Zwischen Faszination und Verwirrung: Kuba aus Sicht einer deutschen Psychologin

In seinem Reiseroman „Shantaram“ beschreibt Gregory David Roberts, wie sein Protagonist, der für mehrere Monate in einem indischen Dorf lebt, auf der langen Zugfahrt dorthin Schulter an Schulter mit den Einheimischen reist, sich mit ihnen beim Sitzen abwechselnd. In diesen 14 Stunden beengter Fahrt in einem überfüllten Waggon, während der er viel beobachten kann und mit den Menschen ohne Sprache kommuniziert, lernte er mehr, als es der Fall gewesen wäre, wenn er einen ganzen Monat in der ersten Klasse durch das Land gereist wäre. Wenn ich diese Stelle im Roman lese, erinnert mich das an meine Erlebnisse während meiner Aufenthalte in Kuba.

Therapieschulen in der Form, wie wir sie kennen, gibt es in Kuba nicht. Es gibt zwar beispielsweise auch Psychoanalyse, die konnte sich aber nicht so durchsetzen wie etwa in Argentinien. Dies wird mit der ganz anderen Struktur des kubanischen Gesundheitswesens erklärt, das als staatlicher Dienst konzipiert ist und keine privaten Praxen kennt. Psychotherapie findet ausschließlich im Rahmen von Institutionen, zum Beispiel an Polikliniken, statt. Nach Aussagen meiner Gesprächspartner wird vielmehr mit einem integrativen Ansatz gearbeitet: Stark beeinflusst von Lew Semjonowitsch Wygotski, dem russischen Psychologen und Begründer der kulturhistorischen Schule, arbeiten Psychotherapeuten mit verschiedenen Modellen auf pragmatische Art und Weise. Der Fokus liegt weniger auf dem Individuum, stattdessen hat der Kontext große Bedeutung. Bemerkenswert ist die Entsendung von Psychologen und Ärzten in viele Krisengebiete auf der ganzen Welt, wie etwa nach dem Erdbeben in Haiti. Gegen Ebola kämpften 2014 in Westafrika hunderte kubanische Ärzte und Pfleger. Sie folgen damit einer revolutionären Tradition im Sinne Che Guevaras.

Auf den zum Teil unbefestigten Straßen des ländlichen Trinidads sieht man auch die berühmten Oldtimer aus den 1950er-Jahren, weit häufiger jedoch Fahrradtaxis und Pferdefuhrwerke. Von einer der wenigen Frauen, die ein solches Fuhrwerk lenken, werde ich zu den Gesprächen in die Klinik von Trinidad gebracht. Mit ihrem Cowboyhut auf dem Kopf ist sie in ihrer Haltung genauso stolz wie ihre männlichen Kollegen. Zusammen mit Madelvys Alvarez, der Psychiaterin der Klinik, laufe ich später durch die Kleinstadt. Auf den Straßen geht es quirlig, laut und lebendig zu. Alle grüßen sich freundlich und rufen sich quer über die Straße Neuigkeiten zu. Jeder kennt jeden. Madelvys und ich kommen praktisch nicht voran, weil sie immer wieder stehen bleibt, um mit den Menschen zu sprechen: wie es ihnen oder ihren Familienangehörigen geht, ob sie besser schlafen und so weiter. Hier auf dem Land macht sie zusammen mit ihrem Team hauptsächlich Hausbesuche. In der Metropole Havanna ist das anders. Dennoch ist auch dort die Förderung und Einbindung in die Gemeinschaft ein wesentliches Element der Therapie. Es gibt praktisch nur Gruppentherapien. Das Konzept der Tagesklinik in der Altstadt von Havanna, wo ich hospitiert habe, sieht z.B. gemeinsame Unternehmungen der Patienten vor, die sie ohne Begleitung durchführen.

Und wo holen sich die Menschen darüber hinaus Unterstützung? An was glauben sie sonst noch? Ich habe mir mal wieder den Magen verdorben. Als Hilfe wird mir eine alte Frau empfohlen, ihre heilenden Kräfte sind stadtbekannt. So werde ich die freundliche, alte Dame besuchen sowie ihren blinden Ehemann, der mir während der Behandlung mit Kräutersud und Massage Liebesgedichte vorträgt. Das Murmeln der alten Frau erinnert an Gebete und klingt gleichzeitig wie eine Beschwörung – und tatsächlich soll es nicht nur mein Magenweh lindern, sondern mich auch von bösen, neidischen Blicken anderer befreien und davor schützen. Ich bin glücklich über solche authentischen Begegnungen und lerne während meiner Reise viel, was mich nachhaltig verändert.

Im Roman „Shantaram“ bekommt der Protagonist den Rat, sich dem Fremden hinzugeben, um überhaupt eine positive Erfahrung zu ermöglichen: „Try to relax completely, and go with the experience. Just […] let yourself go. Sometimes […] you have to surrender before you win” (S. 99). Und ja, die Fremde befremdet, verunsichert zum Teil und stellt Eigenes unweigerlich in Frage. Hinzu kommt: Es ist etwas völlig anderes, als Touristin Sehenswürdigkeiten und Strände zu besuchen oder sich auf professionellem Level mit den Berufskollegen eines anderen Landes auszutauschen. Vieles ist inspirierend, anderes eher befremdlich. Nur wenn man sich auf das Neue und Fremde einlässt und sich berühren lässt, kann man lernen. Der Kontextwechsel und der Abstand zur Arbeit zu Hause bieten eine Möglichkeit, aus Routinen aus- und gewohnte Denk- und Verhaltensmuster aufzubrechen. Deshalb ist es auf Reisen einfacher, sich in einen Veränderungs- und Wachstumsprozess zu begeben.

Die spanische Kolonialherrschaft verschleppte ab 1522 afrikanische Sklaven nach Kuba, um die Zuckerplantagenwirtschaft aufrechtzuerhalten. Zum katholischen Glauben gezwungen, verbanden diese Sklaven ihre Gottheiten, die Orishas, mit den katholischen Heiligen, um ihren eigenen Glauben weiter ausüben zu können. Ihre Religion, die Santería, hat ihren Ursprung in der Mythologie der Yoruba im heutigen Nigeria. In Kuba weit verbreitet ist dies jedoch nicht nur eine Religion, sondern prägt entscheidend die kubanische Kultur. Afrokubanische Tänze haben einen intensiven Bezug zu den Göttern der Santería. Die Bewegungen entsprechen den Charakteren der westafrikanischen Gottheiten. Mich hat der Inhalt, der in diesem Tanz zum Ausdruck gebracht wird, an innere Persönlichkeitsanteile, wie wir sie aus unseren psychologischen, theoretischen Modellen kennen, erinnert. Musik und Tanz wirken identitätsstiftend und damit haltgebend.

Die Rolle der eigenen Kultur als Schutzfaktor wird zum Beispiel in der transkulturellen Psychotherapie untersucht und hat aufgrund der Flüchtlingsthematik in Deutschland große Aktualität. Bestehende Konzepte von psychischer Störung und Behandlungskonzepte werden in der transkulturellen Psychotherapie vor dem Hintergrund unserer europäischen und nordamerikanischen Kultur und Geschichte betrachtet und mit Konzepten anderer Kulturen verglichen. Vertreter der transkulturellen Psychotherapie betonen, dass es in der Begegnung mit Patienten aus anderen Kulturen nicht nur um Skills, sondern vor allem um eine Haltung geht, die geprägt ist von Neugier, Offenheit und Interesse, ohne zu werten. Wenn Anthropologen für die Erforschung fremder Kulturen trainiert werden, werden sie gleichzeitig darin geschult, die eigene Kultur mit einer gewissen Distanz zu beobachten. Und damit wird der Weg geöffnet, Tabus oder blinde Flecken in der eigenen Welt sowie das Fremde in uns zu entdecken.

Kuba ist für mich eine echte Herausforderung – wie es wichtige Begegnungen eben sind. In der Fremde wird man mit Gefühlen von Verwirrung, Nicht-Verstehen und Unsicherheit konfrontiert. Und das ist auch gut so – solange man statt mit Aggression (um sich abzugrenzen) mit Demut, Offenheit und einer Haltung des Nicht-Wissens reagiert. Dann fällt es leichter, nicht zu interpretieren, nicht den unerfüllbaren Anspruch zu haben, zu verstehen, sondern einfach anzuerkennen, was ist. Formen eines inhaltlich abgegrenzten Wissens laufen Gefahr, uns in trügerischer Sicherheit zu wiegen, und stehen einer Haltung, immer wieder neu und offen hinzuschauen, zu fragen und wahrzunehmen, eher im Weg. Angst führt zu dem Wunsch, zu kontrollieren und festzuhalten, und erschwert damit wichtige Lern- und Veränderungsprozesse. Verwirrung ist Voraussetzung und untrennbarer Bestandteil von Veränderung. Da wir als Psychotherapeuten Experten für Veränderungsprozesse sind, tut es uns besonders gut, wieder selbst in diese einzutauchen und sich gezielt der Verwirrung auszusetzen.

Nach meiner Rückkehr spüre ich die oben beschriebene Verwirrung sowie Faszination. Und ich habe eine Menge Fragen, von denen ich weiß, dass viele auch unbeantwortet bleiben. Weil es auf manches eben keine Antwort gibt.