Mutterschaft in Balance – Interview mit Annika Rötters

Als Mutter, selbstständige Beraterin und Dozentin hat Annika Rötters von psychotrainment einen abwechslungsreichen Alltag und steht täglich vor neuen Herausforderungen. Wie sie ihre Rolle als Mutter regelmäßig neu erfindet, als Beraterin andere Mütter darin unterstützt, in Balance zu kommen, und warum gegenseitige Unterstützung unter Eltern so wichtig ist, erzählt sie uns im Interview.

Annika, du bist Mutter und selbstständig. Wie gestaltest du deinen Alltag?

Die Selbstständigkeit ist eine große Hilfe, weil ich viel an meinen Alltag anpassen kann. Ich kann mir meine Termine zum Beispiel in die Zeiten legen, wo ich weiß, dass meine Tochter betreut oder der Papa da ist. Im Sommer kommt meine Tochter in die Schule, dann wird der Alltag noch mal strukturierter sein.

Sehen deine Arbeitswochen immer gleich aus?

Meine Termine sind eher flexibel. Ich arbeite viel mit Unternehmen und externen Auftraggebern und bin auch an verschiedenen Hochschulen als Dozentin tätig. Wenn das Semester läuft und die Veranstaltungen stattfinden, dann habe ich eine gewisse Wochenstruktur. Allerdings sind die Veranstaltungen gerade bei berufsbegleitend Studierenden auch eher unregelmäßig, am Wochenende oder abends... Eigentlich gucke ich jeden Morgen in meinen Kalender und werde davon überrascht, was heute so passiert (lacht).

Wie behältst du da als Mama, Dozentin und Coach für verschiedenste Zielgruppen den Überblick? Wie bekommst du alles unter einen Hut?

Die Frage geht ja davon aus, dass ich alles unter einen Hut bekomme (lacht). Häufig ist es ein Jonglieren. Mal geht es besser, mal schlechter. Jetzt aktuell habe ich die kommenden Wochen bewusst ein wenig ruhiger geplant. Ich würde sagen, das ist wie eine Sinus-Kurve: Manchmal kommen Phasen dazwischen, wo ich viel arbeite und alles auf einmal passiert. Dann muss auch mal der Papa mehr einspringen. Und dann gibt es Phasen, wo der Papa zum Beispiel mehrere Tage auf Geschäftsreise ist und ich alles etwas freier und ruhiger plane.

Hast du – damit die Selbstfürsorge nicht zu kurz kommt – Rituale oder Routinen für dich?

Ich habe keine festen Routinen. Das habe ich ausprobiert, aber für mich festgestellt, dass es für mich nicht funktioniert – auch wenn ich es in meinen Fortbildungen so gelernt habe: „Du hast ein Zeitfenster, da machst du dann jeden Tag das Gleiche“. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mir langweilig wird oder ob ich das Gefühl habe, dass es zusätzlicher Stress ist... Ich habe stattdessen viele verschiedene wechselnde Routinen. Aktuell probiere ich zum Beispiel, jeden Tag einen Spaziergang in meinen Tag zu integrieren, mindestens eine halbe bis dreiviertel Stunde und idealerweise im Wald.

Ein festes Ritual haben wir eigentlich nur als Familie. Abends legen wir uns gemeinsam hin und erzählen, was das schönste Erlebnis am heutigen Tag war. Falls das schwierig ist, überlegen wir, wie man das, was heute nicht so schön war, beim nächsten Mal anders machen kann. Damit gehen wir auf jeden Fall mit einem positiven Gefühl aus dem Tag.

Du hast viele Zielgruppen, mit denen du arbeitest. Unter anderem bietest du Beratung speziell für Mütter und den Kurs „Mutterschaft in Balance“ an. Wie kamst du zu der Idee?

Auf jeden Fall durch meine eigene Mutterschaft. Ich habe damals festgestellt, dass es ganz viele Angebote für Kinder gibt: PEKIP, Krabbelgruppe, Kinderschwimmen... für die Mütter ist das oft mit viel Stress verbunden, der Alltag wird bestimmt durch Termine – vor Ort ist dann oft kaum Zeit, um richtig ins Gespräch zu kommen mit anderen Eltern. Ich habe damals ganz bewusst gesagt, wir machen nur eine Sache und das reicht dann auch. Ich hätte mir stattdessen mehr Vernetzung mit Müttern in der Region gewünscht, wo es natürlich auch um die Kinder geht, aber eben zentral um die Mütter und die Veränderung, die so eine Mutterschaft mit sich bringt. Als meine Tochter etwa zwei Jahre alt wurde, war ich an einem Punkt, da habe ich die ersten Burnout-Anzeichen bei mir bemerkt und bin in die klassische Falle getappt zu denken, „Ich habe doch jetzt gar keinen Grund mich so zu fühlen“.

Was würdest du rückblickend sagen, waren die Punkte, die dazu geführt haben?

Das ist eine gute Frage (lacht). Ich glaube, das hatte viel mit der Neufindung in der neuen Rolle als Mama zu tun, die ich damals unterschätzt habe, weil man das so nebenbei macht. Gerade am Anfang entwickelt sich ein Baby wahnsinnig schnell. Gefühlt muss man sich als Mutter genauso schnell entwickeln wie das Baby.

Nur, dass man als Erwachsene nicht mehr ganz so flexibel ist...

Genau (lacht). Ich hatte letztens eine Mutter in Beratung, die sagte: „Ich habe doch kein Kind bekommen, um mich permanent selbst zu reflektieren.“ Das stimmt natürlich, aber es gehört dazu. Veränderung und Neufindung sind ganz zentral. Da ist es wichtig, sich genug Zeit und Ruhe zu geben, zu reflektieren und sich zu fragen „Wer bin ich jetzt?“, „Wie will ich überhaupt sein?“, „Welches Bild habe ich von mir?“, „Welches Bild habe ich von meinem Kind?“, „Was habe ich für einen Anspruch an mich als Mutter?“.

Die meisten Mütter – und da schließe ich mich ein – haben Ansprüche daran, wie sie sein wollen, weil wir aus der eigenen Kindheit wissen, was nicht so gut war und was wir alles anders machen wollen. Dann kommt mal so ein richtig blöder Tag und wir werden auf einmal doch zur Motz-Mama. Während wir schimpfen, geht die Stimme im Kopf los: „Du wolltest doch gar nicht schimpfen!“ Man schimpft innerlich mit sich selbst, während man mit dem Kind schimpft. Das ist ein Teufelskreis, den man immer wieder bewusst durchbrechen kann. Zum Beispiel, indem ich mir genau in dem Moment kurz Zeit nehme und mich frage: „Was sind meine Wertevorstellungen? Und wie passt das zu dem, was grade in meinem Leben passiert?“

Ich würde sagen, diese Zeit zum Reflektieren habe ich mir damals nicht genommen und auch unterschätzt, dass man dafür Zeit braucht. Und gleichzeitig: Hätte mir einer gesagt, dass ich mir Zeit für mich nehmen soll, hätte ich ihn zu diesem Zeitpunkt ausgelacht und gesagt: „Ja, wann denn!? Glaubst du, ich stehe eine halbe Stunde früher auf, um Zeit für mich zu haben? Ich habe ja eh schon Schlafmangel!“ Aber genau da ist der Punkt, um anzusetzen. Es muss keine halbe Stunde sein, die man früher aufsteht, sondern es sind oft ganz kleine Dinge, die man gut in den Alltag integrieren kann. Man kann halt nicht mehr Zeit schaffen, aber die Zeit, die man ohnehin hat, bewusst und achtsam nutzen: das Kind in das Tragetuch setzen und ganz achtsam spazieren gehen, jede Kleinigkeit, die ich tue, ganz bewusst tun. Manchmal kann es auch schon hilfreich sein, Alltagsdinge einfach mal in halbem Tempo zu machen – Schuhe anziehen, Baby wickeln, Wohnungstür abschließen, anschnallen im Auto… Natürlich ist es auch hilfreich, zu meditieren oder Traumreisen zu machen. Aber der erste Schritt darf ruhig ein „kleiner“ sein – es muss nicht direkt die halbstündige Meditation sein.

Zum Thema Erziehung hat ja gefühlt jeder eine Meinung. Wie können Eltern damit umgehen?

Die meisten Eltern haben ein Bauchgefühl, was grade für ihr Kind gut ist, was ihr Kind möglicherweise braucht und auch, was ihnen selbst gut täte. Manchmal hat aber jahrelange Erziehung dagegen gearbeitet, sodass viele Eltern sich mehr auf Glaubenssätze verlassen, als auf das eigene Bauchgefühl. Mir ist das auch bei medizinischem Fachpersonal begegnet, das zum Beispiel geraten hat, nicht nach Bedarf zu stillen, sondern nach der Uhrzeit. Auch wenn ich es eigentlich besser wusste, habe ich mich davon verunsichern lassen.

In der Entwicklungspsychologie gibt es im Lehrbuch die vier Erziehungsstile. Ich persönlich glaube, dass allein der Begriff der „Erziehung“ (genau betrachtet) nicht ganz unproblematisch ist, denn er geht davon aus, dass Kinder in irgendeiner Form „gezogen“ bzw. nach den Vorstellungen der Eltern geformt werden können. Das entspricht nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung. Es lassen sich sogar Hinweise darauf finden, dass bereits die fetale Aktivität mit der Persönlichkeitsentwicklung korreliert – dass Kinder also eigene Persönlichkeiten sind. Wenn wir davon ausgehen, dass Kinder bereits eigenständige Persönlichkeiten – also vollwertige Menschen – sind, für die nicht nur die Menschenrechte, sondern darüber hinaus auch die Kinderrechte gelten, müssen wir Erziehung bzw. Begleitung von Kindern neu denken. Hier kommt das „Empowerment“ von Eltern ins Spiel: Niemand kennt das eigene Kind so gut wie die Eltern. Es braucht weniger Ratschläge und mehr Raum für Individualität im jeweiligen Familienkontext. Da können wir Eltern stärken. Sie sind die Experten für ihre Kinder, sie spüren am besten, was ihre Kinder brauchen und was der Familie guttut.

Wie schafft man es, mehr auf das Bauchgefühl zu hören, bei all den Infos und Ratschlägen?

Ich war schon mal so weit zu sagen, einfach keine Infos mehr einzuholen (lacht). Aber das ist natürlich auch nicht die Lösung. Ich würde sagen, Bestärkung suchen. Einer der Schlüssel – und das sehe ich auch in meinem Kurs – liegt darin, Frauen kennenzulernen, die Kindern im selben Alter und dieselben Probleme haben. Wenn sie einmal anfangen, offen darüber zu sprechen, dass der Alltag als Mutter total anstrengend sein kann und, dass das Leben mit Kindern emotional herausfordernd ist, dann erkennen sie, dass sie mit dem Problem gar nicht alleine sind. Viele denken: „Nur bei mir klappt das nicht“. Auch in den sozialen Medien gibt es immer mehr Bewusstsein dafür, dass man nicht nur schöne Ecken mit Pastelltönen fotografiert, sondern das echte Leben – was selten nur aus Pastelltönen besteht.

Wir sprechen jetzt die ganze Zeit über Mütter. Kommen denn auch Väter in deine Beratung?

Grundsätzlich ist meine Beratung auch für Väter offen, aber es kommen eigentlich nur die Mütter.

Wie erklärst du dir das?

Vielleicht, weil ich auch eine Mama bin (lacht). Ich könnte mir vorstellen, dass Väter eher mit Väter-Angeboten klarkommen. Es kann natürlich auch einfach am Namen des Programms liegen: „Mutterschaft in Balance“. In meine Resilienzkurse kommen auch mehr Männer.

Wir haben viel über die Neufindung in die eigene Mutterrolle gesprochen. Würdest du sagen, dass du deine eigene Rolle als Mutter gefunden hast?

Ich würde sagen, ich bin dabei und es verändert sich stetig mit der Veränderung meines Kindes. Ich glaube, dass es viel mehr auf die Grundhaltung ankommt, als auf die konkrete Handlung. So oft sehen wir andere Eltern, die vielleicht in einer Notsituation sind und aus der Verzweiflung etwas machen, wo wir denken „Das würde ich nie tun!“. Idealerweise gehen wir dann reflektiert zurück in die Zeit, bevor wir Kinder hatten, und denken an all das, was wir selbst alles nie machen wollten. Viele sagen zum Beispiel: „Wenn ich mal Kinder habe, dann gibt es kein Tablet oder Fernsehen“, aber dann bekommen die Leute Kinder und stellen fest, so ganz ohne ist es im digitalen Zeitalter auch schwierig (lacht).

Meine Grundhaltung habe ich gefunden und da hat sich nicht mehr viel dran geändert. Aber die konkreten Herausforderungen im Alltag verändern sich mit der Entwicklung meines Kindes und dafür brauche ich manchmal auch konkrete Handlungsmuster, wie ich damit umgehen kann. Auch hier hilft mir wieder, mich kurz aus der jeweiligen Situation zu nehmen und mich bewusst zu fragen „Was sind meine Optionen? Was kann ich tun?“. Oft gibt es einen ersten Impuls, den man möglicherweise noch von der eigenen Erziehung her kennt. Ich versuche, diesen bewusst zurückzustellen. Später kümmere ich mich dann auch um diesen Anteil des inneren Kindes in mir, der möglicherweise verletzt ist, weil man selbst als Kind vielleicht angeschrien oder ins Zimmer gesperrt wurde. Aber jetzt steht da ein anderes Kind vor mir und mein Kind darf es anders erleben. Es gibt natürlich trotzdem viele Situationen, in denen ich hinterher denke: „Wie habe ich da nur reagiert?“. Als Mutter ist man nie perfekt und ich finde es wichtig, dass wir uns als Eltern auch bei unseren Kindern entschuldigen können, wenn wir mal falsch reagiert haben. Der Glaubenssatz, dass nur eine „perfekte Mutter gut genug“ sei bzw. Eltern unfehlbar sein müssen, ist toxisch für eine gute Eltern-Kind-Beziehung. Ich arbeite gerne mit dem Bild der „Mutter, die gut genug ist“ – auch bekannt als die „good enough mother“.

Wenn du einen Wunsch frei hättest: Was sollte sich für Mütter und Väter in Zukunft ändern?

Ich würde mir wünschen, dass Eltern besser darin werden, sich gegenseitig zu unterstützen. Es gibt rückblickend viele Angebote, die das Ziel haben, Eltern miteinander in Kontakt zu bringen. Vielleicht könnte das stärker betont werden.

Vielen Dank für das schöne Interview!