…und plötzlich online? – Psychotherapie in Zeiten der Pandemie

Angesichts der Corona-Pandemie erlebt die Online-Therapie aktuell einen regelrechten Boom. Hast du dich schon vor den Monitor getraut? Oder schreckst du noch vor den technischen Herausforderungen zurück? Für viele sind die plötzlichen Neuerungen mit Unsicherheit und Ängsten verbunden. Unsere Autorin Franca Cerutti ist erfahrene Online-Therapeutin und hat Tipps für dich zusammengestellt, wie du die Hürden selbstsicher überwinden kannst und worauf du jetzt achten solltest.

Quarantäne, Ausgehsperre, Versammlungsverbot - Schlagworte, die aus Romanen oder Kriegsgebieten zu stammen scheinen – und plötzlich sind wir mittendrin. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass eine Lawine neuer Herausforderungen über uns hereingebrochen ist. Menschen mit Ängsten und Depressionen sowie Menschen, die unter der sozialen Isolation leiden, treffen auf Therapeuten, die in der neuen Situation ebenso überfordert und unsicher sind.

Nie war unser Berufsfeld so wichtig wie jetzt und gleichzeitig war nie so unklar definiert, wie unsere Arbeit jetzt eigentlich vonstatten gehen soll. Einerseits möchten wir Psychotherapeuten unserem Versorgungsauftrag gerecht werden – und andererseits sind in unserem Beruf überwiegend Frauen tätig, darunter viele Mütter, die mit der Schließung von Schulen und Kindergärten zusätzlich belastet sind.

Einige weitere drängende Fragen bleiben aktuell unbeantwortet: Wer übernimmt die Verantwortung, wenn man selbst, ohne Symptome zu spüren, einen Risikopatienten in der eigenen Praxis empfängt und ansteckt? Und inwieweit darf ein Psychotherapeut sich selbst isolieren, weil er beispielsweise mit gefährdeten Personen zusammenlebt? Wenn man zwei Meter Abstand halten, unnötige Wege und Körperkontakt vermeiden soll – kann man dann nicht gleich auf Bildschirmarbeit ausweichen?

Online-Therapie als (Zwischen-) Lösung

Trotz guter Evidenz in internationalen Studien wurde das Fernbehandlungsverbot in Deutschland erst im Mai 2018 gekippt. Seither waren Videosprechstunden vereinzelt grundsätzlich möglich. Wegen der starren Beschränkungen und des umfassenden Regelwerkes trauten sich jedoch nur wenige niedergelassene Psychotherapeuten vor den Monitor. Angesichts der Pandemie erlebt die Online-Therapie nun einen regelrechten Boom. Beschränkungen sind (vorübergehend) außer Kraft gesetzt und hier sind wir nun: Unsere Patienten, unser Laptop und wir.

Um die emotionalen und technischen Hürden dieser neuen Art der therapeutischen Arbeit zu überwinden, habe ich, als bereits etwas erfahrenere Online-Therapeutin, ein paar Tipps für dich zusammengestellt:
 

Der ungewohnte Umgang mit der Technik

Nutze einen von der KV zertifizierten Anbieter für Videosprechstunden. Die Investition in einen kostenpflichtigen Anbieter kann sich lohnen, da aktuell die Server der kostenlosen Anbieter häufig überlastet sind und daher manchmal keine ausreichende Bild- und Tonqualität bieten. Eine Übersicht über Anbieter, technische Voraussetzungen und die Vergütung findest du bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Du gehörst zu denjenigen, die Schwierigkeiten haben, Nachrichten auf Mailboxen zu hinterlassen? Ups, dann könnte das eventuell schwierig für dich werden. Du wirst in ein Gerät hineinsprechen müssen und dir dabei auch noch zusehen können. Übe zunächst einmal probeweise mit Angehörigen oder Kollegen, bis du dich mit dem Videoprogramm sicher fühlst. Klicke ruhig alles einmal an, da geht nichts kaputt. Wenn dein eigenes Video-Konterfei dich stört oder ablenkt, klebe ein Post-it darüber (nicht über die Kameralinse, nur über dein Abbild).

Viele Patienten haben noch größere Angst vor der Technik, als du. Strahle Zuversicht und Optimismus aus - das Handling ist für Patienten einfach und klappt für sie sogar vom Mobiltelefon aus. Ein Kontakt via Bildschirm reduziert zwar die „Kanäle“, ist aber immer noch besser als gar kein Kontakt. Weil immerhin die Mimik sichtbar ist, ist eine Videosprechstunde in der Regel auch besser als ein Telefonat. Deine Patienten werden sich freuen, dich zu sehen.

Biete vor dem ersten „richtigen“ Termin mit dem Patienten einen kurzen Test-Anruf an, in dem ihr gemeinsam die Technik ausprobiert. Ungewohnt kann auch der leicht versetzte Blickkontakt sein: Da du deinen Patienten anschaust und er dich, entsteht quasi kein direkter „Blickkontakt“, denn dafür müsstet ihr beide direkt in die Kamera schauen. Ermuntere deinen Patienten, den Blick ruhig (wie im „echten“ Gespräch) schweifen zu lassen, sonst wird es auf die Dauer anstrengend.

Eine ungestörte Atmosphäre schaffen
Schweigepflicht und Diskretion sind auch online das oberste Gebot. Bitte deinen Patienten, unter allen Umständen für eine ruhige und ungestörte Atmosphäre zu sorgen und „Mithörer“ auszuschließen. Je nach wohnlicher Situation kann das Auto vor der Tür eine bessere Alternative sein als der Küchentisch der WG. Jegliche Mitschnitte und Aufzeichnungen sind natürlich zu unterlassen. Sollte dein Patient Bedenken haben, dass du sein Wohnumfeld „siehst“, ermuntere ihn, sich vor eine Wand oder ein Regal zu setzen, das zu viele ungewollte Einblicke verhindert.

Das Licht sollte während des Videogesprächs von vorne kommen und dir ins Gesicht scheinen. Ein helles Fenster oder eine Schreibtischlampe reicht völlig aus. Licht von hinten lässt dich im Vordergrund dahingegen schwarz und unkenntlich erscheinen.

Um Außenreize auszublenden (z.B. auch die Atmung) und noch besser zuhören zu können, empfiehlt sich die Anschaffung eines Kopfhörers. Hier ist Bequemlichkeit Trumpf, sodass dir nach drei Gesprächen nicht die Ohren abfallen.

Kreativ werden und sich austauschen

Lege dir etwas zum Schreiben und ggf. auch farbige Stifte bereit. Wenn du in deiner Praxis viel am Flipchart arbeitest, lässt sich dies gut durch eine gemalte Skizze, die du dann in die Kamera hältst, ersetzen. Manche Video-Anbieter verfügen auch über eine sogenannte „Whitescreen-Funktion“, die das Bemalen und Beschriften eines geteilten Bildschirmes ermöglicht. Werde kreativ.

Und: Kopf hoch! Du bist vielleicht gerade ins kalte Wasser geschubst worden und fühlst dich gar nicht wohl mit der Video-Sprechstunde. Aber kollegialen Austausch und viel Unterstützung findest du im Internet in entsprechenden Foren,  z.B. in der Facebook-Gruppe „Psycholog*innen online“.

Mein Fazit

Die Online-Arbeit hat ihre Tücken und die Kanal-Reduktion macht zunächst vielleicht sowohl dir als Therapeut, als auch den Patienten zu schaffen. Gleichzeitig sollten wir uns bewusst machen, dass schon viele Liebesgeschichten via Monitor begannen und, dass sich Nähe durchaus auch einstellt, wenn man voneinander nur das Gesicht und den Oberkörper sieht. Außerdem bietet die Videosprechstunde, da sie im häuslichen Umfeld des Patienten stattfindet, sehr intime Einblicke, die man als Psychotherapeut normalerweise nicht gewährt bekommt. Manche Patienten fühlen sich, als sei man bei ihnen zu Besuch, und zeigen einem ihre Haustiere oder ihren Garten. So kann die Arbeit mittels Videosprechstunde – ganz entgegen der Erwartung – auch zu einer guten Beziehung beitragen, anstatt sie zu behindern. Zudem sind Patienten, wenn sie ihr häusliches Umfeld mögen und sich sicher fühlen, oft noch entspannter als in der Praxis und dadurch eher bereit, sich zu öffnen.

Und in Zukunft?

Da aktuell nicht absehbar ist, wann der Alltag, wie wir ihn kennen, wieder möglich sein wird, sollten wir als gutes Modell für Flexibilität vorangehen und die Therapie möglichst so gestalten, wie sie uns und unseren Patienten am besten und am sichersten erscheint. Das kann unter maximaler Einhaltung aller Hygiene-Vorschriften in der Praxis sein oder eben online. Ich würde mir wünschen, dass Therapeuten auch nach der Pandemie freier wählen können, ob und wann die Videosprechstunde zum Einsatz kommt. Denn für mich persönlich und auch für viele meiner Patienten, ist die Videosprechstunde - ganz unabhängig von der Pandemie - eher ein Gewinn als eine Belastung.

Quellen:

Andersson, G. (2016). Internet-delivered psychological treatments. Annual Review of Clinical Psychology, 12, 157–179.

Andersson, G. et al. (2014). Guided internet-based vs. face-to-face cognitive behavior therapy for psychiatric and somatic disorders: a systematic review and meta-analysis. World Psychiatry 2014, 13, 288–295.

Farrer, L., Christensen, H., Griffiths, K., Mackinnon, A. (2012). Web-based cognitive behavior therapy for depression with and without telephone tracking in a national helpline: secondary outcomes from a randomized controlled trial. Journal of Medical Internet Research, 14(3): e68.

Hammond, G., Croudace, T., Radhakrishnan, M., Lafortune, L., Watson, A. et al. (2012). Comparative effectiveness of cognitive therapies delivered face-to-face or over the telephone: an observational study using propensity methods. PLOS ONE, 
7(9)e42916.