„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre:n… Psychotherapeut:in?“
Über medikamentöse Nebenwirkungen werden Patient:innen durch Beipackzettel umfangreich aufgeklärt. Doch wie ist das in der Psychotherapie? Mit welchen Nebenwirkungen ist zu rechnen – und wo verläuft die Grenze zu Behandlungsfehlern und Verletzungen? Ein Überblick über ein komplexes und bislang zu wenig diskutiertes Thema.
„Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre:n Ärzt:in oder Apotheke": Dass medikamentöse Behandlungen Nebenwirkungen haben können, ist uns angesichts der aus Haftungsgründen immer umfangreicheren Beipackzettel und auch aus der Werbung geläufig.
Mit dem Begriff „Nebenwirkungen" werden in der Regel unerwünschte Wirkungen eines Medikaments bzw. einer pharmakologischen Substanz bezeichnet, die neben bzw. zusätzlich zur gewünschten Hauptwirkung auftreten. Die Bandbreite reicht hier von unangenehmen bis hin zu schädlichen (Neben-)Wirkungen.
In Psychotherapien wird das Thema bislang vernachlässigt
Der Umstand, dass nicht nur ärztlich-somatische, sondern auch psychotherapeutische Behandlungen Nebenwirkungen haben, ist in der Öffentlichkeit noch wenig bekannt und spielte in den vergangenen Jahrzehnten auch unter Kolleg:innen keine oder eine lediglich untergeordnete Rolle. In vielen Lehrbüchern der Psychotherapie tauchte der Begriff überhaupt nicht auf. Das gilt auch für Vorkommnisse in Psychotherapien, die ganz eindeutig nicht als Nebenwirkungen bezeichnet werden können, sondern als Grenzverletzungen, unethisches Verhalten oder Behandlungs- bzw. Kunstfehler. Diese können dann auch ggf. straf-, berufs-, zivil-, sozial- und vereinsrechtliche Sanktionen zur Folge haben.
Nicht erst seit Einführung des Patientenrechtegesetzes (2013) und damit der Einfügung eines neuen Abschnitts „Behandlungsvertrag" in das Bürgerliche Gesetzbuch/BGB (BMJ: §§ 630a ff) sind Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen verpflichtet, über Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie im Allgemeinen und des gewählten Behandlungsverfahrens im Speziellen aufzuklären (§§ 630 c und e).
Nebenwirkung, (Behandlungs-)Fehler, Grenzüberschreitung und Grenzverletzung - Wo verläuft die Grenze?
Mit Nebenwirkungen ist immer zu rechnen, sei es durch Veränderungen der Befindlichkeit (oftmals kommt es zu einer Verschlechterung der Symptome zu Beginn der Therapie), der Beziehung zu anderen Menschen oder auch durch Belastungen, die von Mitpatient:innen in der Gruppentherapie ausgehen.
Wie bei jeder somatischen Behandlung besteht zudem das Risiko, dass sich die Symptomatik bzw. Erkrankung, ungeachtet einer formal richtig durchgeführten Psychotherapie, nicht bessert oder sogar verschlechtert. Dabei ist nicht jedes unerwünschte Ereignis durch die Therapie verursacht. Denkbar sind auch Verschlechterungen durch äußere Ereignisse (z. B. den Tod nahestehender Angehöriger) oder den Krankheitsverlauf (Schleu, 2021).
Manche Grenzen müssen in der Psychotherapie überschritten werden, etwa wenn Psychotherapeut:innen unangenehme Affekte oder Ereignisse in der Biografie bzw. der therapeutischen Beziehung ansprechen. Dazu gehören Rückmeldungen zum Erleben und Verhalten der Patient:innen aber auch Deutungen vor- oder unbewusster Zusammenhänge. Grenzverletzungen im Sinne einer Abstinenzverletzung (z. B. private Beziehungen während der Psychotherapie) führen dagegen in aller Regel zu einer Schädigung von Patient:innen!
Voraussetzung einer Behandlung ist immer eine umfassende Aufklärung und die (damit erst wirksame) Einwilligung der Patient:innen, denn ohne wirksame Einwilligung ist von einer Körperverletzung auszugehen. Wurde die Behandlung nicht sachgemäß durchgeführt, kann das auf Fehlern bei der Diagnose oder Indikation (Wahl der geeigneten Behandlungsmethode), der Behandlungstechnik oder auf unethischem Verhalten der Therapeut:innen beruhen.
Nicht zu vergessen ist aber, dass auch Patient:innen selbst zu einem Scheitern der Therapie beitragen können, wenn sie sich etwa im Rahmen einer Verhaltenstherapie nicht an gegebene Anweisungen halten (z. B. Hausaufgaben oder das Bemühen um freie Assoziation in der analytischen Psychotherapie) oder gegenüber ihrem/ihrer Psychotherapeut:in übergriffig werden (Stalking, verbale und/oder körperliche Bedrohung). Patient:innen verpflichten sich im Rahmen des Behandlungsvertrags zum Erfolg der Therapie beizutragen, beispielsweise dadurch, dass sie regelmäßig an den vereinbarten Sitzungen teilnehmen.
Der Kontext ist (mit)entscheidend
An verschiedenen Beispielen soll veranschaulicht werden, wie komplex sich die Phänomene Nebenwirkungen, Behandlungsfehler, Grenzüberschreitungen und Grenzverletzungen gestalten und dass die Einordnung und Bewertung immer nur im Kontext der jeweiligen Situation erfolgen können.
Fallbeispiel 1: Unerwünschte Erinnerungen
Im Rahmen einer Langzeittherapie geht es um die Ängste eines Patienten vor dunklen Räumen. Er erinnert sich vage (und eben auch 'dunkel') an ein Kellerabteil, das sich in einem Nachbarhaus befunden hatte. Einige Wochen später träumt er von einer Verfolgungsjagd und einer ins Schloss fallenden Tür. In der Stunde erinnert er ein Nachbarsmädchen, mit dem er einen Mann im Halbdunkel und vor den Holzstreben eines Kellerabteils beobachtete, wie dieser seinen Penis hervorholte und masturbierte. Er empfindet Panik, hyperventiliert und hat das Gefühl, die Wände des Praxiszimmers kämen auf ihn zu. Er schreit den Therapeuten an: „Ich will das nicht".
Unerwünschte Erinnerungen, einschließlich der entsprechenden körperlichen und psychischen Begleitsymptome, können in allen Psychotherapien auftauchen und sind typische Nebenwirkungen. In einigen Psychotherapieverfahren (z. B. Psychoanalyse) werden Erinnerungen an verdrängte Ereignisse gefördert – allerdings muss je nach Art des psychoanalytischen Verfahrens und der jeweiligen psychischen Verfassung der Patient:innen die Regression (zeitweilige Rückkehr auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung) begrenzt werden, damit es nicht zu einer Re-Traumatisierung kommt und die Gefühle so bewältigt werden können, dass der Lebensalltag nicht oder nicht zu sehr beeinträchtigt wird.
Fallbeispiel 2: Der falsche Name
Eine Therapeutin spricht ihren Patienten bei der Begrüßung mit dem falschen Namen an und verbessert sich gleich – ohne aber sich zu entschuldigen.
Hier handelt es sich um eine Fehlleistung und möglicherweise auch um eine Verletzung berufsethischer Prinzipien (Sorgfaltspflicht, Schweigepflicht). Namensverwechslungen kommen ebenso wie andere Irrtümer (z. B. bei den biografischen Daten) vor und können bei Patient:innen unangenehme bis als unerträglich empfundene Affekte auslösen - etwa das kränkende Gefühl, nicht als Individuum gewürdigt zu werden oder kein Interesse bei dem/der Therapeut:in auslösen zu können.
Im Spannungsfeld von Gelingen und Scheitern sind solche Fehlleistungen bzw. Irrtümer unvermeidbarer und unverzichtbarer Bestandteil der therapeutischen Arbeit und können diese – wenn es gelingt, sie gemeinsam zu verstehen und zu bewältigen – ganz erheblich fördern (vgl. Zwiebel, 2017). Bei einer Namensverwechslung wäre es, neben dem (verbalisierten) aufrichtigen Bedauern darüber, sinnvoll aktiv nach den Gefühlen zu fragen, die dadurch ausgelöst wurden, und diese so zu würdigen. Denkbar wäre auch, dass der/die Therapeut:in offenbart, welche Hintergründe der Fehlleistung zugrunde liegen (Ähnlichkeiten der Biografie oder der Gefühle, die beide Personen bei dem/der Therapeut:in auslösen) oder des Eingeständnisses, dass er/sie keine Erklärung dafür hat.
Fallbeispiel 3: (Un)erwünschte Folgen
Ein schüchterner Patient entdeckt im Laufe der Therapie seine (bislang unterdrückte) Wut. Diese äußert sich in der Stunde gegenüber der Therapeutin, aber auch zu Hause gegenüber seiner Partnerin, die nach einigen Wochen zu ihrer Schwester zieht, weil sie ihren Partner nicht mehr wiedererkennt.
Veränderungen in der Wahrnehmung von Affekten, Erlebnissen, Erinnerungen und Beziehungen sind Teil dessen, was Psychotherapien – je nach Verfahren in unterschiedlicher Weise – bewirken können und sollen. Die Folgen können je nach Perspektive bzw. Kontext sehr unterschiedlich sein. Während die Therapeutin hier vermutlich einen Erfolg sieht, könnte die Einschätzung des Patienten ambivalent sein, während seine Partnerin die Veränderung womöglich als unerwünscht und negativ ansehen könnte.
Fallbeispiel 4: Verliebt in eine Patientin
Ein Therapeut berichtet bei einem Vortrag: „Einmal im Laufe meiner bisherigen Praxis bin ich in die von Gabbard beschriebene Nähe zur Sonne geraten und war in der Gefahr abzustürzen“. Glen Gabbard, ein amerikanischer Psychoanalytiker und Pionier auf dem Gebiet der Grenzverletzungen, supervidierte im Laufe seines Berufslebens viele grenzverletzende Kolleg:innen – und zog rückblickend ein etwas ernüchterndes Fazit: „Diese Kollegen, die der Sonne auf ihrem Höhenflug blinder Allmachtsphantasien zu nahegekommen sind und sich dabei versengt und entehrt haben, sind uns viel ähnlicher, als uns lieb sein mag." (Gabbard, 2007, S. 121 und Gabbard, 2017)
Der Therapeut fährt fort: „Es ging dabei um eine Patientin, die ich nicht nur als attraktiv empfand, sondern die sich im Laufe der Behandlung in mich verliebte und begann, sich ein Leben mit mir zu erträumen – samt entsprechender, sehr konkreter Tagträume und Zukunftspläne sowie unverstellter sexueller Nachtträume. Mein Problem war, dass auch ich mich langsam, aber sicher in sie verliebte. Zugleich war mir klar, dass die Beziehung – nicht nur wegen des Abhängigkeitsverhältnisses, sondern auch wegen der äußerst schwierigen Beziehung der Patientin zu Männern - zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Dennoch war ich nur noch schwer in der Lage, meine Gefühle zu containen – und ging einmal auch zu weit, indem ich der Patientin meine Gefühle offenbarte. Das war eine unangemessene Grenzverletzung. Ich wandte mich in meiner Not an eine vertraute Kollegin und konnte mit ihr offen darüber sprechen. So gelang es mir, dem Sog, in die Sonne zu fliegen, zu widerstehen und die stark affektiv aufgeladene Interaktion in einer für mich und die Patientin förderlichen Weise zu – wie wir heute sagen – mentalisieren." (Mentalisieren beinhaltet die Fähigkeit, eigene und auch fremde mentale Zustände wahrzunehmen, zu interpretieren und zu reflektieren um so ein Bild von sich, den Anderen und der Beziehung zwischen Menschen zu entwickeln.)
Im Rahmen einer Psychotherapie können auch bei Therapeut:innen sehr intensive Gefühle positiver und negativer Art entstehen – teils auch ausgelöst durch das Beziehungserleben und Verhalten der Patient:innen. Das ist dann kein Problem, wenn es gelingt, konstruktiv damit umzugehen und Grenzen in nicht unangemessener Weise zu überschreiten. Spätestens, wenn Therapeut:innen spüren, dass sie ihre abstinente Haltung nicht sicher einnehmen und bewahren können, sollten sie sich – im Sinne einer Triangulierung (= eine dritte Perspektive einnehmen) – Rat holen. Die Verantwortung die Grenze nicht zu verletzen, trägt alleine der/die Psychotherapeut:in!
Wie gehen wir als Psychotherapeut:innen mit diesen Themen um?
Obwohl neben Fragen der Berufsethik und des Berufsrechts auch „Risiken und unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) von Psychotherapie, Fehler und Schädigungen in der Psychotherapie" Erwähnung in den Gegenstandskatalogen der Ausbildungen für Psychologische Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen finden (IMMP 2019a und b), werden diese Themen immer noch vernachlässigt. Das gilt auch für die Weiterbildung ärztlicher Psychotherapeut:innen.
Im Sinne der Prävention ist es ist dringend notwendig, diesen Themen ausreichenden Raum zu geben: durch entsprechende Theorievorlesungen in der Aus- und Weiterbildung, Vorträge, Fortbildungen, aber auch im Rahmen von Seminaren, in denen erfahrene Kolleg:innen von Nebenwirkungen, eigenen Fehlleistungen, Grenzüberschreitungen und -verletzungen und vor allem auch von ihrem Umgang damit berichten. Auf diese Weise können Aus- und Weiterbildungsteilnehmer:innen angeregt werden, aufmerksam und sensibel für solche Phänomene zu werden und sie kreativ mit ihren Patient:innen zu bewältigen.
Bei der Aufklärung von Patient:innen dürfte es wenig Sinn machen, vorab alle denkbaren Nebenwirkungen im Einzelnen zu benennen (siehe Beipackzettel). Aber Patient:innen sind über das Auftreten solcher Phänomene aufzuklären damit es überhaupt zu einer wirksamen Einwilligung kommt. Und sie sollten ermutigt werden, die im Rahmen der Psychotherapie auftretenden unangenehmen Gefühle, Irritationen und unerwünschten Ereignisse offen anzusprechen.
Patient:innen können sich mit entsprechenden Fragen an die Landesärzte- bzw. Landespsychotherapeutenkammern, die Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland/UPD oder auch an den Ethikverein wenden.
Quellen