Die Arbeit mit dem inneren Kind – Interview mit Stefanie Stahl

Das innere Kind begleitet und beeinflusst uns bis ins hohe Alter. (Foto: Johannes Plenio - Pexels)

Wann hast du dich das letzte Mal mit deinem inneren Kind auseinandergesetzt? Durch ihre Bücher hat die Psychologin, Psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl zahlreiche Menschen erreicht. Ihre Methoden sind ansprechend, weil sie simpel sind. Im psylife-Interview erzählt sie uns mehr über das innere Kind und ihre therapeutische Arbeit. Ein Plädoyer dafür, dass weniger oft mehr ist.

Frau Stahl, wofür steht das innere Kind in Ihrer Arbeit? 

Das innere Kind ist die Summe aller Kindheitsprägungen, die als unbewusste Muster wirken. In der Schematherapie oder beim inneren Team von Schulz von Thun gibt es sehr viele Instanzen, wodurch diese Modelle sehr kompliziert werden. Meine Erfahrung ist, dass die Leute schnell aussteigen, wenn es zu fummelig wird. Eigentlich reichen drei Instanzen aus: das Schattenkind, als Symbol für die negativen Kindheitsprägungen; das Sonnenkind, als Symbol für die positiven Prägungen und für alles, was wir uns heute als Erwachsene selbst neu gestalten können; und der innere Erwachsene, als Symbol für den Verstand und die Vernunft. Diese drei Instanzen sind in ihrer Symbolik für die Menschen wahnsinnig ansprechend, sodass sie dazu einen guten Draht entwickeln können.  

Psychologin, Psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl (© Roswitha Kaster)

Warum glauben Sie, arbeiten andere Modelle mit so vielen Instanzen? 

In der Schematherapie gibt es viele verschiedene innere Kinder: das verletzte, das wütende, das glückliche Kind... Brauchen tut man die nicht. Ein ganzer Kindergarten ist zu kompliziert. Der Betroffene weiß ja, was er meint, wenn er an seine Kindheit und seine Glaubenssätze denkt. Es geht darum, dass man sein Muster erkennt, dieses klar vor Augen hat und dazu in den reflektierten Abstand kommt. Dafür reicht als Symbol dieses eine Kind.

Meine Erfahrung ist auch, dass man mit den Klienten nicht in die letzten Provinzen ihrer Seelenlandschaft reisen muss, um alles aufzuarbeiten. Es reicht, wenn man den roten Faden hat. Jedes Kindheitserlebnis aufzuarbeiten, hat sich mittlerweile von der Hirnforschung als gar nicht günstig erwiesen, weil man damit die neuronalen Verknüpfungsmuster immer wieder bahnt und den Weg noch breiter baut. Das ist also ein altes Paradigma. Meine Erfahrung ist, dass es reicht, wenn man den roten Faden hat. Man muss das Grundthema kennen. Die eigene Kindheit war zum Beispiel ziemlich lieblos und daher kommt meine innere Prägung, dass ich nicht genüge und nicht liebenswert bin. Der Rest ist nur noch Variation. Durch diese Brille sehe ich die Welt. Durch diese Brille sehe ich zwischenmenschliche Beziehungen. Für die Klienten ist das eine dankbare Geschichte, weil es klar und handhabbar ist und sie sich damit gut auseinandersetzen können.  

Der rote Faden: Für Stefanie Stahl ein Symbol dafür, dass Orientierung auch einfach zugänglich sein darf. (Foto: MW - Pixabay.com)

Es geht also darum, im Hier und Jetzt mitzubekommen, wo der rote Faden ist, um als Erwachsener andere Lösungen zu finden?

Ja, der erste Schritt ist, mein Schattenkind kennenzulernen, also zu sehen, was meine Prägung ist und welche Gefühle und Glaubenssätze daraus resultieren. Danach weiß ich: Das ist mein Grundmuster. Das ist die Essenz. Es ist so wichtig, die Grundstruktur zu kennen. Meines Erachtens gibt es nur drei wirklich wichtige Themen in der Psychotherapie: Bindung, Autonomie und Selbstwertgefühl. Damit lässt sich jedes Problem verstehen.  

Dann geht es darum, im Alltag immer wieder zu trainieren, dass man sich ertappt, wenn man im alten Modus ist, um dann auf das erwachsene Ich umschalten zu können, in die Beobachterposition zu gehen und Selbstregulation zu betreiben. Das funktioniert gut bei allen sogenannten mittleren Neurosen. Ich sage immer, meine Bücher sind Hilfe zur Selbsttherapie für alle Normalgestörten. Für schwer traumatisierte Menschen und Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder schweren Depressionen eignet sich das eher nicht. Aber für Beziehungs- und Selbstwertprobleme ist das Konzept wahnsinnig tauglich.  

Wer sein „Schattenkind“ kennt, dem fällt es leichter, seine Glaubenssätze wahrzunehmen und sie in etwas Positives zu transformieren. (Foto: Matheus Bertelli - Pexels.com)

Ab wann sollte die Arbeit am inneren Kind therapeutisch begleitet werden?

Ich bin erstaunt, wie viele Menschen das in Selbstarbeit schaffen, wenn sie motiviert sind, weil es eben so handhabbar ist. Therapeutische Begleitung ist gut bei Leuten, die sich das selbst nicht zutrauen oder die viel Belastendes erlebt haben, wo viele starke Gefühle hochkommen, die man alleine schlecht aushalten kann. Therapeutische Begleitung ist auch immer sinnvoll bei Leuten, denen es schwer fällt, auf diese Art und Weise über sich selbst nachzudenken. Das kann nicht jeder. Dazu braucht man auch eine Menge psychisch gesunder Anteile. 
 

Wie würde man da methodisch drangehen?  

Es geht darum, alte Überzeugungen zu erkennen und ein Verständnis für die Willkürlichkeit dieser Prägungen zu bekommen: selbstabwertende Glaubenssätze sind ein willkürliches Ergebnis meiner Erziehung. Diese Sätze stellen eher ein Zeugnis für meine Eltern aus, als für mich. Diese glasklare, auch verstandesgeleitete Einsicht, dass das, was passiert ist, zufällig war. Andere Eltern, andere Glaubenssätze.  

Als nächstes geht es um Selbstannahme und Selbstmitgefühl. In meinem Konzept kommt die Selbstannahme über das Sonnenkind und die positiven Glaubenssätze: „Ich bin ok.“, „Ich bin wertvoll“. Die Kernglaubenssätze werden im Sonnenkind systematisch umgearbeitet. Auch da ist es sinnvoll, zu reduzieren. Wenn jemand zehn Glaubenssätze für sich gefunden hat, dann reduzieren wir das auf maximal drei Kernglaubenssätze, die wir dann durcharbeiten. Auch da gibt es nicht viele Variationen, denn viele Glaubenssätze haben hohe Schnittmengen.  

Es ist auch wichtig, die Schutzstrategien zu verstehen, also die dysfunktionalen Verhaltensweisen wie Perfektionsstreben oder Rückzug, die entstehen, um das labile Selbstwertgefühl zu kompensieren. Die werden im Sonnenkind dann zu Schatzstrategien, also zu funktionalen Verhaltensweisen, übersetzt. Wenn ich mich nicht mehr zurückziehe und schweige, was mache ich dann? Somit haben wir im Sonnenkind einen ganz klaren Zielentwurf, eine klare Vision. Es ist bekannt, dass es viel leichter ist, ein altes Muster aufzugeben, wenn man stattdessen etwas Neues hat. Das Sonnenkind hat etwas unglaublich ansprechendes. Es berührt ganz viele Menschen und hat eine große motivationale Kraft.  

Das „Sonnenkind“ steht für die große Vielfalt neuer Möglichkeiten und Ressourcen, die anstelle des „Schattenkindes“ belebt werden können. (Foto: Fröken Fokus - Pexels.com)

Welche Rolle spielt die Achtsamkeit in diesem Prozess? 

Es ist auf jeden Fall wichtig, dass man selbstaufmerksam ist. Deswegen spielen die Gefühle im Schattenkind eine große Rolle. Sie kommen am schnellsten ins Bewusstsein und man kann an ihnen am schnellsten merken, dass man in ein altes Muster fällt. Wenn die alte Angst wieder da ist. Wenn der Trotz oder die Trauer wieder hochkommen. Das muss man bemerken.
 

Woran erkenne ich „alte Gefühle“? 

Meistens erkennt man das alte Gefühl daran, dass es einen schon lange begleitet. Es ist ein ganz vertrautes Gefühl. Die meisten Klienten können einen Zusammenhang zu Erinnerungen und Erlebnissen herstellen. Ich frage zum Beispiel: „Ist das ein Gefühl, das Sie schon kennen?“ Und dann kommt oft die Antwort: „Klar, das kenne ich schon ewig.“ Als nächstes frage ich: „Können wir das in irgendeinen Zusammenhang mit Ihrer Kindheit bringen?“  

Ein Problem besteht bei Klienten, die wenig Zugang zu ihren Gefühlen haben, die schon früh gelernt haben, wenig zu fühlen und sich anderen anzupassen. Da braucht es manchmal noch ein Stückchen therapeutische Arbeit, um diesen Zugang zu den Gefühlen wieder freizulegen.  

Zugang zu seinen Gefühlen zu bekommen, erfordert manchmal therapeutische Unterstützung (Foto: Mikoto Raw - Pexels.com)

Ist es denn Ihrer Meinung nach überhaupt möglich, therapeutisch zu arbeiten, ohne das innere Kind in den Blick zu nehmen?

Man kann auf jeden Fall andere Begriffe dafür verwenden, z.B. „Das ist ein altes Muster von Ihnen.“ Aber eine Psychotherapie, in welcher der Klient nicht schon in den ersten Stunden versteht, was sein altes Muster ist, aus dem heraus er agiert, kann schwer funktionieren. Dieses Verständnis muss da sein! Es geht letztendlich darum, durch welche Brille man die Welt sieht. Was ist meine persönliche Interpretation der Wirklichkeit? Zu diesen Interpretationen muss ich, wenn sie dysfunktional sind, einen Abstand gewinnen bzw. sie durch funktionale Interpretationen ersetzen. Wenn ich nicht schnalle, auf welche Art und Weise ich die Realität wahrnehme, dann ist es schwierig. Immer nur über viele Gespräche hinweg in Gefühlen rumzudümpeln, bringt meines Erachtens nach nichts. Einige Psychotherapien sind deswegen auch nicht so erfolgreich. Bei mir kriegen die Klienten den roten Faden schon in der ersten Therapiestunde.  

"Alte Muster", "Brille" oder "inneres Kind" - es gibt viele Begriffe für das, worauf dysfunktionales Verhalten aufbaut. (Foto: Rene Asmussen – Pexels.com)

Wie finden Sie den roten Faden so schnell, wenn es in den ersten Stunden ja auch oft noch viel um Organisatorisches, Beziehungsaufbau und Diagnostik geht? 

Ich bin da nicht so kompliziert. Meine erste Frage ist eigentlich fast immer: „Was bereitet Ihnen Kummer?“ Dann erzählen die Klienten und ich höre zu. Manchmal frage ich nach. So höre ich, was das Muster ist, und erkenne, warum sie im Leben auf der Stelle treten; wo das Problem ist. Es geht immer nur um diese Grundstrukturen. Wenn man sich angewöhnt in Bindung, Autonomie und Selbstwert zu denken, dann findet man den roten Faden schnell. 
 

Inwieweit sollten sich Psychotherapeuten selbst mit ihrem inneren Kind auseinandersetzen?

Unbedingt! Ein Therapeut, der nicht selbst reflektiert, braucht die Stunde gar nicht erst anzufangen. Ich halte die Selbstreflexion sogar für noch wichtiger als die Ausbildung. Es gibt Menschen, die sehr selbstreflektiert sind und ein gutes Gespür haben, die zum Teil besser beraten können als ein unreflektierter Therapeut, der tausend Ausbildungen hat. Wenn ich nicht selbstreflektiert bin, mache ich genau das mit meinen Klienten, was ich versuche, ihnen abzugewöhnen, zum Beispiel den Klienten durch die Brille meines Schattenkindes zu sehen. Davon können wir uns natürlich nicht völlig frei machen. Keiner von uns ist wirklich objektiv. Aber diese Wahrnehmungsfehler sollten möglichst klein gehalten werden.  

Man sollte sich stets hinterfragen, reflektieren, den eigenen Motiven und Ängsten auf die Schliche kommen und die eigenen Prägungen verstehen.  

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Weitere Informationen zu Stefanie Stahl findest du auf www.stefaniestahl.de