Embodiment nutzen: Stabilität und Sicherheit in unsicheren Zeiten

Finanz- und Klimakrisen, Kriege und persönliche Schicksalsschläge: Unsere Welt verändert sich ständig und stellt uns immer wieder vor große Herausforderungen. In manchen Momenten fällt es uns dabei schwer, Stabilität zu finden. Statt nur über Gedanken und Gefühle zu sprechen, kann uns unser Körper einen direkteren Zugang zu mehr Sicherheit bieten: Praktische Übungen aus dem Embodiment können uns und unseren Klient:innen dabei helfen, wieder mehr Stabilität in uns wahrzunehmen - und zeigen uns, wie eng Körper und Geist miteinander verbunden sind.
Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden
Lange Zeit standen das Denken und die rationale Auseinandersetzung mit der Welt und uns selbst im Vordergrund: Seit im 17. Jahrhundert der französische Philosoph René Descartes sein berühmtes „Cogito, ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ formulierte, galt der Körper vielmehr als Gefäß für den Geist statt als gleichwertiger Teil von uns. Auch in einige Bereiche des Coachings, der Beratung und der Therapie erhielt dieser Ansatz Einzug. Die moderne Forschung hat uns jedoch gezeigt, dass Geist und Körper eine viel tiefere Verbindung haben, als wir oft annehmen: „Embodiment“ bedeutet, dass wir unseren Geist nicht ohne unseren Körper begreifen können. Unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen sind also untrennbar mit unserer Körperwahrnehmung verbunden – wir sind buchstäblich „verkörpert“.
Der Einfluss des Körpers auf unsere Wahrnehmung
Ein sehr bekanntes Beispiel für Embodiment ist die Körperhaltung, die wir einnehmen: Es konnte gezeigt werden, dass eine aufrechte Körperhaltung positive Effekte auf unsere Stimmung hat, während hingegen eine gekrümmte Haltung diese verschlechtert (Wilkes et al., 2017).
Ein ähnliches Wirkprinzip machen wir uns für die erste Übung zu Nutze:
Sicherheitsanker 1: Fester Stand
Ein fester Stand bringt nicht nur Stabilität, sondern auch ein Gefühl der Erdung und Sicherheit. Genau diesen vernachlässigen wir jedoch im Alltag oft. Diese Übung unterstützt uns dabei, uns in herausfordernden Momenten zu stabilisieren und ein tragfähiges Fundament zu spüren.
Grundübung
Statt die Beine ganz durchzustrecken, versuche, die Knie etwas anzuwinkeln, und die Beine lockerer zu halten. Durch diese von außen kaum sichtbare Änderung wird oft bereits ein erheblicher Unterschied im Kontakt zum Boden, dem festen Untergrund, wahrgenommen. Das Gewicht verlagert sich mehr in die Füße, die direkt im Kontakt mit dem Boden stehen. Sie kann im Alltag wunderbar jederzeit angewandt werden, ohne dass es auffällt.
Vertiefung der Übung:
- Stehe aufrecht und stelle dir vor, dass deine Füße tief mit dem Boden verwurzelt sind – wie die Wurzeln eines Baumes.
- Fühle ganz bewusst den Kontakt deiner Füße mit dem Boden und spüre, wie der Boden unter dir Halt und Stabilität bietet.
- Nimm ein paar bewusste Atemzüge und stelle dir vor, wie du mit jedem Atemzug tiefer in den Boden einsinkst.
- Hebe nun ganz bewusst und langsam einen Fuß an und stelle ihn mit etwas Nachdruck wieder ab. Wenn dich der Impuls überkommt, kannst du auch etwas „trampeln“. Achte darauf, wie im Moment des Aufsetzens dein Stand wieder fest und stabil wird und du getragen wirst.
- Wechsle zum anderen Bein und wiederhole die Übung ein paar Mal.
- Du kannst auch leicht kreisende Bewegungen mit den Füßen machen, während du weiterhin den Kontakt zur Erde spürst. Diese Übung stärkt das Gefühl der Erdung und gibt dir Stabilität.

Sicherheitsanker 2: Unverrückbar sein
Auch wenn es vieles um uns herum gibt, das sich ständig ändert, so gibt es doch auch Dinge, die absolut unverrückbar sind – diese können wir uns als verkörperte Ressource zu Nutze machen:
Übung 1:
- Setze dich auf den Boden und lehne dich dabei an eine Wand.
- Schließe die Augen und fokussiere dich ganz auf das Gefühl des Gehaltenwerdens.
- Experimentiere mit dem Druck bzw. der Stärke deiner Anlehnung an die Wand.
- Nimm die Unverrückbarkeit wahr, die davon ausgeht.
- Wenn du möchtest, kannst du die Hände hinzunehmen und diese auf den Boden stützen, um hier ein weiteres Fundament zu spüren.
- Mach die Übung, solange es sich für dich gut anfühlt – Achtsamkeit und bewusste Wahrnehmung sind hier der Schlüssel.
Übung 2:
- Stelle dich an einen freien Bereich einer Wand (ohne Bilder oder sonstige Dekoration).
- Lehne dich nun mit deinem Oberkörper und deinen Händen frontal gegen die Wand – so, als ob du die Wand von dir wegdrücken wollen würdest.
- Experimentiere mit dem Druck.
- Nimm bewusst die Empfindungen und Gefühle wahr, die aktuell vorhanden sind. Wie fühlt es sich an?
- Evtl. kommen Impulse auf, z. B. die Wand wegschieben zu wollen, oder anderes. Nimm dies einfach wahr und, wenn du möchtest, gehe dem Gefühl nach.
- Du kannst auch die Augen schließen und dir vorstellen, all die unsicheren Gefühle in dir über deine Arme und Hände in die Wand abzugeben.
Sicherheitsanker 3: Selbstumarmung
Viele Personen erleben eine Selbstumarmung als etwas sehr Beruhigendes und Sicherheitsstiftendes.
- Schiebe deine rechte Hand sanft in bzw. unter deine linke Achselhöhle.
- Positioniere deine linke Hand auf deiner rechten Schulter oder, wenn das für dich angenehmer ist, auf deinem rechten Oberarm.
- Experimentiere etwas mit dem Druck bzw. der Festigkeit der Umarmung – was sich hier gut anfühlt, ist individuell unterschiedlich.
- Nimm das Gefühl des Gehaltenwerdens bewusst wahr und verbleibe so lange in der Position, wie es für dich angenehm ist.
- Für manche ist es zusätzlich angenehm, die Augen zu schließen und ein paar tiefe, entspannende Atemzüge zu nehmen.

Sicherheitsanker 4: Körpergrenzen wahrnehmen und festigen
Wie zuvor angeschnitten, sind wir häufig weitaus mehr in unserem Kopf und unseren Gedanken als in unserem Körper. Die Grenzen zwischen der äußeren und der inneren Welt verschwimmen dadurch leicht und alles wird als gleich unsicher und bedrohlich wahrgenommen – auch weil eine Vielzahl unserer Gedanken, wie wir heute wissen, negativ ist. Wenn wir unsere Körpergrenzen wieder bewusster wahrnehmen, können wir jedoch auch die emotionale Abgrenzung zu Bedrohungen in unserer Umwelt wieder stärker wahrnehmen und somit mehr Sicherheit erleben.
- Setze dich aufrecht und bequem hin, im Idealfall mit bequemer und nicht allzu dicker Kleidung.
- Reibe beide Hände aneinander, bis sie angenehm warm werden.
- Beginne nun damit, deinen Körper abzustreichen oder abzuklopfen – je nachdem, was sich für dich angenehm anfühlt.
- Experimentiere mit Rhythmus, Tempo und Stärke.
- Die Wärme der Hände hilft dabei, die Grenzen der verschiedenen Körperbereiche noch intensiver wahrzunehmen.
- Häufig fühlen sich manche Körperregionen „sicherer“ und „stabiler“ an als andere.
- Wir können diese Übung bewusst einsetzen, um bei den „durchlässigeren“, unsicheren Stellen durch unseren Körperkontakt, Berührung und Visualisierung noch etwas mehr Sicherheit hineinzugeben.
- Wenn du das Gefühl hast, du möchtest deine Grenzen irgendwo besonders stärken, verweile dort.
Sicherheitsanker 5: Aufmerksamkeit verlagern
Die wahrgenommene Sicherheit kann durch gezieltes Verlagern unserer Aufmerksamkeit jederzeit mitgesteuert werden. Man kennt diesen Zugang aus Achtsamkeit, Somatic Experiencing und „Grounding“ – wir können durch das Verlagern unserer Aufmerksamkeit unser Empfinden von etwas Bedrohlichem und Unsicherem zu etwas Sicherem verlagern.
- Lasse deinen Blick schweifen – ganz langsam, vorsichtig und ruhig. Nimm gerne auch den Kopf dazu; so als ob du dir eine wunderschöne Landschaft anschauen würdest. Nimm alles, was du sehen kannst, achtsam und bewusst wahr, gerne kannst du es auch benennen.
- Es gibt Orte, zu denen sich der Blick „sicherer“ anfühlt. Das kann z. B. eine ruhige, menschenleere Ecke sein, ein bequemer Sessel oder eine Kerze. Der Blick hin zu viel Chaos, Trubel, Unordnung oder anderen für uns „unsicher“ besetzten Dingen hingegen bewirkt das Gegenteil.
Dies ist ein sehr hilfreicher und einfacher Trick, den wir überall ohne viel Aufwand – auch ohne, dass es unsere Umwelt wahrnimmt - anwenden können.
Quellen
Wilkes, C., Kydd, R., Sagar, M., & Broadbent, E. (2017). Upright posture improves affect and fatigue in people with depressive symptoms. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 54, 143–149. https://doi.org/10.1016/j.jbtep.2016.07.015