Alle(s) toxisch, oder was?

Ein junger Mann und eine junge Frau sitzen voneinander abgewendet und mit etwas Abstand nebeneinander und haben den Kopf auf ihre Hände gestützt.

Immer häufiger ist in den letzten Jahren die Rede von „toxischen Beziehungen“. Manche sprechen gar von einem Hype. Dabei ist der Begriff nicht nur in den Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, er begegnet uns auch zunehmend in der psychotherapeutischen Praxis oder im Coaching. Was ist damit gemeint und wie kannst du Betroffenen helfen?

Es gibt weder eine klare Definition, was eine toxische Beziehung ist, noch handelt es sich um eine Diagnose. Toxische Dynamiken sind nicht nur bei Liebespaaren anzutreffen, alle erdenklichen Arten von Beziehungen können daran kranken. Der Begriff ist äußerst unscharf, da er sich auf Verhaltensweisen beziehen kann, auf Beziehungen, Menschen, Systeme oder Strukturen. Dabei ist nicht jede unglückliche Beziehung toxisch und nicht in jeder toxischen Beziehung gibt es eine eindeutige Täter:innen-Opfer-Rollenverteilung. Vielmehr ist eher die Regel als die Ausnahme, dass sich beide Parteien in einer „vergifteten“ Beziehung gleichermaßen toxisch verhalten.

Die meisten Menschen haben jedoch das Bild einer kräftig in Schieflage geratenen Paarbeziehung vor Augen, wenn sie dem Begriff begegnen. Gemeinhin ist also eine Beziehung gemeint, in der eine Person systematisch schlecht behandelt und die andere Person schlecht behandelt wird - Giftmischer:in und Vergiftete:r. In diesem Sinne lassen sich typische Merkmale und Verhaltensweisen beschreiben, die in toxischen Beziehungen gehäuft auftreten.

 

Merkmale toxischer Beziehungen

…auf Täter:innenseite:

  • Love Bombing: der/die Partner:in wird anfangs charmant umgarnt und mit Zuneigung, Komplimenten und Aufmerksamkeit überschüttet
  • Fast Forwarding: alles geht sehr schnell, vom ersten Kuss zum ersten Sex, ein magisches Gefühl von Seelenverwandtschaft, der Entwurf einer gemeinsamen Zukunft (siehe Future Faking)
  • Future Faking: Versprechen einer Zukunft, die nie eintritt, z. B. gemeinsame Kinder, das Traumhaus, eine Hochzeit oder eine Weltreise
  • Gaslighting: Manipulationstechnik, bei der die Wahrnehmungen der/des Partner:in systematisch für ungültig erklärt oder abgewertet werden
  • Silent Treatment: Bestrafung durch Ignorieren, Liebesentzug
  • Unveränderlichkeit/Rigidität: „Du musst mich so lieben wie ich bin“, Verweigern von Kompromissen/Zugeständnissen, kein Eingeständnis eigener Fehler/Schwächen
  • Respektlosigkeit, Abwertung, Demütigung, Kleinmachen, Empathielosigkeit

 

…auf Opferseite:

  • Schuldgefühle: „ich kann es nicht richtig machen“, „ich reiche nicht aus“, „Probleme in der Beziehung liegen ausschließlich an mir“
  • Übersteigerte Verantwortungsübernahme: „Ich allein bin für unser Beziehungsglück verantwortlich“
  • Emotionaler Stress und diffuse Angstgefühle: Gefühl, jederzeit bei etwas „erwischt“ werden zu können oder Ärger zu kriegen
  • Isolation: Fragen um Erlaubnis, Freund:innen/Verwandte treffen zu dürfen
  • „Disconnect: kein Zugang zu eigenen Gefühlen, kein Vertrauen in eigene Urteilsfähigkeit
  • Sich benutzt/missbraucht fühlen
  • Unfähigkeit, persönliche Grenzen aufrechtzuerhalten
  • Emotionale Erschöpfung: Gefühl, mehr zu geben als zu bekommen
  • Mentale Fixierung auf die Beziehung: eigene Interessen vernachlässigen, im Extremfall wird die Beziehung zur Obsession
Eine Fliegenpilz auf bemoostem Waldboden.

Warum ist es so schwer, sich aus einer toxischen Beziehung zu lösen?

In toxischen Beziehungen wirkt das Prinzip der intermittierenden Verstärkung, das zu einer starken emotionalen Abhängigkeit führen kann: Phasen, die von Streit, Abwertung und Demütigung geprägt sind, wechseln sich auf vermeintlich unvorhersehbare Weise ab mit tollen Phasen, in denen die eine Person der anderen die Sterne vom Himmel holt.

Diese Dynamik erzeugt eine Kontrollillusion bei den Betroffenen: „Wenn ich mich nur richtig verhalte, ist mein:e Partner:in lieb zu mir“. Es können sich suchtähnliche Strukturen entwickeln, in denen die Hoffnung auf ein „Happily ever after“ immer wieder neu entfacht wird. Tragischerweise erhoffen sich die Opfer dabei die Heilung ihrer emotionalen Wunden oftmals genau durch die/den Täter:in.

Wurde der beschriebene Zyklus häufig genug durchlaufen, ist das Selbstwertgefühl meist so angegriffen, dass schlichtweg die Kraft fehlt, sich zu trennen, sowie die Zuversicht, die Loslösung aus der Beziehung auch gegen die eventuellen Widerstände der/des Partner:in durchsetzen zu können.

 

Wie kannst du helfen?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass du die Betroffenen für das Muster sensibilisierst, in dem sie feststecken. Es ist meist ein schmerzhafter Prozess, zu erkennen, wie lange sie sich schlecht behandeln haben lassen und dass sie möglicherweise auch noch selbst zur Aufrechterhaltung dieser unguten Beziehungsdynamik beigetragen haben.

Die therapeutische Begleitung erfordert ein hohes Maß an Feinfühligkeit, Wertschätzung und Empathie, um nicht noch mehr Druck auf die Betroffenen auszuüben, „sich doch jetzt endlich zu trennen“. Gut gemeinte Ratschläge in diese Richtung haben sie meist schon zur Genüge aus dem Freundes- und Familienkreis erhalten. Es ist wichtig, dass du dir als Behandler:in vor Augen führst, dass man beispielsweise eine alkoholabhängige Person auch nicht auffordern würde, „das Trinken doch einfach sein zu lassen“.

Insbesondere zu Beginn einer therapeutischen Begleitung sollten deshalb auch ambivalente Gefühle und vermeintlich widersprüchliche Impulse genügend Raum bekommen und ohne moralische Bewertung gemeinsam reflektiert werden. Es geht darum, internalisierte Schuldüberzeugungen und die dazugehörigen Schamgefühle in Frage zu stellen, damit die/der Klient:in dazu befähigt wird, sich selbst die Trennungserlaubnis zu geben.

 

Therapeutische Techniken

  • Imaginationsübungen: die/der Klient:in imaginiert sich selbst als Scheidungsrichter:in, die/der mit objektivem Blick über die Beziehung zu urteilen hat
  • Stühle- bzw. Aufstellungsarbeit mit widerstreitenden inneren Anteilen, um das „Chaos im Kopf“ zu ordnen
  • Motivational Interviewing nach Miller & Rollnick: eigens für die Suchtbehandlung entwickelte Gesprächstechnik mit dem Ziel, Ambivalenzen aufzulösen und die intrinsische Motivation zur Verhaltensänderung zu stärken
Eine Frau verlässt mit gepackter Tasche die Wohnung, etwas entfernt steht ein geknickter Mann im Flur und blickt ihr nach.

Übergeordnetes Ziel ist es, das erodierte Selbstwertgefühl wieder herzustellen und so zu stabilisieren, dass die/der Klient:in die Gestaltung ihrer/seiner Zukunft zurückerobert – jenseits der toxischen Beziehung. Lang unterdrückte und jetzt freiwerdende Wut kann dabei ggf. in „Trennungsenergie“ umgewandelt werden.

Der (Re-) Aktivierung verschütt gegangen geglaubter Ressourcen kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Individuelle Kraftquellen sollten wieder zugänglich gemacht werden, etwa durch das Wiederauflebenlassen vernachlässigter Freundschaften, der Anschaffung eines Haustieres oder selbstfürsorglichem Verhalten.

Ist die Entscheidung für eine finale Trennung klar getroffen, kann die Umsetzung gar nicht kleinschrittig und konkret genug geplant werden: Welcher Zeitpunkt ist geeignet? Was passiert mit den Kindern, was mit dem (gemeinsamen) Freundeskreis? Wo kann ich hin? Wie reagiere ich, wenn die/der Partner:in versucht, mich aufzuhalten? Möchte ich rechtliche Schritte einleiten?

Eine gute Vorbereitung ist essenziell, um das Rückfallrisiko so gering wie möglich zu halten und den Betroffenen ein „inneres Geländer“ für den Ernstfall zu geben, an dem sie sich festhalten können, wenn alles drunter und drüber geht. Mentales Probehandeln und Rollenspiele sind dabei unverzichtbare Behandlungsbausteine, die Sicherheit vermitteln und Ohnmachtsgefühlen vorbeugen.

 

Herausforderungen

Der meist verbreitete Kunstfehler bei der Behandlung von Menschen, die in toxischen Beziehungen feststecken, ist therapeutisches Überengagement. Die Überidentifizierung mit Klient:innen führt schnell dazu, dass du dich persönlich für das Verhalten der Klient:innen verantwortlich fühlst, ihnen dein eigenes Wertesystem überstülpst und das eigentliche Behandlungsziel aus den Augen verlierst, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

 

Fragen zur Selbstreflexion:

  • Ist der therapeutische Auftrag klar?
  • Arbeiten wir (noch) gemeinsam an den Zielen der/des Klient:in? Oder verfolge ich insgeheim eine eigene Agenda, weil ich meine, besser einschätzen zu können, was „das Richtige“ für die/den Klient:in ist?
  • Sind die Therapie-/Coachingziele gut genug operationalisiert? (Etwa nach dem SMART-Schema: spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert)
  • Fühle ich mich für die Entscheidungen der/des Klient:in persönlich verantwortlich? Bin ich etwa enttäuscht, wenn ein Trennungsversuch scheitert?
  • Wo befinden wir uns auf der „therapeutischen Wippe“? Wird mein:e Klientin immer passiver, je aktiver ich werde?
  • Denke ich außerhalb der Sitzungen (zu) viel über den Fall nach?

Regelmäßige Super- und/oder Intervisionen können hier Abhilfe schaffen und sollten selbstverständlich sein.