„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren… Psychotherapeuten?“

Therapeutin im Gespräch mit Patientin.

Über medikamentöse Nebenwirkungen werden Patient*innen durch Beipackzettel umfangreich aufgeklärt. Doch wie ist das in der Psychotherapie? Mit welchen Nebenwirkungen ist zu rechnen – und wo verläuft die Grenze zu Behandlungsfehlern und Verletzungen? Ein Überblick über ein komplexes und bislang zu wenig diskutiertes Thema.

„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker": Dass medikamentöse Behandlungen Nebenwirkungen haben können, ist uns angesichts der aus Haftungsgründen immer umfangreicheren Beipackzettel und auch aus der Werbung geläufig.

 Mit dem Begriff „Nebenwirkungen" werden in der Regel unerwünschte Wirkungen eines Medikaments bzw. einer pharmakologischen Substanz bezeichnet, die neben bzw. zusätzlich zur gewünschten Hauptwirkung auftreten. Die Bandbreite reicht hier von unangenehmen bis hin zu schädlichen (Neben-)Wirkungen.
 

In Psychotherapien wird das Thema bislang vernachlässigt

Der Umstand, dass nicht nur ärztlich-somatische, sondern auch psychotherapeutische Behandlungen Nebenwirkungen haben, ist in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt und spielte in den vergangenen Jahrzehnten auch unter Kolleg*innen keine oder eine lediglich untergeordnete Rolle. In vielen Lehrbüchern der Psychotherapie taucht der Begriff nicht auf. Das gilt auch für Vorkommnisse in Psychotherapien, die ganz eindeutig nicht als Nebenwirkungen bezeichnet werden können, sondern als Grenzverletzungen, unethisches Verhalten oder Kunstfehler (die ggf. auch straf-, berufs-, zivil-, sozial- und vereinsrechtliche Sanktionen zur Folge haben können).

Nicht erst seit Einführung des Patientenrechtegesetzes (2004) und der Einfügung eines neuen Abschnitts „Behandlungsvertrag" in das BGB (BMJ: §§ 630a ff) sind Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen verpflichtet, über Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie im Allgemeinen und des gewählten Behandlungsverfahrens im Speziellen aufzuklären (§§ 630 c und e).

Mann im roten Pullover sitzt auf einem Stuhl und unterhält sich.

Nebenwirkung, Fehler, Verletzung - Wo verläuft die Grenze?

Mit Nebenwirkungen ist immer zu rechnen, sei es durch Veränderungen der Befindlichkeit oder der Beziehung zu anderen Menschen - oder z. B. durch Belastungen durch Mitpatient*innen in der Gruppentherapie (siehe Schleu, 2021).

Wie bei jeder somatischen Behandlung besteht zudem das Risiko, dass sich die Symptomatik bzw. Erkrankung, ungeachtet einer formal richtig durchgeführten Psychotherapie, nicht bessert oder sogar verschlechtert. Dabei ist nicht jedes unerwünschte Ereignis durch die Therapie verursacht. Denkbar sind Verschlechterungen durch äußere Ereignisse (z. B. dem Tod nahestehender Angehöriger) oder den Krankheitsverlauf (Schleu, 2021).

Manche Grenzen müssen in der Psychotherapie überschritten werden, etwa wenn Psychotherapeut*innen unangenehme Affekte oder Ereignisse in der Biografie bzw. der therapeutischen Beziehung ansprechen. Dazu gehören auch Deutungen vor- oder unbewusster Zusammenhänge.

Grenzverletzungen im Sinne einer Abstinenzverletzung führen dagegen in aller Regel zu einer Schädigung von Patient*innen!

Junge Frau sitzt weinend und mit angezogenen Beinen am Fenster und hält ein Taschentuch in der Hand.

Wurde die Behandlung nicht sachgemäß durchgeführt, kann das auf Fehlern der Indikationsstellung, der Behandlungstechnik oder auf unethischem Verhalten der Therapeut*innen beruhen. Nicht zu vergessen ist auch, dass Patient*innen selbst zu einem Scheitern der Therapie beitragen können, wenn sie sich etwa im Rahmen einer Verhaltenstherapie nicht an gegebene Anweisungen halten (z. B. Hausaufgaben in der Verhaltenstherapie oder das Bemühen um freie Assoziation in der analytischen Psychotherapie) oder gegenüber ihrem/ihrer Psychotherapeut*in übergriffig werden (Stalking, verbale und/oder körperliche Bedrohung).
 

Der Kontext ist (mit)entscheidend

An verschiedenen Beispielen soll veranschaulicht werden, wie komplex sich das Phänomen von Nebenwirkungen und Grenzverletzungen gestaltet, und dass die Bewertung immer nur im Kontext der jeweiligen Situation erfolgen kann.
 

Fallbeispiel 1: Unerwünschte Erinnerungen

Im Rahmen einer Langzeittherapie geht es um die Ängste eines Patienten vor dunklen Räumen. Er erinnert sich vage (und eben auch 'dunkel') an ein Kellerabteil, das sich in einem Nachbarhaus befunden hatte. Einige Wochen später träumt er von einer Verfolgungsjagd und einer ins Schloss fallenden Tür. In der Stunde erinnert er ein Nachbarsmädchen, mit der er einen Mann im Halbdunkel und vor den Holzstreben eines Kellerabteils beobachtete, wie dieser seinen Penis hervorholte und masturbierte. Er empfindet Panik, hyperventiliert und hat das Gefühl, die Wände des Praxiszimmers kämen auf ihn zu. Er schreit den Therapeuten an: „Ich will das nicht".

Unerwünschte Erinnerungen, einschließlich der entsprechenden Begleitsymptome, können in allen Psychotherapien auftauchen und sind typische Nebenwirkungen. In einigen Psychotherapieverfahren (z. B. Psychoanalyse) werden Erinnerungen an verdrängte Ereignisse gefördert – allerdings muss je nach Art des psychoanalytischen Verfahrens und der jeweiligen psychischen Verfassung der Patient*innen die Regression (zeitweilige Rückkehr auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung) begrenzt werden, damit es nicht zu einer Re-Traumatisierung kommt.

Beipackzettel auf dem nur der Satz "Welche Nebenwirkungen sind möglich?" zu lesen ist. Der restliche Text ist unscharf.

Fallbeispiel 2: Der falsche Name

Eine Therapeutin spricht ihren Patienten bei der Begrüßung mit dem falschen Namen an und verbessert sich gleich – ohne sich zu entschuldigen.

Hier handelt es sich um eine Fehlleistung und um eine Verletzung berufsethischer Prinzipien. Namensverwechslungen kommen ebenso wie andere Irrtümer (z. B. bei den biografischen Daten) vor und können bei Patient*innen Nebenwirkungen auslösen, etwa das kränkende Gefühl, nicht als Individuum gewürdigt zu werden oder kein Interesse beim Therapeuten oder der Therapeutin auslösen zu können.

Im Spannungsfeld von Gelingen und Scheitern sind solche Fehlleistungen unvermeidbarer und unverzichtbarer Bestandteil der therapeutischen Arbeit und können diese, wenn es gelingt, sie gemeinsam zu verstehen und zu bewältigen, ganz erheblich fördern (vgl. Zwiebel, 2017). Bei einer Namensverwechslung wäre es z. B. sinnvoll – neben dem (verbalisierten) aufrichtigen Bedauern darüber –, aktiv nach den Gefühlen zu fragen, die dadurch ausgelöst wurden und diese zu würdigen. Denkbar ist auch, dass der/die Therapeut*in offenbart, welche Hintergründe seiner Fehlleistung zugrunde liegen (Ähnlichkeiten der Biografie oder der Gefühle, die beide Personen beim Therapeuten oder der Therapeutin auslösen) einschließlich des Eingeständnisses, dass er/sie keine Erklärung dafür hat.
 

Fallbeispiel 3: (Un)erwünschte Folgen

Ein schüchterner Patient entdeckt im Laufe der Therapie seine (bislang unterdrückte) Wut. Diese äußert sich in der Stunde gegenüber der Therapeutin, aber auch zu Hause gegenüber seiner Partnerin, die nach einigen Wochen zu ihrer Schwester zieht, weil sie ihren Partner nicht mehr wiedererkennt.

Veränderungen in der Wahrnehmung von Affekten, Erlebnissen, Erinnerungen und Beziehungen sind Teil dessen, was Psychotherapien – je nach Verfahren in unterschiedlicher Weise – bewirken können und sollen. Die Folgen können je nach Perspektive bzw. Kontext sehr unterschiedlich sein. Während die Therapeutin hier vermutlich einen Erfolg sieht, könnte die Einschätzung des Patienten ambivalent sein, während seine Partnerin die Veränderung als unerwünscht und negativ ansehen dürfte.

Pärchen sitzt auf dem Sofa und Frau gestikuliert wild. Man sieht beide nur von hinten.

Fallbeispiel 4: Verliebt in eine Patientin

Ein Therapeut berichtet bei einem Vortrag: „Einmal im Laufe meiner bisherigen Praxis bin ich in die von Gabbard beschriebene Nähe zur Sonne geraten und war in der Gefahr abzustürzen“. Glen Gabbard, ein amerikanischer Psychoanalytiker und Pionier auf dem Gebiet der Grenzverletzungen, supervidierte im Laufe seines Berufslebens viele grenzverletztende Kolleg*innen – und zog rückblickend ein etwas ernüchterndes Fazit: „Diese Kollegen, die der Sonne auf ihrem Höhenflug blinder Allmachtsphantasien zu nahe gekommen sind und sich dabei versengt und entehrt haben, sind uns viel ähnlicher, als uns lieb sein mag." (Gabbard 2007, S. 121)

Der Therapeut in seinem Vortrag berichtete weiter: „Es ging dabei um eine Patientin, die ich nicht nur als attraktiv empfand, sondern die sich im Laufe der Behandlung in mich verliebte und begann, sich ein Leben mit mir zu erträumen – samt entsprechender, sehr konkreter Tagträume und Zukunftspläne sowie unverstellter sexueller Nachtträume. Mein Problem war, dass auch ich mich langsam, aber sicher in sie verliebte. Zugleich war mir klar, dass die Beziehung – nicht nur wegen des Abhängigkeitsverhältnisses, sondern auch wegen der äußerst schwierigen Beziehung der Patientin zu Männern - zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.

Dennoch war ich nur noch schwer in der Lage, meine Gefühle zu containen – und ging einmal auch zu weit, indem ich der Patientin meine Gefühle offenbarte. Das war eine unangemessene Grenzverletzung. Ich wandte mich in meiner Not an eine vertraute Kollegin und konnte mit ihr offen darüber sprechen. So gelang es mir, dem Sog, in die Sonne zu fliegen, zu widerstehen und die stark affektiv aufgeladene Interaktion in einer für mich und die Patientin förderlichen Weise zu – wie wir heute sagen – mentalisieren."

Im Rahmen einer Psychotherapie können auch bei Therapeut*innen sehr intensive Gefühle positiver und negativer Art entstehen – teils auch bedingt durch das bewusste, vor- und unbewusste Erleben der Patient*innen. Das ist dann kein Problem, wenn es gelingt, konstruktiv damit umzugehen und Grenzen nicht unangemessen zu überschreiten. Spätestens, wenn Therapeut*innen spüren, dass sie ihre abstinente Haltung nicht sicher einnehmen und bewahren können, sollten sie sich – im Sinne einer Triangulierung (eine dritte/weitere Perspektive einnehmen) – Rat holen.

Frau mit Brille telefoniert und stützt dabei den Kopf in die Hand.

Wie gehen wir als Psychotherapeut*innen damit um?

Obwohl neben Fragen der Berufsethik und des Berufsrechts auch „Risiken und unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) von Psychotherapie, Fehler und Schädigungen in der Psychotherapie" Erwähnung in den Gegenstandskatalogen der Ausbildungen für Psychologische Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen finden (IMMP 2019a und b), habe ich den Eindruck, dass besonders letztere noch weitgehend vernachlässigt werden.

Gerade im Bereich der Aus- und (künftigen) Weiterbildung sollte diesem Thema ausreichender Raum gegeben werden. Etwa im Rahmen von Seminaren, in denen erfahrene Kolleg*innen von Nebenwirkungen, eigenen Fehlleistungen, Grenzüberschreitungen und -verletzungen und ihrem Umgang damit berichten. Auf diese Weise können Aus- und Weiterbildungsteilnehmer*innen angeregt werden, aufmerksam und sensibel für solche Phänomene zu werden und sie kreativ mit ihren Patient*innen zu bewältigen.

Bei der Aufklärung von Patient*innen dürfte es wenig Sinn machen, vorab alle möglichen Nebenwirkungen im Einzelnen zu benennen (siehe Beipackzettel). Aber Patient*innen sollten ermutigt werden, die im Rahmen einer Psychotherapie auftretenden unangenehmen Gefühle und Irritationen offen anzusprechen.

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