Möge der Selbstwert mit dir sein!

Oft steht im Zentrum aller Schwierigkeiten, die ein Patient hat, ein Selbstwertproblem. (Foto: Laurenz Kleinheider – Unsplash.com)

Wer bin ich? Und wer wäre ich eigentlich gerne? Fragen, die in der psychotherapeutischen Arbeit oft im Mittelpunkt stehen. Wie kannst du deine Patienten unterstützen, einen realistischeren, freundlicheren Blick auf sich selbst zu gewinnen? Das verraten dir unsere Autoren Sven Hanning und Fabian Chmielewski.

Kennst du das? Deine Patientin erkennt im Therapieverlauf, dass im Zentrum all ihrer Schwierigkeiten ein Selbstwertproblem steht. Sie wünscht sich deine Hilfe, ihren Selbstwert zu verbessern. Du willst ihr gerne helfen – nur du weißt nicht recht, wie und wo du beginnen sollst?

Spurensuche: Mit welchen Methoden lässt sich am Selbstwert arbeiten? (Foto: Mathieu Stern – Unsplash.com)

Rätsel Selbstwert

So ging es uns gegen Ende unserer Approbationsausbildung vor gut zehn Jahren öfter und immer wieder hören wir auch von Kollegen, denen es ähnlich geht. Wir sind damals auf die Suche nach Interventionen und Konzepten gegangen, um die Arbeit am Selbstwert zu strukturieren – und sind nicht wirklich fündig geworden. Wir fanden hier und da versprengte Ideen und Interventionen, aber nirgends einen „großen Wurf“, der unsere Fragen beantworten konnte. Jahre später sind wir schlauer: Das Thema Selbstwert stellt mitnichten ein unbestelltes Feld dar, vielmehr gilt es als eins der bestbeforschten Themen der Psychologie. Der Großteil der Konzepte findet sich allerdings in der Sozialpsychologie – und diese Erkenntnisse scheinen bislang nicht den Übertrag in den klinischen Alltag geschafft zu haben.

Wir arbeiten seit Jahren daran, diese Erkenntnisse der empirischen Forschung für den therapeutischen Alltag nutzbar zu machen. Wir haben bewährte Interventionen so abgewandelt, dass sie in ein stimmiges Rahmenmodell passen – und wo Lücken blieben, haben wir eigene Interventionen entwickelt. Wir freuen uns in Workshops und Seminaren über die Rückmeldung, dass sich unsere Ideen gut mit ganz unterschiedlichen Therapieschulen und -richtungen vertragen, sodass jeder Behandelnde sie gut in laufende Therapien einbetten kann.

Menschen tragen verschiedene Bilder von sich selbst in sich: das Bin-Ich, Das Soll-Ich und das Wunsch-Ich (Foto: TK Hammonds – Unsplash.com)

Wie bin ich und wie will ich sein?

Einen Rahmen bietet uns die Selbstdiskrepanztheorie von Higgins, die wir für unsere Zwecke etwas vereinfacht und angepasst haben. Wir erklären unseren Patienten mit einer einfachen Skizze, dass Menschen nicht nur ein Selbstbild, sondern mindestens drei in sich tragen: das Bin-Ich, das Soll-Ich und das Wunsch-Ich (siehe Abbildung 1). Das Bin-Ich bildet ab, wie ich mich selbst sehe, das Soll-Ich enthält Vorstellungen darüber, wie ich sein sollte, und das Wunsch-Ich zeigt, wie ich gerne wäre, wenn ich mich nur nach meinen eigenen Vorstellungen richten könnte.

Abbildung 1: Selbstdiskrepanz

Im Spiegelkabinett

Mit einer Imaginationsübung helfen wir unseren Patienten, diese drei Selbstbilder kennenzulernen. Wir leiten sie in einem entspannten Zustand in der Vorstellung durch ein Spiegelkabinett, in dem sie in drei Spiegeln drei unterschiedliche Bilder von sich selbst sehen (die Anleitung dazu als Audiodatei sowie PDf-Dokument findest du unten als exklusiven Download). Die Eindrücke sind für Patienten oft sehr prägnant und bahnen „am Verstand vorbei“ schnell den Zugang zu Themen, die bei rein kognitiver Arbeit oft schwer zugänglich sind.

Therapeutisch hoch relevant sind die emotionalen Reaktionen auf die drei Selbstbilder. Häufig schildern Patienten Scham, Abscheu oder Unzufriedenheit gegenüber dem Bin-Ich. Vom Soll-Ich fühlen sie sich unter Druck gesetzt, das Wunsch-Ich löst Gefühle von Sehnsucht aus oder Trauer darüber, dieser Vorstellung nicht näher zu sein.

Der Ausgangspunkt

Die prototypische Konstellation zu Beginn der Behandlung sieht so aus:

  1. Das Bin-Ich ist negativ verzerrt. Die Betroffenen sehen sich selbst schlechter als sie eigentlich sind. Außerdem ist das Bin-Ich unvollständig, der Blick auf sich selbst ist auf kleine Ausschnitte der gesamten Person verengt. So könnte eine essgestörte Patientin hauptsächlich auf ihr Gewicht fokussieren und wenig darüber nachdenken, ob sie nett zu anderen Menschen oder musikalisch begabt ist. Ein Burnout-Patient mag nur mit Fragen von Leistung und Erfolg beschäftigt sein und andere Bereiche seiner Persönlichkeit unbeachtet lassen.
  2. Das Soll-Ich wird oft als übermächtig erlebt und enthält übertriebene oder unerreichbare Forderungen, die den Betroffenen häufig gar nicht wie eigene Ziele und Wertvorstellungen vorkommen, sondern eher wie fremde Vorgaben, die es zu erfüllen gilt.
  3. Das Wunsch-Ich ist häufig nur nebelhaft zu erkennen. Gerade bei Menschen, die sich schon früh nach fremden Vorstellungen richten mussten, kann man annehmen, dass sie nie einen eigenen Entwurf davon angelegt haben, wie sie gerne sein möchten.

Soll-Ich und Wunsch-Ich lassen sich als zwei innere Ratgeber verstehen, von denen der eine eher wie ein strenger Lehrer auftritt, der den Betroffenen fremde Zielvorgaben überstülpt, während das Wunsch-Ich eher wie ein freundlicher, unterstützender Coach dazu ermutigt, eigene Ziele zu verfolgen.

Eine neue Perspektive auf die eigene Person zu gewinnen ist sehr wichtig für die therapeutische Arbeit. (Foto: Randy Jacob – Unsplash.com)

Der Weg zu einem komplexen, realistischen Selbstbild

Aus dieser Ausgangslage leitet sich der Wegweiser für die ganze weitere Behandlung ab: der Blick auf das Bin-Ich soll realistischer und vollständiger werden. Passend dazu liegen empirische Befunde vor, dass ein komplexeres Selbstbild mit höherem Selbstwert einhergeht. Es gilt, einen neuen, umfassenden Blick auf die eigene Person zu gewinnen, mit allen positiven und negativen Seiten. Dazu untersuchen wir unter anderem, was die Patienten an sich mögen könnten, worauf sie stolz sein könnten, aber auch, was sie an sich stört und wofür sie sich schämen. Die gleichen Fragen stellen wir aus der Außenperspektive: Was könnten andere an ihnen mögen? Was könnte andere an ihnen stören? Es gilt, den Zugang zu positiven Anteilen des Selbstbildes zu verbessern – die sind bislang vermutlich unterrepräsentiert. Genauso gilt es, die negativen Anteile des Selbstbilds zu akzeptieren oder sich aktiv in einen Veränderungsprozess zu begeben. Nur so kann ein komplexes, ausgewogenes, realistisches und glaubwürdiges Selbstbild entstehen.

Mit Selbstbewertungsregeln aufräumen

Die im Soll-Ich gespeicherten Regeln der Selbstbewertung werden

  • identifiziert („Wie sollen Sie sein?“),
  • biographisch eingebettet („Wann und von wem haben Sie das gelernt?“),
  • auf ihren angeblichen Nutzen („Was verspricht Ihnen diese Selbstbewertungsregel?“) und
  • ihre Konsequenzen untersucht („Wozu führt diese Regel tatsächlich?“).

Schließlich sollen die Patienten entscheiden, ob sie sich weiter nach diesen Regeln und Maßstäben bewerten oder ob sie diese Regeln verändern oder verwerfen wollen. An dieser Stelle fragen wir uns auch gemeinsam mit den Patienten:

  • „Welche Kriterien sind es, die tatsächlich über den Wert des Menschen entscheiden?“
  • „Man kann Menschen auf so unglaublich vielen Dimensionen voneinander unterscheiden – welche Merkmale sind es denn, an denen der Wert einer Person hängt?“
  • „Wenn Sie diese Regeln alle im Laufe Ihres Lebens irgendwo aufgeschnappt haben, sind sie dann alle willkürlich? Könnte man das auch anders sehen? Oder gibt es etwas Objektives, an dem wir uns orientieren können?“

Das Wunsch-Ich soll im Sinne einer einladenden Zielvorstellung deutlicher ausgestaltet werden. Patienten können dabei unterstützt werden, sich dem Wunsch-Ich schrittweise anzunähern und verbleibende Diskrepanzen dabei verständnisvoll zu betrachten, statt sich dafür abzuwerten.

Für diese Arbeit an Bin-Ich, Soll-Ich und Wunsch-Ich nutzen wir eine Reihe unterschiedlicher Interventionen, die Patienten auf den drei Ebenen „Denken – Handeln – Fühlen“ erreichen. Neben eher kognitiven und eher verhaltensbezogenen Interventionen nutzen wir z. B. Stuhldialoge, Vorstellungsübungen oder Briefe an sich selbst zur Emotionsaktivierung.

Menschen brauchen Liebe, Erfolg und Freiheit, um einen stabilen Selbstwert zu entwickeln und zu erhalten.

Selbstwert und Grundbedürfnisse

Das zweite wichtige Modell für unsere Arbeit entstammt der Selbstbestimmungstheorie der Sozialpsychologen Deci und Ryan. Auch dieses Modell haben wir nach unseren Zwecken angepasst. Die Selbstbestimmungstheorie geht davon aus, dass der Selbstwert eine Reaktion auf die Erfüllung bzw. Frustration dreier Grundbedürfnisse darstellt. In unseren Begrifflichkeiten sind das (siehe Abbildung 2):

  1. Bindung
  2. Kompetenz und Anerkennung
  3. Selbstbestimmung

Einfacher gesagt: Menschen brauchen Liebe, Erfolg und Freiheit, um einen stabilen Selbstwert zu entwickeln und zu erhalten.

Abbildung 2: Grundbedürfnisse

Der großen Bedeutung von Erfahrungen mit Grundbedürfnissen tragen wir in mehreren Interventionen Rechnung: Wir untersuchen mit den Patienten wichtige biographische Erfahrungen mit diesen drei Bedürfnissen, sowohl positive als auch negative. Wir versuchen, den Zugang zu positiven Erinnerungen wieder zu verbessern, um positiven Bewertungen der eigenen Person emotionale Resonanz zu verleihen.

Auch in der Gegenwart untersuchen wir, inwieweit die drei Bedürfnisse, die den Selbstwert speisen, im Alltag der Patienten erfüllt werden. Gibt es hier Schieflagen, versuchen wir, dem Mangel durch gezielten, maßgeschneiderten Aktivitätenaufbau entgegenzutreten: „Was könnten Sie unternehmen, um mehr Bindung zu erfahren? Was könnten Sie tun, um mehr Kompetenz zu erleben? Was könnten Sie verändern, um mehr Selbstbestimmung zu erfahren?“.

Es ist schön, im Therapieverlauf zu erleben, wie Patienten der Tyrannei des Soll-Ichs entkommen, einen realistischeren, freundlicheren Blick auf sich selbst gewinnen und sich dem Wunsch-Ich annähern.

Hier kommst du zur Anleitung für die Imaginationsübung:

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Chmielewski & Hanning (2021). Therapie-Tools Selbstwert. Weinheim: Beltz.

[Werbung] Hanning & Chmielewski (2019). Ganz viel Wert - Selbstwert aktiv aufbauen und festigen. Weinheim: Beltz.