Gewaltbetroffene Frauen traumasensibel unterstützen

Angst und Scham halten Frauen, die Gewalt erfahren haben, häufig davon ab, sich Hilfe zu suchen. Wenn sich Betroffene trauen, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, stellt der Vertrauensaufbau Klientinnen ebenso wie Therapeut:innen vor besondere Herausforderungen. Wie kann man betroffene Frauen bedürfnisgerecht begleiten?
Gerade einmal bis zur Tür der Therapeutin schafft es die 55-jährige Patientin in dem Film „Bis zur Wahrheit“. Die Neurochirurgin war durch einen nahestehenden Bekannten sexuell missbraucht worden. Ihre beste Freundin hat ein Erstgespräch vereinbart und sie damit unmittelbar vor der Fahrt zur Praxis überrascht. Noch auf der Türschwelle blockt Martina die Begrüßung der Therapeutin ab, flüchtet sich mit einer Notlüge aus der Situation und macht kehrt. Zu groß ist die Scham. So wie ihr geht es vielen Frauen, die Gewalt erleiden mussten. Täglich werden mehr als 140 Frauen Opfer einer Sexualstraftat (BIM, 2024). Jede dritte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben physische und/oder sexualisierte Gewalt. Treffen kann es Frauen aller sozialer Schichten und jeden Alters: in der Öffentlichkeit, zu Hause, am Arbeitsplatz. Ob psychische, körperliche, digitale, ökonomische, soziale oder sexualisierte Gewalt – sie hat stets ein Ziel: Machtausübung und Demütigung.
Verstehen, begleiten und aufklären
Gewalterfahrungen sind von einem massiven Kontrollverlust gekennzeichnet und stellen eine gravierende Grenzüberschreitung dar. Daher ist es unabdingbar, einen sicheren Ort zu schaffen. Das Erlebte sowie die Gefühle Betroffener empathisch zu validieren, legt die Basis für Vertrauen und Compliance. „Ich sehe Sie. Ich glaube Ihnen. Ich verstehe Sie. Sie sind nicht allein“ ist das Heilsamste, was man vermitteln kann – und, dass jede Frau ein Recht auf Unterstützung hat.
Berechenbarkeit und Transparenz sind weitere sicherheitsgebende Faktoren. Das Setting mit seinen räumlichen und zeitlichen Grenzen ist klar zu definieren. Betroffenen verleiht es Halt zu wissen, was sie erwartet. Ausführlich aufzuklären, auch über Nebenwirkungen und Risiken einer (Trauma-)Therapie, ist ebenso wichtig wie eine umfassende Psychoedukation. Gemeinsam wird ermittelt, was die Frau individuell möchte und kann.
Individualisierte und integrative Ansätze
Die Therapie ist bedürfnisorientiert zu gestalten. Integrative Behandlungsansätze, die auch Körperpsychotherapie umfassen, bieten sich aufgrund der Traumafolgen für Seele und Körper an. Sollen Veränderungsprozesse angestoßen werden, braucht es rechtshemisphärische, nonverbale Kommunikation. Daher erzielen schematische oder rein rationale Verfahren oft nicht die gewünschten Erfolge. Fehlen die Worte, kann Kunst- oder Musiktherapie den Ausdruck des Unaussprechbaren fördern; kreatives Schaffen stärkt das Selbstwirksamkeitserleben. Ist der Vertrauensaufbau schwierig, dient tiergestützte Therapie als Brücke. Auch PTBS-Assistenzhunde finden immer häufiger Einsatz, um Betroffene mit schwerwiegenden Einschränkungen im Alltag zu unterstützen.

Bedürfnisse und Grenzen respektieren
Besonders wichtig ist es, Grenzen von Betroffenen zu achten. Maximale Selbstbestimmung ist der bedeutsamste Faktor. Die Klientin muss die Kontrolle über Handlungsschritte, Maßnahmen und Themen behalten. Zwang oder die Ausübung von Druck entzögen ihr erneut die Kontrolle. Während einer Traumatisierung wird ein Nein gewaltvoll übergangen. Ein solches zu respektieren, ist essentiell.
Zwar kann das Gesundheitswesen medizinische Versorgung sowie eine gerichtsverwertbare Dokumentation leisten, doch Vorsicht ist vor Retraumatisierung und der Entwicklung eines medizinischen Traumas geboten: Der Übergriff auf den Körper, die erzwungene Nähe und Intimsphäre, Schmerzen und Ausgeliefertsein können einer erneuten Grenzüberschreitung mit Gewalterleben entsprechen. Traumaambulanzen können geschulte und daher meist achtsamere Mediziner:innen empfehlen. Dennoch weisen Menschen mit Gewalterfahrungen häufig Panik vor Ärzt:innen und medizinischen Interventionen auf. Therapeut:innen können helfen, eine Begleitperson zu finden, die für das notwendige Sicherheitserleben sorgt.
Vorsicht ist grundsätzlich bei Triggern und Überforderung geboten. Falls die Klientin Flashbacks erleidet oder dissoziiert, gilt es, sie feinfühlig ins Jetzt zurückzuholen, z. B. durch beruhigende Worte, Sinnesübungen, Bewegung oder Diskrimination (Haltung, Ort, Thema). Affektive Berührung von einer als sicher empfundenen Vertrauensperson kann ein wirkungsvolles koregulierendes Tool sein. Berührungen, v. a. durch fremde Menschen, sollten jedoch nur mit Erlaubnis der Frau und nie ohne Ankündigung erfolgen.
Die Erlaubnis wegzuschauen
Blickkontakt wird nach man-made-Traumatisierungen oft als alarmierend und beschämend erlebt. Augenkontakt ist etwas sehr Intimes und mit viel Energie aufgeladen, die von traumatisierten Menschen als unangenehm und bedrohlich empfunden wird. Viele Formen von Gewalt beginnen beim Blick und finden über die Augen statt, wenn ein Täter seine geballte Energie auf das Opfer richtet. So kann ein distanzierter, forschender Blick einer Therapeut:in als zu intim und übergriffig erlebt werden. Beide Seiten kann es entlasten, wegzublicken. Wer als Therapeut:in geerdet ist, kann mit Blickkontakt zugleich achtsam arbeiten (z. B. „Fächertanz“-Methode). Mit einem empathischen Blick gesehen zu werden, brauchen Menschen, die unter Traumafolgen leiden – benötigen aber viel Zeit und Geduld. Denn ihr Bedürfnis ist ambivalent: Sieh mich und sieh mich nicht!
Die Fächertanzmethode: Ein echter Fächer oder ein aus Papier gefalteter Fächer, der auch individuell bemalt/gestaltet werden kann, dient der Patientin als Sichtschutz, mit dem ausprobiert werden kann, wie viel Blickkontakt aushaltbar ist. Wenn die/der Therapeut:in auch einen Fächer hat, kann man sich zu zweit durch den Raum bewegen („tanzen") und den Blickkontakt variieren. Das geht aber auch sitzend im Gespräch - so tanzen quasi nur die Augen. Auch ein Loch oder zwei Löcher können hineingemacht werden. So kann die Patientin sich verstecken und gleichzeitig ihr Gegenüber sehen.

Vorsicht vor unbewusstem Victim Blaming
Gewalt ist in den Medien allgegenwärtig: Allein ein Drittel aller TV-Sendungen zeigt geschlechtsspezifische Gewalt (MaLisa Stiftung, 2021). Darin wird Gewalt gegen Frauen oft stereotyp dargestellt. Durch das mediale Bild neigen wir unbewusst zu Erwartungen und Glaubenssätzen, wie sich ein „Opfer“ vor, während und nach einer Tat zu verhalten hat. In der Realität gibt es keine typischen Reaktionen und Verhaltensmuster. Daher sollten eventuelle Klischees erkannt und in regelmäßiger Supervision reflektiert werden, damit Behandelnde/Beratende nicht zu Victim Blaming neigen (Verantwortung wird ganz/teilweise dem Opfer zugeschoben). Als solches kann auch die Suche von Ursachen einer Folgestörung in traumatischen Vorerfahrungen, also in der Biografie der Betroffenen empfunden werden. Ebenso fällt das Fragen nach weiteren Gründen darunter (z. B. weshalb sie allein unterwegs war, mit dem Täter mitging, sich nicht wehren konnte) und verstärkt mögliche Schuldgefühle und Scham. Stattdessen sollten Therapeut:innen eine klare Haltung einnehmen: Die Verantwortung liegt beim Täter! Die Gewalt, die einer Frau widerfuhr, sollte als Ursache für den momentanen Zustand validiert werden. Gewalt ist kein Schicksalsschlag oder Folge einer schwierigen Kindheit, sondern eine Straftat, die häufig aus der strukturellen Dimension patriarchaler Gewalt resultiert.
Die Frauen sind Expertinnen ihres Lebens
Bei ungeklärter Sicherheitslage (Suizidalität, akute Gewaltgefahr) oder anhaltendem Täterkontakt sind Imaginationsverfahren und eine Konfrontation mit dem Erlebten kontraindiziert. Auch bei besonders sensiblen, schwer und/oder komplex traumatisierten Menschen kann eine Konfrontation mehr schaden als nutzen. In vielen Fällen genügen eine umfassende Stabilisierung und Integration, um wieder adäquate Lebensqualität zu erreichen.
In ihren individuellen Bewältigungsstrategien gibt es kein Richtig und Falsch. Selbstverständlich gilt es, Frauen bei Selbstverletzung/Suizidalität zu schützen – jedoch nicht entmündigend. Es sollte feinfühlig über die Problematik aufgeklärt, Sorgen um das Wohl und die Sicherheit der Frau geäußert und gemeinsam Lösungen gesucht werden. Ein (v. a. unfreiwilliger) Klinikaufenthalt hat massives Retraumatisierungspotenzial.
Traumasensible Therapeut:innen drängen nicht zu einer bestimmten Entscheidung und auch nicht zur Einschaltung der Polizei, sondern respektieren und begleiten den eigenen Prozess der Betroffenen. Sie klären auf, geben Raum, Zeit und unterstützen die Frau dabei, herauszufinden, was für sie in diesem Moment am besten ist. Betroffene verfügen über die beste Expertise über sich und Erfahrungen, was ihnen guttut und was nicht. Durch Offenheit und Empathie kann man sie in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützten und aus dem Gefühl von Ohnmacht herausholen.
Zum Weiterlesen:
MaLisa Stiftung: Ziel ist u.a. die Beseitigung von Diskriminierungen, Ungleichbehandlungen und geschlechtsspezifischer Gewalt
BIM (2024). Straftaten gegen Frauen und Mädchen steigen in allen Bereichen – Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland. Online abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/11/lagebild-geschlechtsspezifische-gewalt.html