Trotz Praxisstress eine bewusste Beziehung leben

Der Praxistag war lang und du brauchst eigentlich nur noch Zeit für dich? Beziehungen kommen neben dem Praxisstress manchmal zu kurz. Elisabeth Gatt-Iro und Stefan Gatt kennen das. Sie sind selbst ein Paar und begleiten in ihrer Arbeit andere Paare auf deren Weg. Im psylife-Interview berichten sie von typischen Schwierigkeiten und teilen ihre Tipps für eine ausgeglichene Work-Love-Balance. 

Sind Arbeit und Erfolg heutzutage wichtiger als Liebe und Beziehung? 

Nein keinesfalls! Natürlich braucht man ein Einkommen, um ein Auskommen zu haben. Aber weder viel Geld noch beruflicher Status können eine glückliche Beziehung, in der man eine Person an der Seite hat, mit der man durch dick und dünn gehen und sich dabei entwickeln kann, ersetzen. Wir sind der Überzeugung, dass Karriere etwas Großartiges ist und die Anerkennung beflügelt. Leider wissen wir aber auch aus unseren Seminaren und aus der Praxis, dass es oftmals die Männer sind, die Karriere machen und die Beziehung oder Familie vergessen, weil sich darum ohnehin die „Frau“ kümmert. Oftmals sind es auch die Männer, denen erst, wenn ihre Beziehung scheitert, bewusst wird, dass sie das alles zu lange als selbstverständlich hingenommen haben.

Das klingt ein wenig stereotyp. Ich hatte die Hoffnung, dass Geschlechterrollen in Beziehungen mittlerweile anders gelebt werden. Warum glauben Sie, besteht dieses Muster weiter fort?

Aktuell sehen wir in unserer Praxis einen Rückschlag, der coronabedingt Frauen betrifft. Durch den Lockdown und die wirtschaftliche Situation sind sie gezwungen, vermehrt auf die Kinder aufzupassen, (neben ihrem eigenen Beruf) Homeschooling zu leisten und mehr Pflege- und Haushaltstätigkeiten zu übernehmen. Wir erleben nach wie vor, dass sich selbst in sehr gleichwertigen, differenzierten Beziehungen alte traditionelle Rollenmuster entwickeln, wenn Kinder zur Welt kommen. Was vorher in der Beziehung selbstverständlich war, entwickelt sich oftmals zurück in alte patriarchale Strukturen, wenn das Paar nicht bewusst darauf achtet.

Woran merkt man, ob die Work-Love-Balance stimmt? 

Indem man gerne miteinander Zeit verbringt, Beziehungsthemen miteinander bespricht, Verantwortung für die Beziehung und für auftauchende persönliche Themen übernimmt und eine erfüllende Sexualität lebt. Indem beide im Alltag dafür Sorge tragen, dass es kleinere und größere Liebesinseln gibt, wo man sich miteinander oder gegenseitig Gutes tut.

Was denken Sie, sind die besonderen Herausforderungen, denen Therapeut*innen und Coach*innen nach einem Arbeitstag in ihrer Beziehung begegnen?

Durch den intensiven Kontakt, der bei der Psychotherapie oder im Coaching entsteht, braucht man am Feierabend Raum und Zeit für sich, um wieder bei sich selbst anzukommen und aufzutanken, bevor man Zeit und Raum für den/die Partner*in geben kann.

Es kann schwierig sein, im Alltag bei dem/der Partner*in Anklang zu finden, wenn ein erfolgreiches Seminar mit tollem Feedback der Teilnehmer*innen hinter einem liegt, man sich als Held fühlt und dann sofort mit Kindergeschrei oder gestressten Partner*innen konfrontiert ist, die gerade überhaupt nicht wertschätzend sind. Herausfordernd kann es zudem sein, Offenheit für die Themen der geliebten Person zu haben, wenn man den ganzen Tag über viele Themen von Klienten gehört hat.

Die Kompetenzen als Coach*in oder Therapeut*in wirklich bei der Haustüre abgeben, ohne weiterhin diese Funktion raushängen zu lassen, ist schwierig.

Worauf sollte man da am besten aufpassen? Und welche beruflichen Fähigkeiten kann man als Therapeut*in / Coach*in vielleicht auch positiv in die Beziehung einbringen?

Als Therapeut*in oder Coach*in hat man viele Kompetenzen, die man positiv in die Beziehung einbringen kann. Das wären zum Beispiel: Präsenz, Zuhören, gutes Zeitmanagement, Konfliktlösungsstrategien, Wissen um Traumatisierungen, Wissen über Beziehungsdynamiken, Mitgefühl, Wissen um das Fördern von Stärken, Empowerment-Strategien…

Eine Gefahr besteht allerdings, wenn die Tendenz entsteht, zu verständnisvoll gegenüber dem/der Partner*in zu sein und zu wenig auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Auch das Gegenteil kann der Fall sein: wenn man sich zu wenig einlässt, weil man auf der Metaebene der beruflichen Ebene bleibt und ständig coacht/therapiert.

Es ist also wichtig, einen Blick jenseits von psychischen Störungen und Problemen auf die Welt und die Person an unserer Seite zu entwickeln. Außerdem ist es auch wichtig, aus dem ganzen Psycho- und Coachingkram auszusteigen und mal alle viere gerade sein lassen zu können. 

Wie schafft man es nach einem langen Arbeitsalltag abzuschalten und gedanklich auszusteigen?

Es gibt verschiedene Aktivtäten und Rituale, die das Abschalten nach der Arbeit unterstützen können:

  • Arbeiten abzuschließen, zu terminieren oder bewusst zur Seite zu stellen
  • Körperliche Aktivität
  • ein Bad/eine Dusche nehmen
  • Meditation
  • Waldspaziergänge
  • Musik und (gemeinsames) Tanzen

Unsere liebsten Feierabendrituale sind:  miteinander essen (gehen), auf dem Sofa kuscheln, gemeinsam ins Kino gehen, in die Sterne schauen, gemeinsam laufen/spazieren, miteinander lachen, uns über die Highlights des Tages austauschen und uns mit Freunden treffen.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass Praxisalltag und Arbeitsalltag die Beziehung gefährden?

  1. Die Gefährdung wahrnehmen, ihr ins Auge schauen und die oberste Priorität auf die Liebe und nicht auf die Arbeit legen – also: Love first, Work second.
     
  2. Herausfinden: Welche Schritte braucht es, damit die Work-Love-Balance wieder aus der Schieflage kommt?
     
  3. Sich abgrenzen und wissen, wofür und warum. Man kann zum Beispiel  Arbeiten abgeben, eine Kinderbetreuung organisieren, Liebesinseln einplanen oder eigene innere Antreiber identifizieren und entmachten.
     
  4. Eine gemeinsame Vision kreieren – denn diese unterstützt bei der Abgrenzung gegenüber der Arbeit.

Kann sich eine ausgeglichene Beziehung auch positiv auf die therapeutische Arbeit auswirken?

Auf jeden Fall, mit Sicherheit! Denn Beziehungsthemen beschäftigen sehr viele Menschen. Da ist es förderlich, wenn man sich selbst wohl fühlt in der eigenen Beziehung. Das gibt Kraft, um andere Menschen bei schwierigen Prozessen zu unterstützen.

Welche Erfahrungen machen Sie, wenn Sie selbst als Paar mit anderen Paaren zusammenarbeiten?

Unser Eindruck ist: je authentischer wir über unsere Themen sprechen und nicht verschweigen, was uns in unserer Beziehung beschäftigt, woher diese Themen kommen und wie wir damit umgehen, desto positiver reagieren die Paare auf uns. Es ist zudem sehr förderlich, wenn wir beide Seiten darstellen: die „männliche“ und die „weibliche“ Sichtweise. Da finden sich viele Paare wieder. Für die Männer ist es sehr gut, Stefan zu sehen, wie er mit Beziehungsthemen umgeht und dabei trotzdem „männlich“ ist. Wir hinterfragen dabei auch die herkömmlichen tradierten Geschlechterrollen. Daher ist „männlich“ und „weiblich“ unter Anführungszeichen.

Wie ist es für Sie, als Paar nicht nur zusammen zu l(i)eben, sondern auch zusammen zu arbeiten?

Zu Beginn war es sehr herausfordernd, gemeinsam Seminare oder Vorträge zu halten, weil wir uns erst an unsere unterschiedlichen Arbeitsstile gewöhnen mussten.

Im Laufe der Zeit und nach einigen klärenden Gesprächen wurde es immer bereichernder für uns, auch miteinander zu arbeiten. Mittlerweile können wir unsere Unterschiedlichkeit im beruflichen Kontext sehr gut nutzen. Worauf wir allerdings achten müssen, ist, dass wir in unserer Freizeit klare Zeiten vereinbaren, wo wir Projekte vorantreiben oder arbeiten, denn wir haben beide die Tendenz zu viel zu arbeiten, weil uns unsere Arbeit so viel Freude macht.

Was uns zudem gut tut ist, dass wir beide auch einen eigenen Bereich haben, in dem jede*r für sich arbeitet, wir also nicht ständig arbeitend Zeit miteinander verbringen.

 

Vielen Dank für das schöne Interview!

 

Zum Weiterlesen:

Gatt-Iro, E. & Gatt, S. (2020). Love first, work second: Pfeif auf die Arbeit – lass uns lieben! Wien: Orac.