, bewusst wahrzunehmen und zu verarbeiten.
5. Körpergedächtnis durch systemische Arbeit und Aufstellungsarbeit einbeziehen
In der systemischen Therapie und Aufstellungsarbeit können körperliche Reaktionen und Haltungen als Schlüssel zur Bearbeitung von Familien- und Beziehungsmustern genutzt werden, die im Körpergedächtnis gespeichert sind. Körperliche Empfindungen während der Aufstellung geben wertvolle Hinweise auf unbewusste emotionale Dynamiken.
Durch die Kombination von körperzentrierten und psychotherapeutischen Ansätzen wird deutlich, dass das Verständnis des Körpergedächtnisses und die Integration von körperlichen und emotionalen Heilmethoden entscheidend für eine effektive Behandlung psychosomatischer Störungen sind. Der ganzheitliche Ansatz, der sowohl körperliche als auch psychische Dimensionen berücksichtigt, fördert eine umfassende Heilung und verbessert das Wohlbefinden der Patient:innen.
Zum Weiterlesen:
(Werbung) Sebastian Leikert. (2019). Das sinnliche Selbst. Das Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Brandes und Apsel.
(Werbung) Bessel van der Kolk. (2015). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. Penguin.
(Werbung) Peter Levine & Silvia Autenrieth. (2011). Trauma und Gedächtnis: Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn - Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten. Kösel.
(Werbung) Ron Kurtz. (2021). HAKOMI - eine körperorientierte Psychotherapie: Die Grundlagen der Hakomi-Methode. G. P. Probst.