Wie Paare in der Therapie eine neue Haltung finden

Zwischen Beruf, Kindern, Partnerschaft und den jeweils eigenen Bedürfnissen – viele Paare stecken in einem Spagat fest, der auf die Dauer schmerzhaft und nur schwer aushaltbar ist. Unsere Autorin Julia Schneider ist Paartherapeutin und hilft Paaren dabei, verschüttete Ressourcen und ihren ganz indiviuellen Lösunsgweg (wieder) zu finden. Ein Fallbeispiel. 

In der Akrobatik sind die sportlichen Leistungen auf den Ebenen Körper, Ausdauer und Koordination besonders anspruchsvoll. Die Paare, die ich in meiner Arbeit kennenlerne, sind Akrobatikkünstler*innen. Sie sind Liebespaare – oder waren es und wollen es wieder werden – und viele sind auch Eltern. Manchmal turnen sie in den Lüften der Freude; manchmal auf dem Boden der Tatsachen. So oder so fehlt oft ein Netz oder der doppelte Boden. Komplizierte Figuren und Überschlage gehören zu ihrem Leben.

„Im Großen und Ganzen geht es uns eigentlich gut!"

Die Paare, die ich als Paartherapeutin in meiner (Online-)Praxis kennenlerne, sind unterschiedlich. Jede*r Partner*in hat eine eigene Geschichte. Und dort, wo sich die Geschichten kreuzen, beginnt ihre gemeinsame Biografie. 

Es gibt einen Satz, der einige Paare verbindet: Im Großen und Ganzen geht es uns eigentlich gut!"Was sie damit meinen ist: Sie kommen finanziell ganz gut über die Runden, weil sie Jobs haben und berufliche Perspektiven. Sie haben ausreichend physischen Raum und leben in einer Wohnung oder einem Haus, in dem es oft chaotisch und meistens gemütlich ist. Sie haben einen Freundeskreis – oder auch mehrere. Sie finden aneinander Eigenschaften, die sie schätzen. Sie haben unzählige Möglichkeiten, ihre Beziehung zu gestalten – deutlich mehr als die eigenen Eltern, die vor Arbeit und Aufgaben nicht dazu kamen, mit irgendwelchen Möglichkeiten zu jonglieren. 

Aber wenn wir nicht auf das große Ganze schauen, sondern auf das blicken, was im Kleinen und hinter dem "eigentlich" steckt, dann wird manchmal sichtbar, dass es ihnen gar nicht gut geht. Da zeigt sich ein Dilemma, das gerade aus jenen Punkten besteht, die zur Annahme verleiten, dass doch alles gut sei, nämlich der Versuch, Job(s), Kinder, Haushalt, Familie und Freunde gemeinsam mit der Partnerschaft und den jeweils eigenen Bedürfnissen unter einen Hut zu bringen. So befinden sich viele Paare im Dauerspagat. 

Für manche Menschen war der Spagat eigentlich schon zu groß, bevor sie eine Familie gegründet haben. Aus bindungsdynamischer Sicht nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, dass sich durchaus häufig zwei Menschen zusammentun, die jeweils konträre Strategien nutzen, um Unsicherheit und Dysregulation zu bewältigen (z.B. Nähe suchen bzw. vermeiden). Dauerhaft im Spagat zu sitzen kann schmerzhaft werden und die Kräfte überstrapazieren und so übersehen wir manchmal, dass der Körper mit seinen Symptomen schon um Hilfe ruft. In der Paartherapie geht es darum, wie die Akrobatik des Lebens aussehen könnte, ohne dauerhaft Schmerzen zu verursachen.  

Individuelle Lösungen selbst entwerfen

Ich arbeite mit Paaren, die Verständnis füreinander entwickeln wollen. Sie wollen lernen, einander sein zu lassen, wie sie als Einzelpersonen sind, ohne dadurch selbst ins Wanken zu geraten. Viele Paare wollen weniger gegeneinander kämpfen. In der Paartherapie erproben sie neue, eigene Pfade über die schönen Felder und durch das stachelige Gestrüpp des Familienalltags. Und von dort aus schauen sie, ob und wie es gemeinsam einen Weg geben kann. 

Als Systemikerin gehe ich davon aus, dass es nur individuelle Lösungen geben kann, die nirgends vorformuliert sind, sondern selbst entworfen werden dürfen. Ich glaube, dass hierzu neben anderen Facetten manchmal auch gehört, dass wir akzeptieren, dass ein Spagat einfach ein Spagat ist – und bleibt. Manches ist dadurch eben nicht möglich.

Der Weg von Ina und Ramon 

Ina und Ramon* haben sich an einem Sommerabend bei einem Konzert kennengelernt, während sie an einem Getränkestand warteten. Sie kamen miteinander ins Gespräch und waren sich sofort sympathisch. Sie entschieden, das Konzert zusammen anzuhören. Dieser Abend war der Beginn ihres gemeinsamen Weges. Beide waren Anfang dreißig und hatten zu diesem Zeitpunkt jeweils Erfahrungen in früheren Beziehungen und ihrem Berufsfeld gesammelt. Sie waren sich schnell einig, dass sie eine dauerhafte Partnerschaft miteinander eingehen wollen und beide hatten den Wunsch, eine Familie zu gründen. 

Ihre erste gemeinsame Zeit beschreiben sie rückblickend als sehr schön – als eine Zeit, in der sie sich verbunden und lebendig fühlten. Ina bemerkte in dieser Anfangsphase, dass sie mehr Nähe zu Ramon sucht, als er zu ihr. Dies stimmte sie manchmal nachdenklich, sie wollte daraus aber „kein Problem“ machen und gleichzeitig war sie schließlich froh darüber, dass sie genug Raum hatte, ihr Leben weiterhin vielseitig zu gestalteten. Ramon gefiel es sehr, dass er in Ina eine Partnerin gefunden hatte, die ihn gerne in ihrer Nähe hatte, ihm aber auch seinen Freiraum ließ.

Sehr viel Zeit als Paar zu zweit haben sich Ina und Ramon nicht gelassen: nach einem Jahr wurde Ina schwanger. Die Schwangerschaft verlief mit einigen Komplikationen und das Paar war immer wieder in großer Sorge um das Baby. Mit dieser Herausforderung gingen Ina und Ramon auf verschiedene Weisen um: Ramon versuchte, sich von seinem Kummer abzulenken, während Ina sich gewünscht hätte, mehr mit ihm zu sprechen. Um ihn nicht zu belasten, zog sie es vor, sich mit ihrer Schwester über diese Sorgen auszutauschen. 

Nach der Geburt folgte die Desillusionierung

Ina brachte eine gesunde Tochter zu Welt. Nach der ersten Euphorie darüber, dass ihre Tochter gesund zur Welt kam, folgte bald eine Phase der Desillusionierung: Die neuen Aufgaben, mit denen sie sich unsicher fühlten, und die schlaflosen Nächte, zehrten massiv an ihren Kräften. Außerdem stellten sie fest, dass sie mit Baby ihre beruflichen Ziele nicht wie geplant weiterverfolgen konnten. Unter diesen Bedingungen zeigten sich ihre unterschiedlichen Bindungshaltungen deutlicher: Ramon versuchte die wenigen freien Zeitfenster zu nutzen, um „ganz für sich zu sein“. Ina wusste nicht, wo sie Halt finden sollte und fühlte sich zunehmend einsam in der Partnerschaft. Sie reagierte mit Vorwürfen und je mehr sie davon äußerte, desto mehr schrumpfte Ramons Interesse an Ina. Und so begegneten sie sich immer häufiger in einem Stressmodus, indem der Versuch „noch schnell ein paar offene Fragen zu klären“ immer wieder zu Streit führte. Es häuften sich Verletzungen, über die beide „einfach kein Gras mehr wachsen lassen“ konnten.

Als ihre Tochter drei Jahre alt war, beschäftigte das Paar zunehmend die Frage, wie es ihrer Tochter mit den Streitereien, die immer heftiger wurden, wohl ginge. Dies nahmen sie zum Anlass, eine Paartherapie zu beginnen und ich höre Ina während des ersten Termins sagen: „…eigentlich geht es uns gut“.

Ina und Ramon in der Paartherapie: Vom Turnen zum Tanzen

Zu Beginn der Therapie schauten wir uns an, wo Ina und Ramon als Paar standen und wo sie hinwollten: wieder ein Liebespaar werden – ein Liebespaar, das eine Atmosphäre schafft, in der ihre Tochter nicht „ständig zwischen die Fronten kommt“, sondern in der sie sich sicher und wohl fühlen kann. Wir warfen einen umfassenden Blick auf die Dinge, die sie als Eltern im Alltag leisteten und schauten uns die Ressourcen an, die ihnen zur Verfügung standen. Es zeigt sich ein deutliches Ungleichgewicht, das gemeinsam mit einigen anderen Aspekten zum oben beschriebenen Dauerspagat führte. Ina und Ramon fanden nach und nach einen neuen Rahmen für ihre Konflikte. Zu sehen, dass sie wahnsinnig viel leisteten und dass ihr Verhalten unter Ressourcenknappheit und Erschöpfung völlig normal war, führte zu einer ersten Entlastung. 

Im weiteren Therapieverlauf beschäftigten wir uns damit, wie Ina und Ramon mit ihren Bedürfnissen nach Nähe und nach Autonomie bisher umgegangen waren. Hier bot ich ihnen psychoedukativ die biologischen Grundlagen darüber an, wie wir uns als Paar bei Konflikten und mit aktiviertem Bindungssystem emotional in den Keller befördern können. Die Vorgänge in unserem Gehirn, die relevant beim Umgang mit Stress und der Entstehung von Streit sind, haben für viele Paare einen hohen entlastenden Wert. Sie zeigen, dass ihre Reaktionsweisen völlig normal sind. Ina wählte eine neue Sichtweise: dass Ramon sie mit seinem Verhalten nicht „absichtlich hängen lassen wollte“, sondern sich schützte. Ramon entfernte sich von der Überzeugung, dass Ina ihm „auf die Pelle rückte, um ihn mutwillig zu terrorisieren“. Er entwickelte die Idee, dass sie sich durch sein Verhalten ihrer sicheren Gebundenheit massiv bedroht fühlte. 

Mit diesem neuen Rahmen um ihre Konflikte begannen sie in der Paartherapie einerseits damit, Verantwortung für ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu übernehmen und andererseits ihre Ressourcen als Paar freizuschaufeln und ihre Partnerschaft wieder aktiv zu gestalten. Hier entdeckten sie auch die Musik wieder, mit der ihre Liebesgeschichte begonnen hatte. Diese integrierten sie als regulierende Ressource nach und nach immer mehr in ihren Alltag als Liebes- und Elternpaar, um weniger im Spagat festzusitzen und mehr zu tanzen. 

Kraft, Kreativität und Mut

Ich lerne von jedem Paar, mit dem ich arbeite und mich berühren die Kraft, die Kreativität und der Mut immer wieder zutiefst, mit denen viele Paare um eine Beziehung auf Augenhöhe ringen – als Liebespaar, als Elternpaar oder als Liebes- und Elternpaar. Dadurch bieten sie auch ihren Kindern Bindungssicherheit – immer wieder aufs Neue und jedes Paar auf seine eigene Weise.

* Anmerkung: Die Privatsphäre meiner Klient*innen bleibt geschützt. Ina und Ramon sind zwei fiktive Personen, die jedoch in ihrer Geschichte als Paar und ihrem Therapieprozess Aspekte zeigen, die viele Paare aus meiner Praxis in ähnlicher Weise erleben. Die Zuteilung der Bindungshaltungen zu Ina und Ramon habe ich dabei nach bestimmten Gesichtspunkten bewusst gewählt, sie könnten aber auch beim jeweils anderen Geschlecht vorkommen.