„Sich zu öffnen ist der größte Schutz“ – Interview mit Alina Gause
Alina Gause ist Diplom-Psychologin, Schauspielerin und bietet in Berlin eine spezielle Beratung für Künstlerinnen und Künstler an. Im Interview mit unserem Autor Manuel Lentz sprach sie über die Beratungsthemen ihres Metiers und darüber, wie man auch außerhalb der Kunst den eigenen Herzensangelegenheiten nachgehen kann.
Sie haben einen sehr einzigartigen Beruf und eine sehr einzigartige Klientel. Daher finde ich es spannend zu wissen: Wie werden Sie von den Menschen aufgefunden?
Ja, das finde ich auch total spannend (lacht). Ich mache keine Werbung oder lege Flyer aus. Ich hatte keine Ahnung, ob es einen Bedarf gibt, da es ein psychologisches Beratungsangebot in dem Format noch nicht gab. Es gibt viele Therapeuten, die mit Künstlern arbeiten, oder Künstlerinnen, die als Coachs andere Kunstschaffende coachen. Aber dass jemand die gesamte künstlerische Vita hat und sich dann gleichzeitig das gesamte Diplomstudium antut, kommt nicht so häufig vor. Mit der Zeit wurde mir dann klar: Es ist ein Riesenbedarf da.
Hätten Sie am Anfang Ihrer künstlerischen Karriere auch den Bedarf einer künstlerpsychologischen Therapeutin gehabt?
Mit 19 Jahren war ich die deutsche Vertretung bei einem weltweiten Festival, so einer Art Grand Prix. Wenn ich heute so zurückgucke, kann ich sehen, unter welchen Ängsten und welchem Druck ich da stand, ohne wirklich etwas zu besitzen, das ich dem als so junge Person entgegensetzen konnte. Ich war desorientiert und hatte ganze viele Selbstzweifel, obwohl ich sehr gut vorbereitet war. Zwei, drei gut platzierte Sätze hätten mich direkt runtergebracht: „Was bei dir abläuft, ist Folgendes: so und so. Bestimmte Aufregung gehört dazu.” Ich hätte die Situation genauer einordnen können und ein Gegenüber gehabt, um überhaupt mal zu sagen, was mir auf dem Herzen liegt. Die meisten um mich herum waren selbst hilflos oder nur daran interessiert, dass ich funktioniere.
Da stecken heutzutage die meisten in diesem Metier drin. Nur dass die meisten der Meinung sind, dass es an ihnen liegt, wenn irgendetwas nicht optimal läuft. Sie denken, sie seien nicht talentiert genug, nicht hart genug, nicht willensstark genug und schuld an der Situation. Das ist Quatsch. Durch bestimmte Situationen muss man durch, durch manche eben nicht. Das auch mal zu thematisieren, hilft. Konflikte in Produktionen, Selbstwertgeschichten, Ausrichtung der Karriere, Erwartungen – ich habe überall Bedarf gesehen: bei mir, bei den Kollegen, bei den Regisseurinnen.
Haben die aufkommenden und prominentesten Themen Ihrer Klienten in den letzten Jahren eine Änderung durchgemacht?
Es gibt da eine unglaubliche Scham und ein Für-sich-Behalten, wenn etwas nicht so läuft. Wobei es jetzt schon eine Tendenz zu mehr Offenheit gibt. Früher haben mich die Klienten auf Veranstaltungen teilweise nicht gegrüßt, weil sie Angst hatten, dass das andere sehen könnten. Heute ist es so, dass viele Klienten unsere Zusammenarbeit auf die Website nehmen. Es stellt sich immer mehr ein Bewusstsein dafür ein, dass Künstler an sich arbeiten sollten und dass es hilft. Es gibt Phasen im Leben, in denen es gut läuft, und manche, in denen es nicht so läuft. Ich kenne einige sehr prominente Beispiele, bei denen es über Jahre gut gelaufen ist und man sagen würde „Du hast ja ausgesorgt!” Mitnichten ist dem so. Es gibt eben lange, lange Phasen, in denen man nicht an den Erfolg anknüpfen kann, da er in Wellenbewegungen verläuft. Das muss man sich auch klarmachen.
Sie haben ein Buch geschrieben – „Kompass für Künstler” –, in dem kreative Menschen moralische und praktische Unterstützung für Alltag und Berufsleben finden. Welches Kapitel daraus liegt Ihnen persönlich am meisten am Herzen?
Unterschiedlich. Ich würde sagen „Die Achillesferse” ist das Kapitel, das mir persönlich am allernächsten ist. Das ist der Ursprung dessen, wie ich meine Arbeit mache. Dieses Komische und Ungewohnte, sich gleichzeitig zu öffnen und schützen zu müssen. Dieser Balanceakt ist spannend und fasziniert mich. Zum Beispiel habe ich hier eine Künstlerin, die am Anfang eine oberflächliche Version eines Gesangs darbot, weil sie dachte, sie müsste sich schützen. Nicht bewusst, sondern automatisch. Sie dachte sich: „Ich zeige nicht, was in mir drin ist.” Wenn sie sich aber jetzt wirklich öffnet und auspackt, ist sie viel geschützter. Sie steht viel kraftvoller da, macht sich aber komplett auf. Es ist eigentlich ein viel größerer Schutz, sich zu öffnen, als sich zu verstecken. Dies ist für mich ein spannender psychologischer Effekt.
Was können Nicht-Kunstschaffende aus Ihrem Buch mitnehmen?
Wenn man jetzt das Wort „künstlerisch“ ersetzt durch das Konzept des „Begeistertseins” oder „Herzensangelegenheit”, dann kann man das Buch eigentlich eins zu eins übernehmen. Ein zufriedenstellendes, ausbalanciertes Leben sollte etwas innehaben, für das man brennt, zum Beispiel Nachhaltigkeit, Familie, die Welt zu verstehen, Potenzial zu entwickeln. Der Prozess des Reflektierens und sich zu fragen: „Wo feuer ich wirklich?” Das kann der rote Faden in dieser unüberschaubaren Welt sein. […] Man sollte immer wieder zu sich zurückkommen und sich fragen, was einen wirklich begeistert – und diesem dann folgen. Natürlich ist es eine große Herausforderung, sich selbst bewusst zu werden. Dies ist mit der heutigen Welt, mit sozialen Medien und den Optionen und Meinungen, die man überall sieht, schwieriger geworden.
Was macht es für Menschen so interessant, diesen künstlerischen Lebensstil zu führen, ein Leben, dass eben nicht diesem typischen 9-bis-5-Gedanken unterliegt?
Zwei ganz große Pole, zwischen denen Künstler stehen, sind Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit siegt in der Regel als Bedürfnis. Dieses „Sich-entfalten-Können” regiert natürlich nicht alles, aber man ist doch bereit, wesentlich bescheidener und mit mehr Ängsten zu leben. Das Risiko des Absturzes ist natürlich hoch, aber wenn es funktioniert, ist es besser als alles andere. Das Gefühl, etwas im künstlerischen Bereich ins Ziel zu bringen, wird so schnell nicht getoppt. Künstlerinnen und Künstler suchen eben meist das Überdurchschnittliche, das Überdurchschnittliche an Können, Grenzauslotung und Erlebnis. Und das gibt es eben nicht in der Sicherheit.
Zum Weiterlesen:
Gause, A. (2017). Kompass für Künstler: Ein persönlicher Wegbegleiter für Kreative. Heidelberg: Springer.