Anzeige, Schweigepflicht, Prozess: So begleitest du gewaltbetroffene Frauen

Eine Frau sitzt jemandem an einem Tisch gegenüber, auf dem Tisch steht eine Justizia-Figur

Ob gewaltbetroffene Frauen Anzeige erstatten oder nicht, ist eine äußerst individuelle Entscheidung, die von zahlreichen Faktoren abhängt. Was kannst du einer Klientin raten, wenn sie dich fragt, wie sie sich entscheiden soll? Wie verhält es sich mit der Schweigepflicht? Und was käme im Falle eines Prozesses auf die Klientin zu? Das erklärt Rechtsanwältin Christina Clemm, die seit fast 30 Jahren Gewaltopfer vertritt. 

Frau Clemm, gibt es eine Anzeigepflicht, wenn mir eine Frau von Gewalt berichtet?

Nein, Sie haben eine berufliche Schweigepflicht. Dritten gegenüber dürfen Sie sich nur äußern, wenn die Klientin Sie davon entbindet. Wenn Sie dagegen verstoßen, ist dies grundsätzlich strafbewährt. Aber wenn Sie ernsthaft davon ausgehen, Ihre Klientin oder andere sind in akuter Gefahr, kann ein rechtfertigender Notstand vorliegen, was Sie straffrei lässt. Nur wenn Sie davon ausgehen, dass Sie Kenntnis von einem bevorstehenden Verbrechen, wie einem Anschlag oder Tötungsdelikt, haben, müssen Sie Strafanzeige erstatten. Für vergangene Taten gibt es keine Anzeigepflicht, Sie müssen nicht zu deren Strafverfolgung beitragen.

Muss ich solche Berichte oder einen Verdacht dokumentieren?

Neben der allgemeinen Dokumentationspflicht besteht keine Pflicht. Wichtig ist stets klarzustellen, dass sich das, was Sie erfahren, von den Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden unterscheiden kann. Denn Therapeut:innen haben einen anderen Fokus als Polizei und Staatsanwaltschaft. Sie sprechen über das, was die Tat mit der Klientin gemacht hat, wie es ihr geht, was sie tun kann, um damit weiterzuleben. Der Strafverfolgung hingegen geht es um konkrete, detaillierte Schilderungen der Tat. Es können also manchmal angebliche Widersprüche auftauchen und deshalb ist es wichtig, dass Sie dies ggf. bei einer Stellungnahme klarstellen und eher darauf fokussieren, wie Ihnen berichtet wurde, ob Sie eine Belastung wahrgenommen haben, welche Diagnosen Sie stellen. 

Eine Frau hockt in sich zusammengesackt auf einem Sofa in einem Therapiezimmer, ihr gegenüber sitzt eine Person, die Unterlagen ausfüllt.

Die Polizei könnte mich auch als Zeug:in befragen.

Sie sind immer Zeug:in, wenn Ihnen etwas berichtet wird. Ermittlungsbehörden haben grundsätzlich Interesse, Therapeut:innen anzuhören, wenn die Zeugin in Therapie ist. Viele lehnen die Aussage ab, weil sie sich negativ auf das Vertrauensverhältnis auswirken und den therapeutischen Prozess gefährden kann. Wenn die Klientin Sie nicht von der Schweigepflicht entbindet, hat sich die Aussage ohnehin erledigt. Ob Sie aussagen oder nicht, gilt es – am besten mit der Klientin – gut abzuwägen.

Wie reagiere ich, wenn mich eine Klientin fragt, ob sie Anzeige erstatten soll?

Das ist eine komplexe Frage, die nur wohlinformiert von der Klientin selbst beantwortet werden kann. Ich rate, die Nummer des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ zur Hand haben. Das bietet Betroffenen und Ihnen unter der Nummer 116 016 kostenlose, anonyme Beratung. Es werden Beratungsstellen in der Nähe empfohlen, die Ihrer Klientin individuell durch kompetente Anwält:innen weiterhelfen können.

In welchen Fällen ist es sinnvoll Anzeige zu erstatten? Wann nicht?

Das ist super individuell. Da spielen Faktoren hinein wie der Zustand der Klientin, der Zeitpunkt, die Einmaligkeit oder Wiederholung einer Tat, die Gewaltform, die Dokumentation von Taten, besteht eine andere Möglichkeit zur Einigung, gibt es inkludierte Kinder, läuft parallel ein familiengerichtliches Verfahren, kann ich Ansprüche wie Opferentschädigung geltend machen, wie aussichtsreich wäre ein Verfahren, wie lange würde es dauern, wie gefährlich wäre es für die Klientin, …

Anzeige zu erstatten kann Gefahr für die Klientin bedeuten?

Der Täter erfährt immer davon und könnte versuchen, sie zu bestrafen oder „mundtot“ zu machen. Andererseits kann es Gefahr bedeuten, nicht Anzeige zu erstatten. Wenn Täter wissen, dass sich ein Opfer Dritten anvertraut hat, sich sogar strafrechtlich wehrt, kann es das Leben der Klientin schützen. Das und viel mehr gilt es individuell abzuwägen. Einer Klientin muss von professionellen Rechtsberatenden ausführlich erklärt werden, was es bedeutet, Anzeige zu erstatten. Eine gewaltgefährdete und/oder schwer traumatisierte Klientin muss – soweit absehbar – wissen, was auf sie zukäme. Denn eine erneute akute Belastungsreaktion, Retraumatisierung und Stigmatisierung mit negativen sozialen und/oder beruflichen Konsequenzen können Folge sein. Opfer bleiben nicht anonym.

Was sind weitere Herausforderungen, die auf Betroffene zukämen?

Tiefgreifende, intime Fragen. Gewaltvolle Situationen müssen mehrmals und sehr detailliert beschrieben werden. Im Rahmen der Verfahren kommt es häufig zu Victim Blaming. Dabei wird der Frau eine (Teil-)Schuld unterstellt. Viele fühlen sich, als müssten sie ihre Unschuld beweisen. Hinzu kommt die Beweissicherung. Frauen müssen Dokumentationen der Taten wie Fotos von Verletzungen oder Zeugenaussagen vorlegen können. Es folgen unangenehme bis retraumatisierende körperliche Untersuchungen für eine gerichtsverwertbare Dokumentation, selbstverständlich auf freiwilliger Basis – doch ohne könnten entscheidende Beweise fehlen. Häufig muss auch das persönliche und berufliche Umfeld aussagen. Erst nach ein bis drei Jahren kommt es zur Hauptverhandlung. Schneller geht es nur, wenn ein Beschuldigter in Untersuchungshaft ist. Wenn überhaupt angeklagt wird! Mit einem schnellen Abschließen ist in der Regel nicht zu rechnen. Vor Gericht müssen viele wieder mit sehr intensiven sowie opferbeschuldigenden Fragen und Bemerkungen rechnen. 

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und stützt den Kopf in die Hand.

Wie kann ich diesen Prozess unterstützen?

Die Klientin sollte gestärkt werden, ihre eigene Entscheidung zu finden – Außenstehende können lediglich Wege aufzeigen sowie Vor- und Nachteile abwägen. Das ist herausfordernd, denn ein Ziel von Gewalt ist die Zerstörung des Selbstbewusstseins der Frau. Das reaktualisiert sich im Verfahren leider oft: durch das Gefühl der Macht der Befragenden. Ohnmachtsgefühle sowie der Überlebensmodus werden also ständig getriggert. Viele meiner Mandantinnen kamen „therapiert“ zu mir und benötigten im Anzeige- und Anklageprozess erneut therapeutische Unterstützung. Sie zu begleiten, ihre Ressourcen herauszuarbeiten und zu aktivieren, sie zu stabilisieren und aus dem Überlebensmodus in Selbstfürsorge zu bringen, ist hilfreich. Wichtig ist, dass sich die Klientin bewusst wird, warum sie Anzeige erstatten will. Geht es um Seelenfrieden, Gerechtigkeit, Selbstschutz oder möchte sie damit – wenn es sich z. B. um Täter in erzieherischen, medizinischen oder therapeutischen Berufen handelt oder die Täter neue Partnerinnen haben – andere schützen? Sie können mit ihr ermitteln, ob ihr eine Anzeige bei der Stabilisierung und Integration des Gewalttraumas helfe oder eher schade. Sie können sie emotional begleiten und ihr Raum geben, in dem Maß wie sie möchte, vom Erlebten zu erzählen. Viele Mandantinnen hatten das Gefühl, niemand interessiert sich für ihre Geschichte - außer Polizei und Richter:innen, aber die in eher „feindseliger“ Stimmung.

Einige werfen es sich später vor, wenn Sie den Täter nicht angezeigt haben.

Dass Leid anerkannt, der Täter verurteilt wird und es nicht mit anderen Frauen wiederholt, garantiert auch eine Anzeige nicht. Es sind meist Aussage-gegen-Aussage-Delikte. Konstruktivere Ziele wären: das Schweigen brechen oder sich Gewalt nicht gefallen lassen oder sich die staatliche Hilfe holen, die ihr zusteht. Es ist wichtig zu betonen: Betroffene tragen keinerlei Verantwortung oder gar Schuld dafür, was der Täter getan hat, was aus ihm wird oder ob er erneut straffällig wird! Es ist einzig entscheidend, ob die Frau diesen Weg gehen kann und möchte oder ob das, was auf sie zukäme, ihr zusätzlich schade. Alles andere ist irrelevant. 

Von der Polizei wird abgeraten, eine Trauma-Therapie zu beginnen, wenn eine Anzeige zu einer erfolgreichen Anklage führen soll.

Hier wird unterschieden zwischen einer rein stabilisierenden Therapie und einer aufarbeitenden Form. Aufdeckende, konfrontative Arbeit ist problematisch für ein Verfahren. Da kann von Ermittlungsbehörden der Vorwurf von „false memories“ kommen, also dass ein:e Therapeut:in eine Aussage durch ihr suggestives Einwirken auf die Klientin verfälsche. Aber eine gute Therapie macht das ja nicht! Wer Fokus auf Stabilisierung legt, mindert diese Gefahr und hilft der Klientin womöglich mehr als mit konfrontativen Verfahren und deren Risiko einer Retraumatisierung, das im Ermittlungsverfahren ohnehin hoch ist. Für alle Beteiligten wäre es nur von Vorteil, wenn die Klientin weitgehend stabil ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Über Christina Clemm:  

Christina Clemm ist als Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin tätig. Seit fast 30 Jahren vertritt sie Menschen, die von geschlechtsspezifischer, sexualisierter, rassistischer, LGBTIQ-feindlicher und rechtsextrem motivierter Gewalt betroffen sind. Sie war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, teilt ihre Expertise in diversen Fachpublikationen und war mehrfach als Sachverständige in öffentlichen Anhörungen im Bundestag.

Zum Weiterlesen: 

(Werbung) Clemm, Christina (2023). Gegen Frauenhass. Berlin: Verlag Hanser. 

(Werbung) Clemm, Christina (2020). Akteneinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt. München: Kunstmann Verlag.