Anatomie von Veränderungen: Warum es wichtig ist, den Krankheitsgewinn mit in den Blick zu nehmen
Das eigene Verhalten zu verändern, ist schwierig. Selbst wenn der Leidensdruck hoch ist, gelingt es oft nicht, nachhaltige Veränderungen zu etablieren. Aber warum ist das so? Und wie kannst du als Therapeut oder Coach Veränderungsprozesse besser begleiten? Dieser Frage ist unser Autor Christian Ambach nachgegangen.
Wer heute durch eine Buchhandlung schlendert, kann schnell den Eindruck gewinnen, dass des Menschen stärkste Sehnsucht der Wunsch nach Veränderung ist. Die mit Abstand größte Abteilung – außerhalb der Belletristik – stellt die Ratgeberliteratur dar. Es gibt kaum ein Thema, das nicht mit einer großen Auswahl an Ratgebern und ebenso vielen Patentrezepten Menschen dabei helfen will, etwas - oder sich - zu verändern.
Tatsächlich kenne ich auch kaum jemanden, der nicht gerne „etwas“ ändern würde. Im persönlichen Bereich sind z.B. Übergewicht und Rauchen die Dauerbrenner. Ich bin mir sicher, dass auch in deiner Praxis – sei es als Therapeut, Coach oder Berater – diese Themen häufig auf der Wunschliste der Klienten stehen.
Auf den ersten Blick wirkt es paradox: die Gesundheitsgefahren des Rauchens und Übergewichts sind wohl bekannt. So sind in den USA z.B. die Hälfte aller Todesfälle auf ungesunde Verhaltensweisen (Rauchen, zu wenig Bewegung, ungesundes Essen, Alkohol) zurückzuführen (Mokad, Markes, Stroup & Gerberding, 2004). Offenbar ist das Ändern von Gewohnheiten so schwer, dass eine hohe Anzahl von Menschen eine deutliche Reduktion der Lebenszeit in Kauf nimmt.
Wir alle wissen, wie schwer echte und nachhaltige (Verhaltens-)änderung ist. Hand auf‘s Herz: Wie hoch ist die reale Erfolgsquote bei unseren Klienten? Natürlich erinnern wir uns gerne an die Erfolgreichen, aber unterliegen wir dabei nicht dem Survivorship-Bias? Machen wir eine Nachhaltigkeitskontrolle und schauen, ob die Verhaltensänderung bei unseren Klienten auch die magische 5-Jahres-Schwelle überstanden hat?
Veränderungen sind eine große Herausforderung
Schwierige Prozesse, hohe Rückfallquoten und eine ständige Herausforderung, das Erreichte zu sichern – so könnte man die Moderation von Verhaltensänderungen beschreiben. Aus der Forschung kommen nur wenig neue Impulse. Grundliegende Handlungsmodelle, wie z.B. das Rubikon-Modell, sind zwar immer noch Teil theoretischer Arbeiten, werden aber in der Praxis kaum als Basis verwendet. Die Planung, Prognose und Analyse von Veränderungsprozessen bleibt die große Herausforderung.
Die ersten systematischen Übersichtsarbeiten zum Thema Verhaltensveränderung stammen von Michie (2008) und enthalten den Versuch, eine Übersicht zwischen Modellen der Verhaltenstherapien und speziellen Interventionstechniken bei gleichzeitiger Analyse der Wirkfaktoren zu erstellen. Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass bei der Durchführung der Interventionen nur eine geringe Protokolltreue zu verzeichnen ist, was auf eine hohe individuelle Komponente seitens der Therapeuten schließen lässt. Auch die (Meta)-Folgestudie von 2011, bei der mehr als 1.200 Studien evaluiert wurden, zeigte, dass sich kein einheitlicher Standard etablieren konnte. Viele Konzepte waren nicht kohärent oder basierten nicht auf einem bekannten Verhaltensmodell.
Eine neue Sichtweise – das Signum-Modell
Ein praxisnahes Modell muss sowohl einfach in der Anwendung sein als auch von Nutzen in der Planung, Analyse und Prognose von Veränderungsprozessen. Um diese Anforderungen zu erfüllen, müssen wir noch weitere Faktoren in die Betrachtung aufnehmen, ohne jedoch die Komplexität zu stark zu erhöhen.
Als Ergebnis eigener Forschungsarbeiten, insbesondere bei der Analyse fehlgeschlagener Veränderungsprozesse, entstand ein Konzept, das im Folgenden unter dem Arbeitstitel „Signum-Modell“ kurz beschrieben wird. Im Signum-Modell werden die Einflussfaktoren „Leidensdruck“ (Wunsch oder Motivation, den Ist-Zustand zu verändern), „Krankheitsgewinn“ (Gründe den Status Quo beizubehalten) und die „Methodenkompetenz“ (Wissen um die Art der notwendigen Veränderungen) miteinander ins Verhältnis gebracht.
Der besondere Charme des Modells besteht nicht nur in der geringen Zahl von Parametern, sondern auch darin, die Zusammenhänge als einfache mathematische Formel darzustellen:
oder auch: Veränderung = sgn(Leidensdruck – Krankheitsgewinn) * Methodenkompetenz.
Die besondere Dynamik von Veränderungsprozessen wird dabei durch die Signum-Funktion (sgn) abgebildet. Sie sorgt dafür, dass der Term nur dann ein positives Ergebnis liefert, wenn der Leidensdruck den Krankheitsgewinn überschreitet. Erst in diesem Fall kann die Methodenkompetenz zum Ergebnis beitragen. Eine Situation, die jeder Therapeut, Coach oder Berater schon häufig erlebt hat: Die Aufklärung oder Psychoedukation wird erst dann wirksam, wenn sich das Verhältnis von Leidensdruck bzw. Motivation und Krankheitsgewinn austariert hat. Ist dies nicht der Fall, bringt Psychoedukation keinerlei Fortschritt.
Die verschiedenen Rollen der Professionen im Veränderungsprozess
Die Formel macht die Rollen der verschiedenen Professionen im Änderungsprozess deutlich. Bleiben wir dafür bei dem Beispiel Gewichtsreduktion. Methodenkompetenz würde in diesem Kontext wahrscheinlich mit der Hilfe von Ernährungsberatern und/oder Fitnesstrainern hergestellt. Der Leidensdruck wäre typischerweise von einem „Motivationstrainer“ abzudecken, der die Veränderungsbereitschaft befeuern soll. In vielen Fällen sind damit alle beteiligten Rollen bereits genannt. Eine genaue Analyse des Krankheitsgewinns, z.B. durch einen Psychologen, findet eher selten in Kombination mit den anderen Faktoren statt. Bei einer therapeutischen Begleitung spielt dagegen häufig die konkrete Methodenkompetenz (z.B. Ernährungsberatung) eine untergeordnete Rolle.
Anwendungsbeispiel: Reduktion von Übergewicht
Wie könnte ein gut moderierter Veränderungsprozess, z.B. beim Wunsch nach Gewichtsreduktion, konkret aussehen? Zunächst ist dafür zu sorgen, dass alle Einflussfaktoren (Leidensdruck, Krankheitsgewinn, Methodenkompetenz) berücksichtigt werden. Ob dies mit einem einzigen Berater oder eher mit einem Team zu bewerkstelligen ist, hängt natürlich sehr von der Qualifikation des jeweiligen Coaches ab. In der Reihenfolge sind zunächst Leidensdruck und Krankheitsgewinn ausführlich zu evaluieren. In unserem Beispiel könnten hinter dem Leidensdruck z.B. konkrete gesundheitliche Einschränkungen stehen oder auch schlicht der Wunsch, wieder in alte geliebte Kleidungstücke zu passen. Beim Krankheitsgewinn finden sich in diesem Kontext typischerweise Kompensationshandlungen und soziale Verstärker, wie z.B. Essen als Trost. Beide Faktoren müssen möglichst detailliert betrachtet werden.
Zeigt sich, dass der häufig versteckte und unbewusste Krankheitsgewinn nicht ausreichend bewusst geworden ist, sollte hieran zunächst weitergearbeitet werden. Gerade bei der Analyse des Krankheitsgewinns erlebt man oft Überraschungen. Nach und nach treten Motive und Zusammenhänge ans Tageslicht, die bisher in der Betrachtung keinerlei Beachtung fanden, ja häufig sogar für den Klienten völlig unbewusst abliefen, aber nichtsdestotrotz von enormer Wichtigkeit sind.
An dieser Stelle ist jedoch auch Vorsicht angebracht: Das Offenlegen der Gründe, die bisher eine effektive Verhaltensänderung verhindert haben, kann für den Klienten stark belastend sein. Es erfordert in jedem Fall eine entsprechende Ausbildung und Erfahrung, um den Klienten sicher durch diesen Prozessschritt zu bringen.
Individuelles Rating der Einflussfaktoren und hohe Klientenbeteiligung
Bereits in dieser Phase arbeiten Klient und Coach beim Rating der Faktoren zusammen. Dabei wird typischerweise vor der Detailanalyse ein Rating vorgenommen, das dann – z.B. nach der genauen Betrachtung des Faktors „Krankheitsgewinn“ – noch einmal aktualisiert wird.
Für das Rating der einzelnen Einflussfaktoren empfiehlt sich der Einsatz einer visuellen Skala, wie sie auch bei Schmerzpatienten verwendet wird. Die absolute Messhöhe bleibt dabei individuell, ermöglicht aber einen intrapersonalen Vergleich. Dabei kann die Skala auch am Ergebnis geeicht werden, d.h. ein fehlgeschlagener Änderungsversuch deutet auf zu geringe Werte in einer Kategorie hin. Schon nach wenigen Durchläufen kann der Patient selbst Problemquellen bestimmen und das Bewerten der Einflussfaktoren vornehmen. Die Beteiligung des Klienten bei der Analyse ist ein wichtiger Baustein des Modells. Sie ermöglicht ein kontinuierliches Monitoring durch den Klienten selbst und erhöht damit die Nachhaltigkeit der angestrebten Veränderung enorm. Der Einsatz von individuellen Skalen zur Bewertung erleichtert sowohl dem Coach als auch dem Klienten den Umgang mit den Einflussgrößen.
Erst danach beginnt die Psychoedukation zum Aufbau der Methodenkompetenz. Der Schlüssel zum Erfolg liegt beim Signum-Modell ganz deutlich in der klaren und ehrlichen Analyse des Krankheitsgewinns und deren Gewichtung zur Änderungsmotivation.
Keine Beschränkungen bei der Auswahl der Interventionen
Die Moderation des eigentlichen Veränderungsprozesses erfolgt dann, wie gewohnt, über Interventionen, mit dem Unterschied, dass kein „Gegendruck“ von verborgenen Einflussfaktoren zu erwarten ist.
Durch den generischen Charakter des Modells ist der Coach oder Therapeut nicht in der Auswahl der konkreten Interventionstechniken beschränkt. Eine größere Umstellung oder Anpassung der bisherigen Arbeitstechniken entfällt. Der Moderator des Veränderungsprozesses gewinnt lediglich ein Werkzeug zur Planung, Beobachtung und Analyse hinzu. Schon nach wenigen Wochen mit dem neuen Handlungsmodell erschien mir die Herangehensweise deutlich einfacher und die Erfolgsquote höher. Das Signum-Modell führt aber nicht nur zu einer neuen Sichtweise. Es öffnet auch die Tür für ein deutlich besseres Verständnis des Klienten. Eine ganz neue Art der Coach-Klienten-Allianz.
Literatur
Michie, S., Hardeman, W., Fanshawe, W., Prevost, T., Taylor, L. & Kinmonth, A. (2008). Investigating theoretical explanations for behaviour change: The case study of ProActive, Psychology & Health, 23:1, 25-39.
Michie, S. et al. (2011): The behaviour change wheel: A new method for characterising and designing behaviour change interventions. Implementation Science, 6:42.
Mokdad, A., Marks, J., Stroup, D & Gerberding, J. (2004). Actual Causes of Death in the United States, 2000. JAMA, 291(10), 1238–1245.